Zum ersten Mal seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten kommt es heute zu einem ersten Treffen des deutschen und des amerikanischen Regierungschefs, bei dem mit Olaf Scholz der deutsche Kanzler „der Neue“ ist. Mit insgesamt vier US-Präsidenten hatte es Angela Merkel in ihrer Amtszeit zu tun. Zwei von ihnen kannten nur sie als deutsche Bundeskanzlerin.
In den außenpolitischen Kreisen Washingtons war das Interesse an der letzten Bundestagswahl sehr groß. Denn obwohl der Fokus der amerikanischen Außenpolitik insgesamt Richtung Pazifik wandert, spielt die Beziehung zu Deutschland doch eine immer wichtigere Rolle. Angesichts der vielen, sich überlappenden europäischen Krisen der letzten zehn Jahre – von der Eurokrise über die Flüchtlingskrise bis zur Russland-/Ukrainekrise – schaut Washington immer öfter nach Berlin als wichtigstem Ansprechpartner in Europa. Auch in der Frage, wie die transatlantischen Partner in Zukunft mit China umgehen sollten, sieht die amerikanische Regierung in Deutschland einen wichtigen Akteur – vor allem aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung.
Obwohl der Fokus der amerikanischen Außenpolitik insgesamt Richtung Pazifik wandert, spielt die Beziehung zu Deutschland eine immer wichtigere Rolle.
Die gestiegene Bedeutung geht allerdings auch mit größeren Erwartungen einher. Angela Merkel genoss zwar in der amerikanischen Hauptstadt ein sehr hohes Ansehen und wurde nicht umsonst von Barack Obama als seine wichtigste internationale Partnerin bezeichnet, doch gab es auch immer wieder Enttäuschungen über die aus amerikanischer Sicht zu geringe Bereitschaft Deutschlands, mehr Verantwortung zu übernehmen. Nun fragt man sich in Washington, ob und was sich unter der neuen Regierung ändern könnte.
Olaf Scholz ist in Washington kein Unbekannter. Als Bundesfinanzminister hat er die Stadt regelmäßig besucht. Dennoch ist die Neugierde groß, wie sich die Ampelkoalition international und insbesondere mit Blick auf die autoritären Großmächte China und Russland positionieren wird. In Analysen wurde immer wieder darauf verwiesen, dass mit den Grünen – und teilweise auch mit der FDP – Parteien in die Regierung einträten, die für eine klarere Haltung gegenüber Peking und Moskau stünden. Scholz und die SPD blieben dabei – auch weiterhin – eher ein Fragezeichen.
Die gestiegene Bedeutung geht allerdings auch mit größeren Erwartungen einher.
Nun zwingt die dramatische Krise an der russisch-ukrainischen Grenze die neue Bundesregierung gleich zu Beginn ihrer Amtszeit, genau diese Haltung klarer zu definieren. Dass dies insbesondere Teilen der Kanzlerpartei SPD eher schwerfällt, ist auch in Washington zur Kenntnis genommen worden. Einige Aussagen von Koalitionsmitgliedern, vor allem aus den Reihen der SPD, die zunächst beispielsweise eine Trennung von Nord Stream 2 und der aktuellen Krise forderten, sorgten dabei in den letzten Wochen immer wieder für Irritationen.
Dabei hat die Biden-Regierung seit ihrem Amtsantritt einiges unternommen, um das unter Trump ramponierte Verhältnis zu Deutschland wieder zu reparieren. Das langjährige Streitthema etwaiger amerikanischer Sanktionen gegen die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 wurde im Sommer 2021 zunächst abgeräumt – ein Entgegenkommen der Biden-Regierung, die sich gegen teils starke Kritik im Kongress durchsetzte. In der aktuellen Krise kocht es nun natürlich wieder hoch. US-Außenminister Antony Blinken schmeichelte bei seinem Berlin-Besuch seinen Gastgebern und nannte Deutschland gar Amerikas besten Freund. In außenpolitischen Kreisen in Washington kristallisiert sich jedoch im Hintergrund zunehmend das Narrativ heraus, dass Deutschland auch weiterhin nicht gewillt zu sein scheint, gemäß seinen Möglichkeiten Verantwortung zu übernehmen, und vor einer klareren Positionierung zurückschreckt. Deutschland ließe sich dabei, so vermutet man, vor allem von eigenen wirtschaftlichen Interessen leiten. Insgeheim fragt mancher sich: Ist auf Deutschland eigentlich Verlass?
