Seit mittlerweile anderthalb Jahren wehrt die Ukraine sich gegen Moskaus rechtswidrigen Angriffskrieg und verteidigt die regelbasierte Ordnung, auf die die internationale Staatengemeinschaft sich verständigt hat. Sie hofft, dass sie dies zum letzten Mal tun muss. Damit diese Hoffnung sich erfüllt, hat Kiew die NATO-Mitgliedschaft beantragt und will in das kollektive Verteidigungssystem des westlichen Militärbündnisses aufgenommen werden, dem starke Akteure wie die USA und Großbritannien, Frankreich und Deutschland angehören.
Die Präsidenten von neun Ländern der NATO-Ostflanke haben sich in einem Brief umgehend und mit Nachdruck für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ausgesprochen. Andere Mitgliedstaaten quittieren den Antrag der Ukraine mit beredtem Schweigen und beliefern das Land unterdessen weiter mit Waffen. „Im Fokus steht für uns derzeit die unmittelbare Unterstützung der Ukraine bei der Verteidigung gegen die russische Aggression“, erklärte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
In dieser Woche ist es nun soweit: Bei ihrem Gipfeltreffen in der litauischen Hauptstadt Vilnius müssen die Staats- und Regierungschefs der 31 Mitgliedstaaten den Antrag der Ukraine beantworten und das Entscheidungsvakuum beenden. Jetzt kann die NATO ihr Bekenntnis zur – wenn auch noch in weiter Ferne liegenden – Mitgliedschaft der Ukraine verbindlich bekräftigen und Russland damit deutlich machen, dass es zumindest politisch der Verlierer ist und dass die NATO bereit ist, die Ukraine „so lange wie nötig“ zu schützen. Wie und wann die Ukraine tatsächlich der NATO angehören könnte, ist allerdings eine schwer zu beantwortende Frage.
Im Prinzip wurde der Ukraine schon vor 15 Jahren der Beitritt zur Allianz versprochen.
Im Prinzip wurde der Ukraine schon vor 15 Jahren der Beitritt zur Allianz versprochen: 2008 kamen die Verbündeten in Bukarest „überein, dass die Ukraine NATO-Mitglied wird“. Viel getan hat sich seither jedoch nicht. Zuerst schwankte die Ukraine unschlüssig zwischen dem Westen und Russland hin und her, und 2014 brach der Krieg aus.
„Der rechtmäßige Platz der Ukraine ist in der NATO“, sagte der Generalsekretär des Bündnisses, Jens Stoltenberg, im Mai 2023. Als Beweis für ihr Bekenntnis zur Ukraine haben die Mitgliedstaaten des Bündnisses einen NATO-Ukraine-Gipfel etabliert, der Kiews Beziehungsstatus „aufwerte“. Ein solches Gesprächsforum hatte die NATO bis dahin nur ein einziges Mal eingerichtet: den NATO-Russland-Rat. Das neue bürokratische Format hat durchaus greifbare Konsequenzen. Kiew hat künftig leichteren Zugang zu Arbeitsgruppen und nachrichtendienstlichen Informationen und kann bei Bedarf Gespräche einfordern. Doch hinter dem, was Kiew eigentlich will, bleibt dies weit zurück. Die Ukraine wünscht sich kein weiteres Versprechen, sondern eine konkrete Zusicherung, dass sie in das westliche Militärbündnis aufgenommen und die Beistandsklausel in Artikel V auch für sie gelten wird.
„In diesem Sommer braucht es beim NATO-Gipfel in Vilnius eine eindeutige Einladung der Mitgliedstaaten an die Ukraine“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im vergangenen Monat. Solange Krieg herrscht, ist eine „Einladung“ jedoch unwahrscheinlich, weil sie in allen Hauptstädten automatisch das entsprechende Ratifizierungsverfahren in Gang setzen würde. Dafür müssten alle 31 Nationen sich einig sein, dass die Ukraine für den Beitritt zum Militärbündnis bereit ist.
Kiew auf einen „Pfad“ zur Mitgliedschaft zu setzen, ist allerdings auch nicht so einfach, wie es sich anhört. „Alle Gespräche zwischen den Verbündeten drehen sich um die Voraussetzungen, Modalitäten und Konditionen eines möglichen Beitritts“, sagte ein Vertreter des Élysée-Palastes vor dem Treffen.
Die leidenschaftlichsten Unterstützer der Ukraine sind die Ostländer.
