Zum 100-Tage-Jubiläum der schwarz-roten Koalition trüben düstere Nachrichten die Feierlaune: In einer aktuellen Umfrage erreicht die Alternative für Deutschland mit 26 Prozent einen neuen Rekordwert und zieht damit an der Union vorbei. Für zusätzliche Schlagzeilen sorgt ein Beschluss des Wahlausschusses in Ludwigshafen, der vergangene Woche den AfD-Kandidaten von der Oberbürgermeisterwahl ausschloss. Der Betroffene klagt nun dagegen. Auch innerhalb der SPD wird der Umgang mit der Partei intensiv diskutiert. Auslöser war ein Beschluss des Bundesparteitags Ende Juni, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe sowie Gutachterinnen und Gutachter mit der Materialsammlung und Prüfung eines AfD-Verbots zu beauftragen. Ähnliche Forderungen kommen von Grünen und Linken. Das Thema bleibt damit ganz oben auf der politischen Tagesordnung.

Dabei ist es wichtig zu sehen, wie andere Länder mit extremistischen Parteien umgehen und wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Parteiverbote beurteilt. Denn daraus lassen sich wichtige Lehren für den Umgang mit der AfD gewinnen. Dies wird zu selten beachtet, wie Roman Grabowski zu Recht anmahnt. Die Erfahrungen anderer Länder und die Rechtsprechung des EGMR sprechen nicht gegen ein Parteiverbotsverfahren. Werden die daraus zu ziehenden Lehren beherzigt, ist ein erfolgreicher Parteiverbotsantrag durchaus möglich – und könnte zugleich als Vorbild für künftige Verfahren dienen.

Verbote politischer Parteien werden in vielen europäischen Ländern praktiziert. Zwischen 1945 und 2015 waren in 20 von insgesamt 37 Demokratien Europas insgesamt 52 Parteien betroffen. Parteiverbote kommen also häufiger vor, als man gemeinhin annimmt. Umgekehrt gibt es Demokratien, die nur sehr eingeschränkte oder gar keine Parteiverbote kennen, darunter Großbritannien, Australien, Dänemark und Schweden. Diese Länder sind jedoch aufgrund ihrer mehr als hundertjährigen, ungebrochenen Demokratiegeschichte mit Deutschland kaum vergleichbar. Der Unterschied ist bedingt durch den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch und die SED-Diktatur fundamental.

In dieser extremistischen Kontinuität liegt der Grund, warum die AfD selbst im Spektrum der rechtspopulistischen Parteien Europas als extrem gilt. 2024 wurde sie deshalb aus der Fraktion „Identität und Demokratie“ im Europaparlament ausgeschlossen, der auch die italienische Lega und der französische Rassemblement National angehörten. Diese spezifisch deutschen Erfahrungen und Gegebenheiten machen die scharfen Instrumente des Demokratieschutzes im Grundgesetz und gegebenenfalls ihren Einsatz notwendig.

Die meisten verbotenen Parteien sind klein. Es gibt jedoch auch große Parteien mit mehr als 20 Prozent Stimmenanteil, die verboten wurden. Diese Fälle sind besonders relevant, da die AfD in dieser Größenordnung rangiert. Zusätzlich zu den Parteiverboten sind gerichtliche Ausschlüsse extremistischer Kandidaten von Präsidentschaftswahlen in Betracht zu ziehen. So wurde vor der Stichwahl der rumänischen Präsidentschaftswahl am 18. Mai 2025 befürchtet, der Ausschluss des Rechtsextremen Georgescu könnte sich als Bumerang erweisen und dem Rechtsextremen Simion zum Sieg verhelfen. Diese Sorge erwies sich jedoch als unbegründet: Gewonnen hat der Demokrat und Europabefürworter Nicușor Dan.

Diese spezifisch deutschen Erfahrungen und Gegebenheiten machen die scharfen Instrumente des Demokratieschutzes im Grundgesetz und gegebenenfalls ihren Einsatz notwendig.