Die dramatische Krise an der russisch-ukrainischen Grenze zwingt die neue Bundesregierung gleich zu Beginn ihrer Amtszeit zu einer klaren Positionierung.
Ironischerweise muss man sich in Berlin die umgekehrte Frage stellen. Sie gilt hier weniger der kurzfristigen Verlässlichkeit als der langfristigen Partnerschaft. Denn natürlich setzt die Biden-Regierung auf eine intensive Kooperation mit den europäischen Verbündeten – wahrscheinlich ist sie sogar die europafreundlichste Regierung seit der Amtszeit von George Bush Senior. Insbesondere gegenüber Deutschland ist sie sehr positiv eingestellt. Dessen ist sich Olaf Scholz sicherlich auch bewusst. Doch geht in Berlin die Sorge um, dass die Biden-Regierung auf absehbare Zeit eben auch die letzte europafreundliche sein könnte. Die Erinnerungen an Donald Trump, der insbesondere Deutschland immer wieder angriff, ist noch frisch. Und eine mögliche Rückkehr des Trumpismus in naher Zukunft ist nicht unwahrscheinlich. Es stellt sich also die Frage, wie viel man bereit ist, in diese transatlantische Beziehung zu investieren. Kann sie langfristig stabil bleiben?
Genau hier sollten beide Seiten ansetzen. Die US-Regierung sollte weiterhin auf die enge Kooperation mit den europäischen Alliierten setzen und dabei auch Verständnis für die Verunsicherung der Trump-Jahre aufbringen. Insbesondere im Umgang mit Deutschland ist hier auch Geduld gefragt. Eine konfrontative Haltung, wie sie etwa einige Senatoren an den Tag legen, wäre kontraproduktiv. Die Konfrontation mit Russland und die sich verschlechternden Beziehungen zu China zeigen, wie rapide sich das internationale Umfeld verändert. Für Deutschland ist dies eine besonders unangenehme Entwicklung, denn das Land setzt noch mehr als andere auf internationale Stabilität und die Vermeidung von Konfrontationen. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev hielt dazu in der New York Times fest, dass Deutschland sich nicht verändert habe, die Welt aber eben schon. Dementsprechend wird ein „Weiter so“, wenn überhaupt, nur kurzfristig möglich sein.
Langfristig wird sich Deutschland auf diese Veränderungen einstellen müssen. Dazu gehört auch eine Neudefinition der transatlantischen Beziehungen. Denn selbst wenn Bemühungen um mehr europäische Souveränität, wie sie etwa Frankreich fordert, in der Zukunft konkretere Formen annähmen, wird Deutschland bei seiner Sicherheit auf absehbare Zeit von der Zusammenarbeit mit den USA abhängig sein.
Es gilt, das aktuelle Zeitfenster der Offenheit und Zugewandtheit der US-Regierung für eine möglichst breite Kooperation zu nutzen, um die Beziehungen zu stabilisieren und weniger anfällig für mögliche Richtungswechsel in Washington zu machen.
Es gilt, das aktuelle Zeitfenster der Offenheit und Zugewandtheit der US-Regierung für eine möglichst breite Kooperation zu nutzen, um die Beziehungen zu stabilisieren und weniger anfällig für mögliche Richtungswechsel in Washington zu machen. Paradoxerweise bedeutet das für Deutschland vor allem, die eigenen Fähigkeiten und die Zusammenarbeit innerhalb Europas zu stärken. Nur auf diesem Weg wird Berlin es schaffen, seine Fähigkeiten auszubauen, um künftig mehr zum transatlantischen Bündnis und zur eigenen Sicherheit beizutragen. Dies beinhaltet einen stärkeren Ausbau der deutschen militärischen Fähigkeiten, angefangen mit der Bewilligung der Haushaltsmittel für die dringend notwendige Modernisierung. Notwendig wird aber auch sein, die eigene Haltung gegenüber China und Russland klarer zu definieren. Dies gilt nicht nur für die Politik, sondern insbesondere auch für die deutsche Wirtschaft. Hier hat sich bereits einiges getan, aber bei weitem noch nicht genug. Denn Krisen, wie wir sie derzeit erfahren, werden in Zukunft zweifellos öfter auftreten. Für Olaf Scholz ist es daher essenziell, schnell eine gute Arbeitsbeziehung mit dem amerikanischen Präsidenten herzustellen. Der Besuch in Washington stellt dafür hoffentlich einen guten Anfang dar.




