Mit einem gemeinsamen Abkommen reagieren die EU und Tunesien auf die tragische Lage im Mittelmeer. Knapp 27 000 Migrantinnen und Migranten kamen in diesem Jahr von Tunesien aus in Italien an. Das sind sechsmal so viele Menschen wie im Vorjahr. Mehr als 1 000 Menschen starben laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bis April 2023 auf dieser Route. Eine Zahl die zweimal so hoch ist, wie zu diesem Zeitpunkt im Vorjahr.

Die Migrationskrise erreichte in Tunesien im Februar 2023 eine neue Dimension, als Präsident Kais Saied in einer fremdenfeindlichen Rede die Migranten aus dem subsaharischen Afrika ins Visier nahm und damit eine massive Ausreisewelle auslöste. Die anhaltende Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage erhöht den Migrationsdruck auch auf die Tunesierinnen und Tunesier selbst, die mittlerweile 20 Prozent auf den Booten aus Tunesien ausmachen. All dies kommt zu der Dauermisere eines Landes hinzu, dessen demokratischer Übergang nach zehn Jahren in einer schweren politischen Krise steckt und das ohnehin schon am Boden liegt.

Als Reaktion auf diese dramatische Gesamtsituation haben die EU und Tunesien sich auf ein „Memorandum of Understanding über eine strategische und umfassende Partnerschaft“ verständigt, das am 16. Juli 2023 in Tunis unterzeichnet wurde. Die Absichtserklärung sieht eine engere Zusammenarbeit in fünf Bereichen vor: makroökonomische Stabilität, Wirtschaft und Handel, Umstieg auf umweltfreundliche Energien und Förderung der Völkerverständigung. Das Herzstück der Übereinkunft, über deren Modalitäten und Umsetzung noch keine Einzelheiten bekannt sind, ist jedoch das Thema Migration. Insgesamt könnte Tunesien bis zu einer Milliarde Euro an Finanzhilfen erhalten. Die größte Tranche – 900 Millionen Euro als makroökonomische Hilfe – wird allerdings nur ausgezahlt, wenn Tunesien ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) unterzeichnet. Dieses wird jedoch seit über einem Jahr vom Präsidenten blockiert.

Die Übereinkunft zwischen der Europäischen Kommission und dem tunesischen Präsidenten Kais Saied kann bis dato weder als erfolgreich noch als gescheitert verstanden werden. Denn alles wird davon abhängen, wie diese Übereinkunft umgesetzt wird. Eines ist aber jetzt schon sicher: Sie liefert keine nachhaltige Antwort auf die Situation der Migrantinnen und Migranten, die Tunesien passieren oder die dort leben. Das Abkommen ändert auch nichts an den Fluchtursachen.

Migrationspolitisch wird die Logik der Abschottung und Grenzsicherung noch weiter verstärkt.

Migrationspolitisch wird die Logik der Abschottung und Grenzsicherung noch weiter verstärkt. Die Strategie der EU zielt darauf ab, ihre Grenzen zu externalisieren und als unerwünscht eingestufte Migrantinnen und Migranten abzuwehren. Die EU-Gelder sind nicht dafür gedacht, Menschenrechte oder humanitäre Hilfe zu gewährleisten, stattdessen sollen sie in erster Linie die Finanzierung der Grenzpolizei sichern. Laut dem Tunesischen Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte (FTDES) befördert der Deal Tunesien somit von der europäischen „Grenzpolizei“ zum europäischen „Gefängniswärter“.

Die Reaktionen tunesischer zivilgesellschaftlicher Organisationen reichten von leiser Kritik bis zu offener Konfrontation. Vor allem in Tunis wird demonstriert, um die Migrantinnen und Migranten aus Subsahara-Afrika zu unterstützen. Im Süden des Landes, wo die Situation zu einer humanitären Krise herangewachsen ist, gibt es immer wieder Solidaritätsbekundungen der Bevölkerung. Menschenrechtsorganisationen wie das FTDES kritisieren die repressive Migrationspolitik und die Instrumentalisierung der Thematik durch politische Parteien und radikale Gruppen. Trotzdem ist festzuhalten, dass Zivilgesellschaft, Opposition und Regierung bei den Verhandlungen mit der EU und dem IWF in verschiedenen Punkten übereinstimmten.

Die UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail) – nicht nur Tunesiens einflussreichste Gewerkschaft, sondern auch die wichtigste unabhängige soziale Instanz im Land – vertritt im Diskurs die Ansicht, dass sich Tunesien die Rolle des Grenzschutzes für Europa nicht aufzwingen lassen sollte. Doch eine entschiedene Haltung zum Umgang mit Migrantinnen und Migranten nimmt sie nicht ein. Diese innere Diskrepanz spiegelte sich besonders deutlich in der Stellungnahme der lokalen UGTT-Gruppe in der Grenzstadt Ben Gardane im Süden des Landes wider: Diese forderte die Ausweisung der in einem Gymnasium der Stadt untergebrachten Migranten – ohne dass die Gewerkschaftszentrale dies verurteilte.

