Geschwindigkeit ist plötzlich keine Hexerei mehr, sondern gilt als nüchterne Professionalität. Der 100-Milliarden-Rüstungsfonds, von Bundeskanzler Olaf Scholz drei Tage nach Putins Überfall auf die Ukraine angekündigt, beschleunigt alles: die Beschaffungsplanung im Verteidigungsministerium, Entscheidungsprozesse im Parlament – und die Angebotserstellung auf Seiten der Rüstungsindustrie.
Der Düsseldorfer Rheinmetall-Konzern soll dem Ministerium schon lieferbares Wehrmaterial im Wert von über 40 Milliarden Euro angezeigt haben, von Panzern bis zu neuartigen Artilleriegeschossen. Bei Airbus rechnet die deutsche Verteidigungssparte in München jetzt fest mit der zügigen Bestellung einer fünften Tranche ihres Mehrzweck-Kampfflugzeugs Eurofighter für – je nach Servicepaket – fünf bis zehn Milliarden Euro. Und die Flugkörper-Spezialisten von MBDA in Schrobenhausen beleben die schon totgeglaubte Raketenabwehrtechnik ihres finanziell völlig aus dem Ruder gelaufenen 14-Milliarden-Programms TLVS wieder für eine künftige deutsche Luftverteidigung.
Die zusätzlichen 100 Milliarden Euro schnell zu verplanen, scheint kein Problem zu sein. Grundlage ist und bleibt das weiterhin gültige „Fähigkeitsprofil“ der Bundeswehr von 2018, das damals Rüstungsinvestitionen in Höhe von 200 Milliarden Euro bis 2031 vorsah – militärisch sauber abgeleitet aus den deutschen Kräftezusagen an die NATO. Nur finanzierbar schien dieser Plan zur Vollausstattung einer einsatzbereiten Bundeswehr damals nicht, nicht mal im Ansatz. Im letzten beschlossenen Verteidigungshaushalt 2021 lag der Anteil der reinen Rüstungsinvestitionen etwa bei acht Milliarden Euro für Waffen und Gerät.
Die ersten Großaufträge gehen nicht an die deutsche Industrie, sondern nach Amerika.
Diese Summe dürfte sich durch jährliche Zuflüsse aus dem in Aussicht gestellten Bundeswehr-„Sondervermögen“ auf absehbare Zeit mehr als verdoppeln. In einer Größenordnung von vielleicht 20 Milliarden Euro pro Jahr werden die amtlichen Rüster von nun an einkaufen können. Die Scholz-Rede war der lange ersehnte politische Befreiungsschlag.
Dabei werden die ersten Großaufträge allerdings nicht an die deutsche Industrie gehen, sondern nach Amerika. Denn im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung steht nicht nur ein politisches Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe Deutschlands im Bündnis, sondern auch die Selbstverpflichtung, gleich zu Beginn der Legislaturperiode über die Beschaffung eines geeigneten Atom-Trägersystems als Nachfolger für den alten europäischen Jagdbomber Tornado zu entscheiden. Realistischerweise kamen hier nur zwei US-Flugzeugtypen in Frage: die F-18 von Boeing, die von der Vorgängerregierung schon einmal ausgewählt, aber noch nicht bestellt worden war, und der modernere Tarnkappen-Jet F-35 von Lockheed Martin, den Kanzler Scholz in seiner Regierungserklärung ausdrücklich erwähnt hatte. Inzwischen hat Verteidigungsministerin Lambrecht wie erwartet die offizielle Auswahlentscheidung zugunsten der F-35 bekanntgegeben.
Ein Teil der verbliebenen Tornado-Flotte wird nun also durch den Lockheed-Flieger (35 Stück) ersetzt, der Rest durch weitere Eurofighter. Für die US-Industrie ein Geschäft, das alles in allem mehr als fünf Milliarden Euro wert sein dürfte. Mit einem ähnlichen Finanzbedarf rechnen die Bundeswehrplaner auch bei einem anderen, aus Geldnot mehrfach verschobenen Zukauf aus amerikanischer Produktion: Für die Beweglichkeit des deutschen Heeres braucht die Luftwaffe neue schwere Transporthubschrauber als Ersatz für die abgeflogenen CH-53-Helikopter. Zur Auswahl stehen von Lockheed Martin (Sikorsky) die modernere CH-53K und von Boeing die bereits in Vietnam eingesetzte CH-47 Chinook mit den charakteristischen zwei Rotoren.
Während zusätzliche alliierte Luftwaffen- und Marine-Verbände vergleichsweise schnell in Richtung einer krisenhaften Bedrohung verlegt werden können, zählt am Boden für die Abschreckung eines Aggressors erst einmal nur das, was tatsächlich in der Mitte Europas gefechtsbereit und verlegefähig präsent ist.
Hier könnte die Auswahl mit Rücksicht auf Ausgewogenheitswünsche im US-Kongress auf das ältere Boeing-Modell fallen, weil sich zeitgleich Airbus in den USA gemeinsam mit Lockheed um einen Großauftrag für Tankflugzeuge bewirbt – gegen Boeing.
Einen Technologiesprung nach vorn erhofft sich die Marine in diesen Zeiten durch ein mögliches Vorziehen des Auftrags für vier Luftverteidigungs-Fregatten (Nachfolge F-124), die dann auch die Fähigkeit zur Raketenabwehr haben sollen.
Dies alles ist wichtig und wird kommen, so oder so. Aber der Schwerpunkt in Sachen Vollausstattung und Modernisierung müsste eigentlich sehr eindeutig beim Heer liegen. Auf dessen drei Divisionen mit acht bis zehn deutschen Kampfbrigaden mit je 5 000 bis 6 000 Soldatinnen und Soldaten, die der NATO zugesagt sind, muss die Allianz für die Bündnisverteidigung setzen. Während zusätzliche alliierte Luftwaffen- und Marine-Verbände vergleichsweise schnell ostwärts, in die Richtung einer krisenhaften Bedrohung verlegt werden können, zählt am Boden für die Abschreckung eines Aggressors erst einmal nur das, was tatsächlich in der Mitte Europas gefechtsbereit und verlegefähig präsent ist. Bis Verstärkung über den Atlantik oder aus Großbritannien, aus Italien oder aus Spanien ankommt, kann die Lage längst eskaliert sein.
Noch setzt die heimische Industrie die internationalen Standards – was plötzlich nicht mehr wie ein „Pfui-Export“-Thema klingt, sondern wie eine gute, beruhigende Nachricht.
Deshalb duldet die moderne Vollausstattung unserer seit Jahrzehnten auf Verschleiß gefahrenen Landstreitkräfte keinen Aufschub. Sie brauchen funktionsfähige Schützenpanzer und Kampfhubschrauber, mehr Artillerie und Drohnen, größere radbewegliche Verbände, digitale Fernmeldetechnik, komplette Nachtkampffähigkeit, Pionierbrücken, eigene Flugabwehr, eigenen Nachschub und eigene Sanität und natürlich die lange versprochene persönliche Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten auf state of the art-Niveau.
Nicht alles davon kann oder muss Rheinmetall (oder KMW/Nexter) liefern. Aber der Anteil aus deutscher und europäischer Produktion wird sehr hoch sein. Noch setzt hier nämlich die heimische Industrie die internationalen Standards – was plötzlich nicht mehr wie ein „Pfui-Export“-Thema klingt, sondern wie eine gute, beruhigende Nachricht.
Eine kürzere Version des Artikels erschien bei The Pioneer.