In diesem Kontext ist es interessant zu sehen, ob erfolgreiche oder gescheiterte Verbotsverfahren großer Parteien politische Bumerangeffekte auslösen – und unter welchen Umständen sie fehlschlagen. Die Türkei bietet hierfür ein besonders ergiebiges Vergleichsfeld, vor allem mit Blick auf die 1998 verbotene islamistische Wohlfahrtspartei, ihre 2001 verbotene Nachfolgerin, die Tugendpartei, und die im selben Jahr gegründete AKP.

Die Wohlfahrtspartei hatte bei den Parlamentswahlen 1995 21,4 Prozent der Stimmen erzielt. Das Verbot drei Jahre später erwies sich politisch als erfolgreich: Die Tugendpartei, die 1999 noch nicht verboten war, kam bei den Wahlen in diesem Jahr nur noch auf 15,4 Prozent.

Besonders aufschlussreich ist das fehlgeschlagene Verbotsverfahren gegen die AKP 2008. Denn aus diesem lassen sich folgende drei Lehren für ein AfD-Verbotsverfahren gewinnen:

Erstens: Das Verfahren gegen die AKP begann erst, nachdem die Partei bereits mehrere Parlamentswahlen gewonnen hatte, etwa 2007 mit 46 Prozent, was ihr die Mehrheit der Parlamentssitze einbrachte. Dieser Wahlerfolg verschaffte der AKP eine starke Legitimität. Daraus folgt, dass mit einem Verbotsantrag gegen die AfD nicht zu lange gewartet werden sollte. Sollte sie bei den nächsten Bundestagswahlen in die Nähe einer Sitzmehrheit rücken, würde die Wahrscheinlichkeit, dass sich noch ein Antragsteller findet, erheblich sinken.

Zweitens: Manche im AKP-Verfahren vorgetragenen Belege waren wenig überzeugend. So wurden etwa Interviewpassagen Erdoğans als Indiz dafür angeführt, er wolle eine islamische Republik errichten – etwa die Aussage: „Die Türkei kann als Modell dafür dienen, wie Islam und Demokratie in harmonischer Weise koexistieren können.“ Solche Beispiele zeigen, dass die Verbotsgründe schlüssig und belastbar sein müssen. Andernfalls droht ein Verfahren zu scheitern – und selbst ein erfolgreiches Verbot könnte in den Augen vieler Wählerinnen und Wähler als illegitim gelten.

Drittens: Parteiverbote sind keine dauerhafte Lösung. Auch die Verbote der islamistischen Vorläuferparteien der AKP konnten deren Aufstieg nicht verhindern. Sie verschaffen lediglich Zeit, um die Wähler extremistischer Parteien für die Demokratie zurückzugewinnen – ersetzen können sie diesen politischen Kampf nicht. Und die gewonnene Zeit ist begrenzt.

Lehren aus Parteiverboten anderer Länder zu ziehen, heißt, ebenfalls zu beachten, wie der EGMR Parteiverbote beurteilt. Denn dessen anhand verschiedener europäischer Parteiverbotsverfahren aufgrund der Europäischen Menschenrechtskonvention gewonnenen Maßstäbe gelten auch für Deutschland.

Der EGMR verlangt bei einem Parteiverbot, dass eine „hinreichend unmittelbare“ Gefahr für die Demokratie droht und dass das Parteiverbot verhältnismäßig ist. Der Jurist Theo Rust stellt in Frage, ob das Bundesverfassungsgericht diese Vorgaben in seiner bisherigen Rechtsprechung hinreichend berücksichtigt.

Allerdings weist Rust darauf hin, dass der EGMR bei der Feststellung einer dringenden Gefahr auch auf Prognosen abstellt, ob es realistisch ist, dass eine Partei mittelfristig an die Macht gelangen könnte. So lässt das Gericht Umfragen, nach denen eine Partei nicht sofort, aber zum Beispiel in drei Jahren eine realistische Chance hat, die Mehrheit zu erringen, trotz ihrer Unsicherheit als Indiz ausreichen.

Mit jeder Krise ist die AfD gewachsen.

