Linksliberale wie ich geben sich gern der Illusion hin, dass sich nur die Rechte verändert habe. Im Juni 2015, reden wir uns ein, fuhr Donald Trump in seinem goldenen Aufzug nach unten, und bald versank die konservative Politik im Nativismus, der schon so lange ein Teil von ihr ist. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Wenn die Rechte nationalistischer geworden ist, so hat die Linke an Nationalismus eingebüßt. Noch vor einem Jahrzehnt kritisierten Linksliberale in aller Öffentlichkeit die Einwanderung auf eine Weise, die heute viele Progressive schockieren würde.
Ein linksgerichteter Blogger schrieb 2005, „illegale Einwanderung richtet wirtschaftlich, sozial und kulturell verheerende Schäden an, gibt den Rechtsstaat der Lächerlichkeit preis und ist schon allein aus Fairnessgründen eine Schande“. Ein linksliberaler Kolumnist erklärte 2006, „die Einwanderung drückt die Löhne für einheimische Arbeitnehmer, die mit Immigranten konkurrieren“ und „auch die Belastung des Staatshaushaltes durch eingewanderte Niedrigverdiener ist unübersehbar“. Seine Schlussfolgerung: „Wir müssen den Zuzug geringqualifizierter Einwanderer verringern.“ Ein demokratischer Senator schrieb im selben Jahr: „Wenn ich sehe, dass auf einer Demonstration für Einwanderung mexikanische Flaggen geschwenkt werden, überkommt mich manchmal eine patriotische Aversion. Wenn ich einen Übersetzer brauche, um mit dem Burschen zu reden, der mein Auto repariert, löst das bei mir eine gewisse Frustration aus.“
Der Blogger war Glenn Greenwald. Der Kolumnist war Paul Krugman. Der Senator war Barack Obama.
Vor zehn Jahren stellten sich prominente Linksliberale nicht generell gegen Einwanderung, deren Vorzüge für die amerikanische Wirtschaft und Kultur viele erkannten. Auch sprachen sie sich für die Einbürgerung von Illegalen aus. Trotzdem machten sie regelmäßig darauf aufmerksam, dass geringqualifizierte Immigranten die Löhne geringqualifizierter amerikanischer Arbeiter drückten und den amerikanischen Wohlfahrtsstaat belasteten.
Noch vor einem Jahrzehnt kritisierten Linksliberale in aller Öffentlichkeit die Einwanderung auf eine Weise, die heute viele Progressive schockieren würde.
Heute ist von dieser Ambivalenz wenig übrig. Noch im Jahr 2008 wurden illegale Einwanderer im demokratischen Wahlprogramm als „unsere Nachbarn“ bezeichnet, doch es hieß auch warnend: „Wir dürfen nicht weiter Menschen ohne Pass unbehelligt und ungebremst in die Vereinigten Staaten lassen“ und „wer illegal über unsere Grenze kommt und wer Illegale einstellt, verstößt gegen das Gesetz“. Im Parteiprogramm von 2016 kamen solche Formulierungen nicht mehr vor. Als Problem wurde nun nicht die illegale Einwanderung, sondern das US-Einwanderungssystem benannt. Im Abschnitt „Immigration“ war im Parteiprogramm 2008 dreimal die Rede von Menschen, die „illegal“ ins Land kämen. Im Parteiprogramm 2016 tauchte unter dem Abschnitt „Immigration“ das Wort „illegal“ überhaupt nicht auf.
Wie ist es dazu gekommen?
Für die veränderte Haltung der Linksliberalen gibt es mehrere Erklärungen. Erstens hat sich auch die Realität vor Ort verändert, besonders in Hinblick auf die illegale Einwanderung. In den beiden Jahrzehnten vor 2008 verzeichneten die Vereinigten Staaten ein starkes Wachstum der illegalen Zuwanderung. Seither haben sich die Zuwachszahlen stabilisiert.
Das allein erklärt aber den Sinneswandel nicht. Immerhin ist die Zahl der Illegalen in den Vereinigten Staaten nicht signifikant gesunken, sondern in etwa gleichgeblieben. Daher gelten die wirtschaftlichen Bedenken, die Krugman vor zehn Jahren äußerte, auch heute noch.
Die Gründe sind eher politischer Natur. Zwischen 2008 und 2016 setzten die Demokraten zunehmend darauf, dass die wachsende Latino-Bevölkerung des Landes ihrer Partei in Wahlen einen Vorsprung verschaffen könnte. Im Rennen um die Präsidentschaft redeten sich die Demokraten ein, dass sie Einwanderungsskeptiker nicht zu beruhigen bräuchten, solange sie von ihrer Latino-Basis gewählt würden.
