Die großen Hoffnungen, dass der "Arabische Frühling" dem Nahen Osten Modernisierung, Demokratie und Stabilität bringen würde, haben sich weitgehend zerschlagen. Viele arabische Länder sind heute von Instabilität gekennzeichnet, der Irak und Syrien sind inzwischen "failed" oder zumindest "failing states". Hinzu kommt, dass das Entstehen des sogenannten Islamischen Staates bisherige Grenzen im Nahen Osten nicht nur in Frage stellt, sondern schon teilweise aufgelöst hat. Relativ stabile Verhältnisse gibt es dagegen noch in der Föderalregion Kurdistan-Irak und in "Rojava", den kurdischen Gebieten Syriens, auch wenn diese Gebiete vom IS massiv bedroht werden.
Ende der 1980er Jahre wurden unter Saddam Hussein im Nord-Irak in völkermordartigen Verfolgungen über 100 000 Kurden ermordet, mehrere Tausend Ortschaften zerstört und eine enorme Fluchtwelle verursacht. Erst unter dem Schutz einer Flugverbotszone konnten ab 1991 Zehntausende Kurden zurückkehren und ihr zerstörtes Land wieder aufbauen. Ein bemerkenswerter wirtschaftlicher Aufbau machte Kurdistan-Irak zu einer der aufstrebendsten Regionen im Nahen Osten. Ein effizientes Sicherheitssystem, gesellschaftlicher Pluralismus, demokratische Wahlen, eine kluge Nachbarschaftspolitik und eine vorbildliche Behandlung religiöser und ethnischer Minderheiten bildeten die Grundlagen für eine für nahöstliche Verhältnisse erstaunliche Stabilität und westlich orientierte Modernität.
In Syrien gelang den Kurden ab 2013 eine weitgehende Befreiung der kurdischen Kantone Ifrin, Kobane und Cizire vom Assad-Regime. Der Aufbau einer kurdischen autonomen Region "Rojava" nach den Vorstellungen des "Demokratischen Konföderalismus" von Abdullah Öcalan brachte viele gesellschaftspolitische Fortschritte. Die Assad-Diktatur war damit überwunden. Die Menschenrechtslage jedoch lässt aufgrund der Vormachtstellung der PKK-nahen Partei der Demokratischen Union (PYD) immer noch sehr zu wünschen übrig.
Im Abwehrkampf gegen den IS im Irak und in Syrien zeigte sich schnell, dass die seit August 2014 stattfindenden internationalen Luftangriffe allein den IS nicht stoppen können. In dieser Situation fiel den Peschmerga-Verbänden der irakischen Kurden und der PYD in Syrien eine wichtige Rolle am Boden zu. Sowohl die irakischen Peschmerga, als auch die syrische PYD erfuhren dadurch verstärkt internationale Anerkennung, insbesondere auch aufgrund der positiven Rolle, die sie bei der Rettung der Jesiden vor dem IS spielten.
Die Unterstützung dieser beiden kurdischen Kräfte – sozusagen die Bodentruppen der internationalen Gemeinschaft – war daher folgerichtig und geboten. Schließlich waren die Kurden auf Dauer nicht stark genug, dem Druck des IS stand zu halten. Seit dem Sommer 2014 werden im Irak die kurdischen Peschmerga von Deutschland und anderen Staaten mit Waffen, Ausrüstung und Ausbildung unterstützt. In Syrien genießt die PYD die Unterstützung der Amerikaner, unabhängig von der Tatsache, dass sie eine Schwesterorganisation der PKK ist, die auch in den USA auf der Terrorliste steht.
Demokratie und Stabilität erfordern weitere Unterstützung der Kurden
In Abwandlung des berühmten Struck-Zitates kann man heute sagen: "Deutschland wird auch in Kurdistan verteidigt". Das aktuelle Flüchtlingsproblem zeigt überdeutlich das große Interesse, das auch Deutschland an der Wiedererlangung von Stabilität in der Region haben muss. Die allseits geforderte Bekämpfung der Fluchtursachen muss in dieser Region angegangen werden.
Da sich Deutschland bekanntermaßen schwer tut, die PKK und damit auch die PYD zu unterstützen, sollte sein Engagement umso mehr Kurdistan-Irak gelten. Es ist in deutschem Interesse, dass Kurdistan-Irak lebensfähig, stabil und stark bleibt. Unabhängig davon, ob die Kurden im irakischen Staat bleiben oder sich ganz unabhängig machen werden, bedarf Kurdistan-Irak weiterhin und nachhaltig der Unterstützung. Handlungsbedarf für eine Ausweitung deutscher Hilfe besteht in vielen Bereichen:
Fortsetzung der Militärhilfe: Mit den deutschen Waffenlieferungen und Ausbildungsmaßnahmen haben die Peschmerga im Kampf gegen den IS erste gute Erfahrungen gemacht. Da der Krieg aber keineswegs gewonnen ist, ist eine Fortsetzung dieser Hilfe unabdingbar. Sie auszusetzen, bedeutete, den wichtigsten regionalen Verbündeten im Stich zu lassen.
Ausweitung der Humanitären Hilfe für die Flüchtlinge: Vor dem Hintergrund der Finanzierungslücken der internationalen Hilfsorganisationen ist es dringend notwendig, dass die bilaterale Unterstützung verstärkt wird. Immer notwendiger werden dazu langfristige Programme zum Aufbau neuer Lebensgrundlagen für die Vertriebenen, denen eine Rückkehr in ihre Siedlungsgebiete für längere Zeit nicht möglich sein wird. Dies gilt insbesondere für Jesiden und Christen, die aufgrund ethnisch oder religiös bedingter Verfolgung praktisch keine Perspektive auf Rückkehr haben.
