Während die Verhandlungen über einen Waffenstillstand in der Ukraine auf Hochtouren laufen, streuten die massiven Bombardierungen Russlands auf Kiew erneut Zweifel an der tatsächlichen Verhandlungsbereitschaft Wladimir Putins. Es ist jedoch ein bekanntes Muster: Kurz vor einer vereinbarten Feuerpause intensivieren sich die Kampfhandlungen nochmal, um die eigene Position zu verbessern und die militärische Infrastruktur der Gegenseite zu schwächen. Ein solch zynisches Vorgehen konnte man auch vor dem Waffenstillstand im Gaza-Krieg Anfang des Jahres beobachten. Fest steht: Kriege sind schwer zu beenden, besonders wenn sie schon länger anhalten und keine Kriegspartei eine Niederlage akzeptiert. Wenn indes eine Fortführung des Krieges für keine der Seiten mehr Vorteile verspricht, sondern vielmehr zum beiderseitigen Nachteil wird, öffnet sich zwangsläufig ein Fenster für Verhandlungen.
Eine solche Situation existiert gerade. Nicht nur Kiew sollte ein vitales Interesse daran haben, den Krieg zu beenden – so schmerzhaft die territorialen Eroberungen Russlands auch sein mögen –, aufgrund eigener Rekrutierungsprobleme und der drohenden Einstellung der amerikanischen Militärhilfe. Auch Russland dürfte kein Interesse an einem ewigen Krieg haben: Die anhaltend hohen personellen und materiellen Verluste, ohne Aussicht auf einen Regimewechsel in Kiew, unterminieren längerfristig die Stabilität von Putins Regime. Zwar könnte der Kreml einen Waffenstillstand nutzen, um sich auf einen erneuten Großangriff gegen Kiew und womöglich auch gegen europäische NATO-Staaten vorzubereiten. Doch es spricht vieles gegen diese Annahme. Man muss sich vor Augen führen, welche dierussischen Kriegsziele in der Ukraine und darüber hinaus sind, und über welche Machtressourcen Moskau verfügt, jene Ziele auch umsetzen zu können.
Das strategische Langzeitziel Russlands seit den 1990er Jahren ist es, wieder als herausragende Großmacht in einer multipolaren Weltordnung anerkannt zu werden.
Das strategische Langzeitziel Russlands seit den 1990er Jahren ist es, wieder als herausragende Großmacht in einer multipolaren Weltordnung anerkannt zu werden – also in einem System ohne westliche Hegemonie. Aus seiner Sicht wurde die Stimme Russlands in zentralen Fragen immer wieder ignoriert – etwa im Kosovo-Krieg oder bei der Erweiterung von NATO und EU. Konstitutiv für diesen Großmachtanspruch ist das Reklamieren von exklusiven Einflusssphären sowie der Anspruch, globale Probleme gemeinsam mit anderen Großmächten zu „lösen“. Der Krieg gegen die Ukraine steht dabei im Mittelpunkt des russischen Ringens um den Großmachtstatus. Offiziell spricht der Kreml von einer „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ der Ukraine. Gemeint ist damit ein Regimewechsel in Kiew – zugunsten einer prorussischen Regierungselite. Moskau betrachtet die Ukraine aus kultureller, geostrategischer und geoökonomischer Perspektive als unverzichtbaren Bestandteil der eigenen Einflusszone – sie hat damit einen anderen Stellenwert als etwa die baltischen Staaten oder Polen.
Die gesamte Ukraine in den russischen Einflussbereich zu zwingen – mit militärischer Gewalt oder prospektiv mit manipulierten Wahlen – erscheint zunehmend unrealistisch. Die Ukraine hat sich zu einem antirussischen Bollwerk entwickelt. Selbst mit brutalen Repressionsmitteln wie Folter, Entführungen und willkürlichen Tötungen hat Russland erhebliche Schwierigkeiten, die besetzten Gebiete im Donbass unter seiner Kontrolle zu halten. Eine vollständige Unterwerfung des Landes wäre wohl nur mit einer Generalmobilmachung und der Errichtung eines repressiven Gewaltregimes denkbar, das jedoch enorme Ressourcen binden würde und für Moskau keinerlei Vorteile bringen dürfte. Die Folge wäre eine Massenflucht, eine immense Gegenwehr und aufgrund des ukrainischen Widerstands eine ökonomisch unproduktive Bevölkerung.
Auch eine Zermürbungstaktik durch Fortsetzung des Angriffskrieges kann nicht im längerfristigen Interesse Moskaus liegen. Zwar ist das ukrainische Militär dem russischen in vielen Bereichen unterlegen, doch hat es sich zu einer kampferprobten und durch eine eigene Drohnenproduktion auch zu einer technisch versierten Streitkraft entwickelt, die enge sicherheitspolitische Beziehungen zu EU- und NATO-Staaten pflegt. Zugleich wächst in Russland die Unzufriedenheit über die negativen Folgen des Krieges. Aus dem Ursprungsplan, den ukrainischen Staat kurzerhand zu usurpieren, ist ein verlustreicher dreijähriger Stellungs- und Abnutzungskrieg geworden. Bereits zwei Monate nach der Vollinvasion Ende Februar 2022 zeichnete sich eine Pattsituation ab. Damals hatte Russland etwa 15 Prozent des ukrainischen Territoriums besetzt – heute, drei Jahre später, sind es rund 18 Prozent.