Mit der Abhängigkeit der Demokraten von den Stimmen der Latinos nahm auch der Einfluss der Einwanderungsaktivisten zu. Als Obama zur Wiederwahl antrat, organisierten Immigrantenrechtsgruppen Demonstrationen gegen die Abschiebepraxis der Regierung. Diese Aktionen gipfelten im Juni 2012 in einem Sit-in vor einem Wahlkampfbüro Obamas in Denver.
Druck kam nicht nur von den Unterstützergruppen für Einwanderer, sondern auch aus den amerikanischen Unternehmen. Durch diese Kombination aus politischem Latino-Aktivismus und Wirtschafts-Lobbyismus wurde es für Demokraten riskant, die Nachteile der Einwanderung zu benennen, wie Bernie Sanders am eigenen Leib erfahren musste. Im Juli 2015 wurde Sanders von dem Chefredakteur der Website Vox, Ezra Klein, interviewt. Klein fragte, ob die USA im Kampf gegen die globale Armut darüber nachdenken sollten, „die erlaubte Zuwanderung stark auszudehnen oder sogar die Grenzen zu öffnen“. Sanders reagierte entsetzt. „Dieser Vorschlag könnte ja von den Koch-Brüdern kommen“, spottete er. Dann fuhr er fort, dass „die Rechten in diesem Land eine Politik der offenen Grenzen ... begrüßen würden. Lasst alle Leute rein, damit sie für zwei oder drei Dollar arbeiten, das fänden sie toll. Davon halte ich nichts. Ich meine, wir müssen in diesem Land die Löhne anheben.“
Mit der Abhängigkeit der Demokraten von den Stimmen der Latinos nahm auch der Einfluss der Einwanderungsaktivisten zu.
Sanders geriet umgehend unter Beschuss. Dylan Matthews von Vox erklärte, diese „Angst vor eingewanderten Arbeitskräften ist unschön – und fehlgeleitet“. Auf ThinkProgress erschien ein Blog unter dem Titel „Warum Immigration das Loch in Bernie Sanders' progressivem Programm ist“. Der Senator, hieß ist, befeuere „die Vorstellung, dass Einwanderer, die in die USA kommen, anderen den Job wegnehmen und der Wirtschaft schaden, eine Theorie, die mittlerweile widerlegt ist“. Sanders verzichtete fortan darauf, auf die Nachteile der Immigration hinzuweisen. Aber wurde die Behauptung, dass „Einwanderer, die in die USA kommen, anderen den Job wegnehmen“ wirklich widerlegt?
Progressive Kommentatoren behaupten gern, die Ökonomen seien sich weitgehend einig über die Vorteile der Einwanderung. Das stimmt aber nicht. Einem umfassenden neuen Bericht der National Academies of Sciences, Engineering and Medicine zufolge kann es in „Gruppen, die den ... Einwanderern in Hinblick auf ihre Qualifikation ähnlich sind, als Folge der immigrationsbedingten Vergrößerung des Arbeitskräfteangebots zu einer Lohnsenkung kommen“. Doch Wissenschaftler spielen diese Lohnsenkung bisweilen herunter, weil sie wie linksliberale Journalisten und Politikerinnen unter dem Druck stehen, Einwanderung zu unterstützen.
Das bedeutet nicht, dass Linksliberale Einwanderung ablehnen sollten. Der Zuzug in die Vereinigten Staaten ist zunächst einmal ein Segen für die Migranten und ihre Familienangehörigen zu Hause, denen sie Geld schicken. Allein aus diesen moralischen Gründen heraus sollte man Einwanderung schätzen. Und die Einwanderung nützt auch der Wirtschaft. Weil proportional mehr Immigranten im arbeitsfähigen Alter sind als gebürtige Amerikanerinnen und Amerikaner, verbessern sie das Zahlenverhältnis zwischen Arbeitnehmern und Rentnern, so dass staatliche Programme wie Social Security und Medicare finanzierbar bleiben. Einwanderung steigert auch nachweislich die Produktivität, und im Bericht der National Academies heißt es, dass „infolge der Immigration das Einkommen der Einheimischen insgesamt steigt“.
Das Problem ist, dass Immigration den Amerikanern schadet, mit denen die Einwanderer in Konkurrenz stehen. Und da mehr als ein Viertel der US-Zuwanderer der letzten Zeit nicht einmal einen Highschool-Abschluss oder ein vergleichbares Zertifikat besitzen, schadet die Einwanderung den am schlechtesten qualifizierten einheimischen Arbeitern besonders, den Leuten also, die es ohnehin schon am schwersten haben. Das Einwanderungssystem der USA hetzt somit zwei Gruppen gegeneinander auf, die den Linksliberalen besonders am Herzen liegen: die armen Einheimischen und die armen Immigranten.