Verstärkung der Entwicklungszusammenarbeit: Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs in den letzten Jahren benötigt die im Wiederaufbau befindliche Region technische Hilfe in vielen Entwicklungs- und Modernisierungsprozessen. Gebraucht werden Projekte der klassischen Entwicklungszusammenarbeit in den Sektoren Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft und Umwelt.
Moderation der internen Konflikte: Notwendig ist aber auch Unterstützung bei der Überwindung der bestehenden gesellschaftspolitischen Defizite durch Stärkung von Werten wie Pluralismus, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Insbesondere bei der Überwindung der gerade jüngst wieder virulent werdenden internen Konflikte wäre eine Moderation von außen geboten und hilfreich.
Wie umgehen mit dem kurdischen Freiheitsdrang?
Mit insgesamt 30-40 Millionen Menschen sind die Kurden das größte Volk ohne einen eigenen Staat. Der Wunsch der Kurden nach völliger Unabhängigkeit ist ungebrochen. Die neue Rolle der Kurden sowie die militärische Kooperation mit diversen Staaten des Westens hat das kurdische Selbstbewusstsein weiter gestärkt.
Eine nüchterne Analyse des arabisch-kurdischen Verhältnisses im Irak lässt den Schluss zu, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich Kurdistan-Irak auf längere Sicht nicht im Irak halten lassen wird, größer ist als die Wahrscheinlichkeit der Herausbildung eines funktionierenden Föderalstaates im Irak.
Internationale Initiativen zur Gewährung eines souveränen Staates für die Kurden sind nicht in Sicht. Auch Deutschland hält strikt am Zusammenhalt des Irak fest. Es gibt jedoch weder von der internationalen Gemeinschaft noch von der deutschen Außenpolitik Konzepte, von Arabern und Kurden akzeptierte Lösungen für den Erhalt des Irak zu initiieren und zu moderieren.
Diese Passivität stärkt die zentrifugalen Kräfte, der Entfremdungsprozess zwischen Bagdad und Erbil schreitet fort. Daher sollte sich die internationale Staatengemeinschaft prophylaktisch auf den Zerfall des „failing state“ Irak einrichten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie über kurz oder lang Sorge dafür tragen muss, dass der Teilungsprozess im Irak einvernehmlich und gewaltlos verläuft.
Auch die deutsche Politik sollte sich auf ein solches Szenario einstellen. Geboten wäre dann, sich umgehend folgenden Herausforderungen und Aufgaben zu stellen: Den zu erwartenden Scheidungsprozess der Region Kurdistan vom Irak durch kluge Mediation zu moderieren, die Akzeptanz eines Kurdenstaates in Bagdad und in den Nachbarstaaten zu fördern, sowie Hilfestellung beim Aufbau von Strukturen guter Nachbarschaft und regionaler Zusammenarbeit zu leisten.





10 Leserbriefe
"15. PEGIDA ist GEGEN Waffenlieferungen an verfassungsfeindliche, verbotene Organisationen wie z.B. PKK"
Da erübrigt sich dann jeglicher Kommentar
Die heutigen Unruhen und die Kriege im Nahenosten und auch in der Rest der Welt haben die ehemalige Kolonialmächte zum größten Teil für ihre damalige menschenfeindliche Politik aus Habgier verantworten.
Vorfallen in der jüngsten Zeit die USA hat oft die Kurden für ihre Interessen benutzt und zum Schluss ebenfalls im Stich gelassen und ihr Schicksaal nach dem ersten Golfkrieg dem Henker Saddam überlassen.
Die offizielle Außen Politik der BRD ist leider auf Interesse der Türkei angepasst. Obwohl bekannt ist welche Politik Erdogan verfolgt, werden diese proislamistische Politik im Nahen Osten durch unser Staat weiter unterstützt.
Deshalb stehe ich voll hinter den Beitrag von Herrn Martin Weiss und ich bin der Meinung, dass die Kurden die Unterstützung durch den Westen und auch durch Deutschland an der Spitze mehr als verdient. Vorallem Deutschland muss druck auf die Türkei ausüben um legale Grenzen nach Nord-Syrien zu öffnen, um die Menschen in den 3 Kantonen in Nord-Syrien mit dringend benötigte humanitären Hilfsmittel zuversorgen. Nur so werden die Menschen daran gehindert ihr Land nicht zu verlassen. Andresrum werden sie weiterhin die abendteurliche Reise mit ihren kindern und Familien die Gafahr auf sich nehmen um Westeuropa zu erreichen. Wer soll denen übelnehmen, wenn sie ihr Land verlassen?
"Ein bemerkenswerter wirtschaftlicher Aufbau machte Kurdistan-Irak zu einer der aufstrebendsten Regionen im Nahen Osten. Ein effizientes Sicherheitssystem, gesellschaftlicher Pluralismus, demokratische Wahlen, eine kluge Nachbarschaftspolitik und eine vorbildliche Behandlung religiöser und ethnischer Minderheiten bildeten die Grundlagen für eine für nahöstliche Verhältnisse erstaunliche Stabilität und westlich orientierte Modernität."
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