Die leidenschaftlichsten Unterstützer der Ukraine sind die Ostländer – mit der Ausnahme von Ungarn. Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien sind die Maximalisten. Wenn es nach ihnen geht, sollte der Pfad so konkret wie möglich definiert werden und unumkehrbar sein, und die Entscheidung sollte allein auf politischer Ebene getroffen werden. Auch in diesem Szenario müsste die Ukraine sich vor dem Beitritt noch einigen Reformen unterziehen. Die Mitgliedschaft würde erst zustande kommen, „wenn die Voraussetzungen erfüllt sind“. Über die Frage, wie diese Reformen im Einzelnen definiert und wie die Fortschritte bewertet werden, müsste ebenfalls politisch entschieden werden.
Das Gespann USA-Deutschland sucht hingegen – wenn überhaupt – nach einem strenger geregelten Verfahren mit klarer umrissenen Maßstäben und Zeitplänen. Die Bewertung der Reformfortschritte wäre Sache der NATO oder der einzelstaatlichen Behörden – ähnlich wie beim Beitrittsverfahren der Europäischen Union. „Es gibt Standards, die das Bündnis für alle Mitgliedstaaten festgelegt hat, und US-Präsident Joe Biden hat deutlich gemacht, dass die Ukraine die entsprechenden Reformen umsetzen müsste“, sagt Bidens Sonderberaterin Amanda Sloat, leitende Direktorin für Europa im Nationalen Sicherheitsrat der USA. Unter anderem müssten alle NATO-Mitglieder die Kontrolle über ihr Hoheitsgebiet haben, die Regeln der Rechtsstaatlichkeit respektieren und über Streitkräfte und militärische Ausrüstung verfügen, die mit denen der anderen Bündnispartner kompatibel sind.
Den Beitritt der Ukraine zu dem Militärbündnis an Bedingungen zu knüpfen, ist unvermeidlich.
Das könnte dazu führen, dass zum Beitrittsprozess eine weitere Stufe hinzukommt. Hinter vorgehaltener Hand räumen Diplomaten beider Denkrichtungen ein, dass unabhängig von den unterschiedlichen Standpunkten nicht klar ist, welches Verfahren letztlich schneller wäre. Letzten Endes geht es ums Prinzip und um die Frage, wer die Fäden in der Hand hält. Der Beitrittsprozess ist, wie die Beispiele Schwedens und Finnlands zeigen, eine hochpolitische Angelegenheit. Die beiden nordischen Länder verbrachten etliche Monate im Wartezimmer der NATO, weil die Türkei und Ungarn ihre Zustimmung zu den Beitrittsverfahren immer wieder vertagten. Schweden durfte das Wartezimmer bis heute nicht verlassen.
Den Beitritt der Ukraine zu dem Militärbündnis an Bedingungen zu knüpfen, ist unvermeidlich. Und weiter gilt die gemeinsam beschlossene Grundregel: Kein Beitritt für Länder, die sich im Krieg befinden. „Ich glaube nicht, dass in der NATO Einigkeit darüber herrscht, ob die Ukraine jetzt, zu diesem Zeitpunkt, mitten in einem Krieg, in die NATO-Familie aufgenommen werden sollte oder nicht“, sagte Biden in einem CNN-Interview. „Wenn man das täte, solange der Krieg noch andauert, befänden wir uns alle im Krieg. In einem Krieg gegen Russland.“
Es wird dauern, bis Kiew in die NATO aufgenommen wird.
Wie dem auch sei – wenn Kiew gemäß den Regularien erst nach dem Krieg beitreten wird, wäre das für Putin ein plausibler Grund, die Waffen überhaupt nie niederzulegen, so gibt der Club der Ostländer zu bedenken. Je näher die Ukraine dem NATO-Beitritt komme, umso klarer sei schließlich, dass die Ukraine nicht in die Arme Moskaus zurückkehren werde. Eine mögliche NATO-Mitgliedschaft war für Russland auch einer der Gründe für die Invasion. Hinzu kommt, dass eine Konfliktlösung auf dem Verhandlungsweg allem Anschein nach in weiter Ferne liegt.
Wenn das Ende des Krieges oder ein Friedensszenario, das sich vielleicht erst nach Jahren einstellt, zur Voraussetzung für die Mitgliedschaft gemacht wird, würde der Beitritt auf unbestimmte Zeit vertagt. Ganz gleich, wie das Militärbündnis diese Woche in der litauischen Hauptstadt den Beitrittsprozess für die Ukraine ausgestaltet. Es wird dauern, bis Kiew in die NATO aufgenommen wird. Bis dahin werden die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten andere verbindliche Sicherheitsmaßnahmen entwickeln, um durch Abschreckung künftige Angriffe hoffentlich zu verhindern. Dazu gehören langfristige militärische Unterstützung und Wirtschaftshilfe ebenso wie die Belieferung mit nichtletalen Waffen. Denn wenn Russland gewinnt, wird es keine Ukraine mehr geben, die dem Bündnis beitreten könnte.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld




