Die Wahlmänner im Electoral College, der Rassismus der Weißen, der Sexismus der Schwarzen, oder der scheidende Präsident Joe Biden: Sollte Kamala Harris die US-Präsidentschaftswahlen im November verlieren, werden dies einige der Ausreden sein, welche die Demokratische Partei für ihr Scheitern im Rennen gegen einen haarsträubend schlechten und weithin verhassten Gegner vorbringen werden. Es wird auch gemunkelt und debattiert werden, ob Harris von vornherein vielleicht nicht die beste Kandidatin gewesen sei; dass die Partei besser daran getan hätte, ein echtes politisches Talent wie Josh Shapiro aus Pennsylvania oder Gretchen Whitmer aus Michigan zu nominieren.

All diese Feststellungen mögen etwas Wahres an sich haben. Die Hauptursache würde aber erneut weitgehend ignoriert werden – nämlich die Art und Weise, wie liberale Persönlichkeiten in Regierung, Wissenschaft und Medien heute Politik betreiben. Sehen wir uns die Hauptbestandteile dieser Politik einmal genauer an.

Eine Politik des Herablassens. Dies lässt sich mit einer Aussage von Barack Obama veranschaulichen: Er vermutete kürzlich, schwarze Männer würden Anfang November möglicherweise nicht für Harris stimmen, weil sie „einfach die Vorstellung nicht mögen, eine Frau als Präsidentin zu haben“. Möglicherweise ist die Wahlentscheidung dieser Männer jedoch weniger von sexistischen als von sehr viel profaneren, monetären Motivationen geprägt: Der durchschnittliche Wochenlohn für schwarze Vollzeitbeschäftigte war während der Präsidentschaft von Donald Trump stark gestiegen; unter Biden stagnierte er hingegen weitgehend, wie Daten der St. Louis Federal Reserve Bank zeigen. Warum wird nach einer Teile der Wählerschaft herablassend behandelnden Erklärung gesucht, wenn doch eine deutlich rationalere Begründung existiert?

Eine Politik des Beleidigens. Ähnliches geschieht mit Blick auf Trump-Wähler, denen immer wieder gesagt wird, sie seien Rassisten, Frauenfeinde, „weird“, angst- und hasserfüllt gegenüber diversen Gesellschaftsgruppen, schlecht und falsch informiert oder, wie zuletzt, Anhänger eines Faschisten – und damit implizit selbst Faschisten. Abgesehen davon, dass dies unnötig und selbstschädigend ist (welche Wähler überzeugt man, indem man sie mit Beleidigungen überzieht?), ist es auch größtenteils falsch: Trumps Anhängerinnen und Anhänger sind überwiegend Menschen, die der Meinung sind, dass die Biden/Harris-Jahre schlecht für sie und das Land waren. Vielleicht sollten Liberale versuchen, sich auf Argumente einzulassen und Debatten zu führen, ohne dabei andere herabzusetzen.

Vielleicht sollten Liberale versuchen, sich auf Argumente einzulassen und Debatten zu führen, ohne dabei andere herabzusetzen.

Eine Politik des „Gaslighting“. Eine solche Haltung zeigt sich bei Moderatoren, Kommentatoren und Gästen auf Sendern wie MSNBC, die wiederholt betont hatten, Biden sei fit und geeignet für eine weitere Amtszeit, obwohl – wie beispielsweise der Abgeordnete Dean Phillips aus Minnesota einräumt – der geistige Verfall des amtierenden Präsidenten seit Jahren offensichtlich war. Aktuell werben dieselben Experten für die „brillante“ und „erfahrene“ Harris. In einigen Punkten mag sie das sogar sein, aber Harris’ offensichtliche Unfähigkeit, in Gesprächen über eine begrenzte Anzahl von Themen hinauszugehen, oder die Tatsache, dass es schwierig ist, auch nur an eine politische oder gesetzgeberische Leistung zu denken, die sie maßgeblich vorangetrieben hat, lassen daran zweifeln.

Eine Politik der Selbstherrlichkeit. Glauben die Liberalen in der Parteiführung wirklich, es gebe keine anhaltende Verärgerung und Ressentiments darüber, dass Harris’ Nominierung umgehend von den Parteigranden abgenickt wurde, ohne dass sie dafür eine Vorwahl gewinnen oder sich auch nur einem einzigen Herausforderer stellen musste? Die meisten Wählerinnen und Wähler der Demokraten scheinen dies hinzunehmen. Aber bei dieser Wahl könnten die Stimmen einiger skeptischer Unabhängiger und Wechselwähler mehr denn je zählen. In jedem Fall wird eine Demokratische Partei, die behauptet, die Demokratie zu verteidigen, ohne sich die Mühe zu machen, sie tatsächlich zu praktizieren, sich bei den zu überzeugenden Wählern nicht beliebt machen.