Donald Trump scheint das zu spüren. Im Wahlkampf schwang die Botschaft mit, dass für weiße christliche Amerikaner nicht nur Wohlstand und Sicherheit zunähmen, wenn der Staat Mexikaner und Muslime fernhalte, sondern dass sie auch den Gemeinschaftssinn zurückgewinnen würden, den sie mit einem vergangenen Zeitalter assoziieren. „Die Grundlage unserer Politik wird eine absolute Loyalität zu den Vereinigten Staaten von Amerika sein“, erklärte er in seiner Antrittsrede, „und durch unsere Loyalität zu unserem Land werden wir die Loyalität zueinander wiederentdecken.“
Das Problem ist, dass Immigration den Amerikanern schadet, mit denen die Einwanderer in Konkurrenz stehen.
Die Linke muss die Sehnsucht der Amerikaner nach sozialem Zusammenhalt ernst nehmen. Wenn sie sich für Masseneinwanderung ebenso einsetzen will wie für eine umfangreichere wirtschaftliche Umverteilung, muss sie mehr einheimische weiße Amerikaner davon überzeugen, dass Immigranten die nationale Identität nicht schwächen. Dazu muss sie ein Konzept aus der Versenkung holen, das sie derzeit verabscheut: Assimilation.
Assimilation muss nicht bedeuten, dass man von den Zuwanderern die Aufgabe ihrer Kultur erwartet. Doch man reißt damit Barrieren nieder, die Immigranten von den Einheimischen trennen. Und man betont nicht so sehr Amerikas Vielfalt, als vielmehr seine Einheit.
Der oder die nächste demokratische Präsidentschaftskandidat oder -kandidatin sollte gebetsmühlenartig sein oder ihr Ziel betonen, die Zahl der Illegalen in den USA auf null zu bringen, eben weil die Amerikaner ein Volk sind, das sich an ein Gesetz zu halten hat.
In ihrem Buch The Authoritarian Dynamic aus dem Jahr 2005 schrieb Karen Stenner, damals Politikprofessorin an der Universität Princeton:
„Das Erleben von Verschiedenheit, das Reden über Verschiedenheit und das Lob der Verschiedenheit – Kennzeichen der liberalen Demokratie – vergrätzt mit absoluter Sicherheit all jene, die von Natur aus intolerant sind, und zieht es unweigerlich nach sich, dass sie ihre Meinung in offen intoleranten Haltungen und Verhaltensweisen äußern. Paradoxerweise können wir der Intoleranz gegenüber der Verschiedenheit offenbar am besten begegnen, wenn wir unsere Ähnlichkeit betonen, darlegen und loben.“
Diese Worte sollte der nächste demokratische Präsidentschaftskandidat beherzigen. Nicht umsonst ist Barack Obamas Aussage auf dem Parteitag der Demokraten im Jahr 2004, „dass es kein liberales Amerika und kein konservatives Amerika ... dass es kein schwarzes und kein weißes Amerika, kein Latino- und kein asiatisches Amerika gibt, sondern die Vereinigten Staaten von Amerika“ berühmt geworden. Die Amerikaner wissen, dass Linksliberale die Vielfalt hochhalten. Weniger sicher sind sie sich, ob sie auch die Einheit hochhalten. Und dass Obama Letzteres so wirkungsvoll gelang, trug wahrscheinlich dazu bei, dass er – ein Schwarzer mit muslimisch klingendem Namen – unter den weißen Wählerinnen und Wählern zweimal einen höheren Stimmenanteil errang als Hillary Clinton.
Im Jahr 2014 nahm die University of California den Begriff melting pot („Schmelztiegel“) in ihre Liste von Begriffen auf, die sie als „Mikroaggression“ wertete. Was wäre geschehen, wenn Hillary Clinton das als absurd zurückgewiesen hätte? Was wäre geschehen, wenn sie die Elite-Universitäten aufgefordert hätte, nicht einfach nur „Multikulturalismus“ und „Globalisierung“ hochzuhalten, sondern Americanness, amerikanische Zugehörigkeit? Was wäre geschehen, wenn sie die Probleme der Masseneinwanderung eingestanden und dann erklärt hätte, dass Amerikanerinnen und Amerikaner diese Probleme bewältigen können, wenn sie sich nicht auf das konzentrieren, was sie unterscheidet, sondern auf das, was sie eint?
Ein Teil der Linken hätte laut aufgeheult. Aber ich vermute, Clinton wäre heute Präsidentin.
Der Artikel ist eine gekürzte Version eines Beitrags aus The Atlantic.