In der Mehrheit der tunesischen Gesellschaft trifft Kais Saieds harte Migrationspolitik auf große Resonanz. Außerdem greift der Präsident mit seinen Erklärungen auf weitverbreitete rassistische Ressentiments gegen Migrantinnen und Migranten aus West- und Zentralafrika zurück. Der rassistische Diskurs der Migrationsabwehr ist in Tunesien aktuell dominant. Die anti-rassistischen Positionen der Zivilgesellschaft sind hingegen nur repräsentativ für einen sehr kleinen Teil des linken „Establishments“. Eine Interessenvertretung für die migrantische Bevölkerung gibt es momentan nicht, wäre aber dringend nötig.

In der Mehrheit der tunesischen Gesellschaft trifft Kais Saieds harte Migrationspolitik auf große Resonanz.

Die mit der EU geschlossene Absichtserklärung wurde von Kais Saied als Erfolg verbucht. Der Besucherreigen offizieller Staatsgäste, der Karthago in den vergangenen Wochen wie eine europäische Hauptstadt wirken ließ, ist zugleich ein diplomatischer Erfolgsbeweis sowie ein Indiz dafür, dass Tunesien näher an die Festung Europa herangerückt ist.

Was die regionalen Bündnisse betrifft, hat Tunesien seinen historisch gewachsenen Panafrikanismus auf eine harte Probe gestellt. Das Land wird große Mühe haben, die Interessen Tunesiens, Italiens und des afrikanischen Kontinents miteinander auszubalancieren. Auf dem „Migrationsgipfel“, der am 23. Juli in Rom stattfand, wurde einmal mehr bekräftigt, dass an der Sicherheitslogik und am Vorrang der Rückführung von Migrantinnen und Migranten festgehalten werden wird. Bei dieser Konferenz – an der die südlichen Mittelmeeranrainerstaaten sowie Länder des Nahen Ostens, des Sahel und des Horns von Afrika teilnahmen – wurde die Absichtserklärung der EU und Tunesiens als Vorbild präsentiert, das andere Länder der Region übernehmen könnten.

Für Verhandlungen mit Marokko oder Ägypten taugt das „Memorandum of Understanding“ allerdings keineswegs als beispielhaftes Vorbild. Es ist weder auf kurze Sicht pragmatisch noch auf lange Sicht visionär. Aus humanitärer Perspektive sieht es kaum unmittelbare Unterstützung für Migrantinnen und Migranten in Not vor. Des Weiteren werden die tiefgehenden Probleme für die Flucht sowie die massive Ungleichheit zwischen den Gesellschaften nicht ansatzweise gelöst. Der Deal zwischen der EU und Tunesien ändert nichts an den Ursachen, warum sich Menschen aus afrikanischen Ländern für die lebensgefährliche Flucht nach Europa entscheiden.

Warum gelingt es der Zivilgesellschaft trotz der zahlreichen Krisen nicht, eine Massenbewegung auszulösen oder sich in der Öffentlichkeit mehr Gehör zu verschaffen? Der Handlungsspielraum der oppositionellen Kräfte ist im Vergleich zu den Zeiten der Revolution deutlich kleiner geworden. Das gilt nicht nur für Tunesien. Ob in Europa oder Afrika – die Kräfte der Zivilgesellschaft dringen nicht durch, und die öffentliche Meinung unterliegt weitgehend dem Einfluss der Medien und der herrschenden Parteien. So werden in Tunesien Spielräume für freies und oppositionelles Handeln durch strategische Desinformationen in den sozialen Netzwerken sowie durch polizeilichen Druck auf Menschenrechtsorganisationen noch zusätzlich eingeschränkt.

Auf diese Missstände reagierte die tunesische Zivilgesellschaft mit einem Gegengipfel, der zwei Tage vor dem Treffen in Rom in Tunis stattfand. Das „Völkertreffen für die Würde der Migrantinnen und Migranten“ war eine deutliche Antwort der tunesischen, maghrebinischen und westafrikanischen Zivilgesellschaft, welche sowohl das antidemokratische Memorandum als auch die unverantwortliche Sicherheitspolitik der europäischen Staaten anprangert. Eines steht jedenfalls fest: Wenn Lösungen entwickelt werden sollen, die den Interessen der Menschen auf beiden Seiten des Mittelmeers dienen, muss dem unilateralistischen Handeln der Regierungen ein Ende gesetzt werden. Stattdessen braucht es einen Dialog mit den zivilen Kräften, Seite an Seite mit den Migrantinnen und Migranten.

Aus dem Französischen von Christine Hardung