Russland hat zwar sein militärisches Potential nicht ausgeschöpft, aber Putin ist sich bewusst, dass die großangelegte Offensive gegen die Ukraine nicht populär ist. Das unterstreichen nicht zuletzt die vielen Deserteure nach der Teilmobilmachung im September 2022. Bis heute spricht der Kreml von einer „militärischen Spezialoperation“ und versucht, die Realität des Krieges möglichst aus der russischen Öffentlichkeit herauszuhalten. In diesem Sinne wurden bevorzugt gesellschaftliche Randgruppen rekrutiert – etwa Gefangene oder einkommensschwache Männer aus abgelegenen Regionen, die mit hohen Soldzahlungen angeworben wurden. Um eine Generalmobilmachung zu vermeiden, griff die russische Armee sogar auf Milizen und Söldner aus Ländern wie Jemen, Kuba, Nepal, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan zurück sowie auf etwa 50 000 nordkoreanische Soldaten. Dennoch lässt sich der Krieg nicht aus der gesellschaftlichen Realität Russlands verdrängen. Der Krieg hat schwere Verluste gefordert – rund 800 000 militärische Opfer, darunter etwa 170 000 Tote. Zudem sind etwa die Hälfte der Kampfpanzer (ca. 10 000) und der gepanzerten Fahrzeuge (ca. 19 000) sowie rund 21 000 Artilleriesysteme und 300 Flugzeuge und Helikopter zerstört worden. Zwar setzt Russland überwiegend Waffen aus der Sowjet-Zeit ein und hält modernere Systeme zurück, doch das Ersetzen der zerstörten Ausrüstung dürfte viele Jahre in Anspruch nehmen.
Russland gerät immer mehr in die Abhängigkeit Chinas, was keinesfalls in Putins Interesse liegen kann.
Auch der wirtschaftliche Schaden ist erheblich. Zwar konnte Moskau die westlichen Sanktionen zum Teil abfedern – durch Importsubstitution, Handel über Drittstaaten sowie den Verkauf von Öl und Gas an China, Indien und die Türkei. Dennoch sanken die Exporte fossiler Brennstoffe auf etwa die Hälfte des Vorkriegsniveaus. Trotz einer beachtlichen Schattenflotte und vorübergehend erhöhter Ölpreise gingen die Öl-Exporteinnahmen um rund 120 Milliarden Euro zurück. Nach dem drastischen Einbruch der Erdgas-Exporte nach Europa zahlte Peking nur etwa die Hälfte dessen, was EU-Staaten zuvor pro Kubikmeter gezahlt hatten. Infolgedessen verzeichnete Gasprom 2023 erstmals in seiner Geschichte einen Verlust. Die Folge: Russland gerät immer mehr in die Abhängigkeit Chinas, was keinesfalls in Putins Interesse liegen kann. Dass die russische Wirtschaft trotzdem zwei Jahre nach Beginn der Vollinvasion wuchs, liegt vor allem an den hohen Investitionen in den militärisch-industriellen Komplex – ein Phänomen, das als „Militärkeynesianismus“ bezeichnet wird. Dies wirkt wie ein Konjunkturprogramm, wovon auch nicht-militärische Wirtschaftszweige und die breite Gesellschaft direkt oder indirekt profitierten.
Zur Finanzierung der Ausgaben nahm die russische Regierung Kredite auf und verbrauchte 67 Prozent der liquiden Reserven des Nationalen Vermögensfonds. Ende 2024 waren davon nur noch 33,6 Milliarden Euro übrig; bis Ende 2026 könnte der Fonds vollständig erschöpft sein. Zwar belebte der erhöhte Verteidigungshaushalt die Wirtschaft – 2024 lag er bei 100 Milliarden Euro; 2025 steigt er auf 130 Milliarden, was kaufkraftbereinigt rund 300 Milliarden Euro entspricht. Gleichzeitig hat der Wertverlust des russischen Rubels die Importe verteuert – auch für sogenannte Dual Use-Güter aus China, die für die russische Rüstungsindustrie benötigt werden. Der aktuelle Wirtschaftsaufschwung ist daher nicht nachhaltig, da der Öl- und Gassektor das Rückgrat des rentenbasierten Wirtschaftssystems Russlands bleibt. Laut dem Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche wird sich das Wirtschaftswachstum, das in den Jahren 2023 bei 3,6 und 2024 bei 3,8 Prozent lag, im Jahr 2025 halbieren und 2026 weiter schrumpfen. Die Inflation lag im Jahre 2024 bei zehn Prozent, weshalb die russische Zentralbank den Leitzins auf 21 Prozent anhob, worunter wiederum die russischen Unternehmen leiden. Bereits rund eine Million meist junge, gebildete und wohlhabende Russinnen und Russen haben seit 2022 ihr Land verlassen. Für eine der ältesten Gesellschaften der Welt ist das ein großes Problem, das nicht durch Zuwanderung kompensiert werden kann.
Russland rüstet zwar stark auf, vergrößert und modernisiert seine Armee, aber es hat mehr Schmerzen, als es zugibt. Eine Fortführung des Krieges birgt die Gefahr, dass Putins Regime – das auf dem gesellschaftsvertraglichen Tausch von Freiheitsverzicht gegen Wohlstand und Sicherheit beruht – instabiler wird und nur noch mit immer mehr Repressionen aufrechterhalten werden kann. Der Iran lässt grüßen.