Eine Politik des Ignorierens. Man könnte diese Haltung auch zusammenfassen mit: „Eigentlich war es nie besser als jetzt gerade.“ Diese Behauptung kommt von Leuten, die uns beispielsweise erklärt haben: Die Inflation ist (a) gut, (b) vorübergehend oder (c) schnell vorbei und vergessen. Heute sind sie der Ansicht, dass eine aktuell niedrigere Inflationsrate das Problem der weiterhin hohen Preise und Zinsen irgendwie lindert. Sie sind die Menschen, die argumentierten, dass es in den USA gar keine Einwanderungskrise gebe, und später feierten, dass diese Krise nun vorbei sei. Sie sind diejenigen, die betonen, dass die Kriminalität unter Kontrolle ist, während sie die Tatsache ignorieren, dass sich das Sicherheitsgefühl der Menschen im Alltag immer weiter verschlechtert – und zwar aufgrund der tatsächlich in die Höhe schnellenden Zahlen von Auto- und Ladendiebstählen, offenem Drogenkonsum, öffentlicher Defäkation und anderen Vorfällen, die die Lebensqualität im Alltag beeinträchtigen. Wäre es nicht besser, auf die Bedenken der Wählerinnen und Wähler einzugehen, anstatt ihnen einreden zu wollen, sie sähen überall Gespenster?

Wäre es nicht besser, auf die Bedenken der Wählerinnen und Wähler einzugehen?

Eine Politik des selektiven Moralisierens. Die Liberalen fürchten (aus gutem Grund!) die Bedrohung, die Trump für die amerikanischen Regierungsinstitutionen und Behörden darstellt. Dennoch wollen viele bei der Demokratischen Partei den Obersten Gerichtshof neu besetzen, die Filibuster-Regel im Senat verbieten, das Wahlmännergremium abschaffen, Bundesbehörden das Recht geben, Räumungsmoratorien zu verhängen, sowie Hunderte Milliarden Dollar an Studiengebührenschulden erlassen – ohne Zustimmung des Kongresses. Sie kritisieren Trumps Angriffe auf die Medien, bejubelten aber den Versuch der Biden-Regierung, Medienunternehmen unter Druck zu setzen, damit diese unliebsame Meinungen zensieren. Ebenso warnen sie, Trump wolle seine politischen Gegner kriminalisieren, freuen sich aber, wenn er selbst kriminalisiert wird. Heuchelei dieser Art bleibt bei Menschen, die nicht uneingeschränkt hinter Harris stehen, nicht unbemerkt.

Identitäts- statt Klassenpolitik. Harris startete ihren Wahlkampf, indem sie sich bewusst und richtigerweise von der Art der Identitätspolitik distanzierte, auf die die Demokraten zu lange obsessiv gesetzt hatten. Als sie aber feststellte, dass ihre Beliebtheit bei schwarzen Männern erschreckend niedrig war, brachte sie einen steuerpolitischen Vorschlag ein, der ausschließlich auf diese bestimmte Wählergruppe zugeschnitten war. Warum zielten ihre Pläne nicht auf alle Arbeiterinnen und Arbeiter unterhalb einer bestimmten Einkommensschwelle ab? Davon hätten schwarze Männer ebenfalls besonders stark profitiert; nur den offensiven Bezug auf die Ethnie hätte es nicht gegeben. Selbst hochgebildete Liberale bemerken nun hin und wieder, dass die Demokratische Partei ihre Wurzeln in der Arbeiterklasse zunehmend vernachlässigt und deren Unterstützung verspielt. Harris’ Vorschlag ist ein weiterer Beweis, wie und warum dies geschieht.

Natürlich ist es weiterhin denkbar und möglich, dass Harris die Wahl gewinnt. Im Nachhinein werden wir dann viel über ihre persönliche Strahl- und Anziehungskraft hören und darüber, wie brillant ihr Wahlkampf war. Besonnene(re) Liberale dürften sich hingegen zwei Fragen stellen: Wie kann es sein, dass ein Trump-Sieg nur mit Müh und Not verhindert wurde? Und wie lässt sich ein Liberalismus gestalten, der nicht derart viele Durchschnittsbürger verprellt und abschreckt?

© The New York Times

Aus dem Amerikanischen von Tim Steins