Ähnliche Indizien sind auch für die AfD erkennbar. Sie lassen sich aus der Zusammenschau der bisherigen Wahlergebnisse, von deren Ursachen und von Umfragen her entwickeln: Die AfD hat sich bisher kontinuierlich aufwärts bewegt – bei Bundestagswahlen von 4,7 Prozent (2013) auf 20,8 Prozent (2025), was gegenüber 2021 einer Verdoppelung entspricht. In Umfragen liegt sie im Bund zeitweise schon bei 26 Prozent. Bei Landtagswahlen, zum Beispiel in Thüringen, stieg sie von 10,6 Prozent (2014) auf 32,8 Prozent (2024). Bei den Bundestagswahlen 2025 erreichte sie dort bereits 38,6 Prozent.

Die Ursachen für diese Wahlergebnisse liegen in den seit 2013 in immer kürzeren Abständen eintretenden globalen Krisen: Staatsschulden- und Eurokrise, Flüchtlingsbewegung, Corona-Pandemie, russischer Angriffskrieg, Klimakatastrophe. Mit jeder Krise ist die AfD gewachsen. Studien zeigen, dass in den nächsten Jahren weitere Großkrisen eintreten beziehungsweise sich die aktuellen weiter verstärken werden. Deshalb besteht die realistische Gefahr, dass die AfD in den kommenden Jahren in ähnlichem Tempo wie bisher zulegen wird. Sie hat damit die realistische Chance, bei künftigen Wahlen die 40-Prozent-Marke zu erreichen und zu überschreiten und so an die absolute Mehrheit der Sitze zu gelangen. Denn bei den Bundestagswahlen 2013 reichten bereits rund 42 Prozent der Stimmen für die absolute Sitzmehrheit, 2025 waren es rund 43 Prozent.

Die zweite Hürde der Rechtsprechung des EGMR ist die „Verhältnismäßigkeit.“ Danach darf es statt des Parteiverbots kein milderes, gleich geeignetes Mittel geben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) steht „der Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes […] aber entgegen, dass der Verfassungsgeber in Art. 21, Abs. 2, Satz 1 GG eine abschließende Regelung getroffen hat, die für eine gesonderte Verhältnismäßigkeitsprüfung keinen Raum lässt.“ Sollte eine Prüfung der Verbotsfähigkeit der AfD durch Gutachterinnen und Gutachter ergeben, dass die Verhältnismäßigkeitsanforderungen des EGMR von der Rechtsprechung des BVerfG nicht erfüllt werden, bedeutet dies allerdings nicht das „Ende der Fahnenstange“. Denn eine Änderung von Artikel 21 könnte dem BVerfG den notwendigen Spielraum verschaffen, eine verfassungsfeindliche Bundespartei zu sanktionieren, ohne sie verbieten zu müssen, also gegenüber dem Gesamtverbot ein milderes Mittel wählen zu können. Dem BVerfG könnte etwa die Kompetenz eingeräumt werden, unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten statt eines Gesamtverbots der Bundespartei nur einzelne oder mehrere Landesverbände zu verbieten, der Bundespartei oder nur einzelnen Landesverbänden lediglich die staatliche Finanzierung ganz oder teilweise zu sperren oder auch privat generierte Finanzmittel ganz oder teilweise einzufrieren. Auch eine Kombination dieser Rechtsfolgen ist denkbar.

Als Rechtsfolge eines Verbots muss zudem nicht zwingend der Verlust aller bestehenden Abgeordnetenmandate der Partei eintreten, wie es derzeit § 46 Bundeswahlgesetz vorschreibt. Man könnte Artikel 21 Grundgesetz insoweit ergänzen, dass das BVerfG anordnen darf, dass die Partei bestehende Mandate behält. Dies wäre auch ein „milderes Mittel“. Dies würde zudem vermeiden, dass das Gericht bei jedem Abgeordneten eine aufgrund der Rechtsprechung des EGMR notwendige Einzelfallprüfung vornehmen müsste, wie teilweise argumentiert wird, oder dass Repräsentationslücken entstehen.

Ein AfD-Verbotsverfahren ist kein Selbstläufer. Werden die Erfahrungen anderer Länder und die Rechtsprechung des EGMR berücksichtigt, spricht jedoch nichts gegen einen Erfolg. Wichtig ist, dass Beweislage und Begründung präzise und überzeugend sind – und dass das Verfahren rechtzeitig eingeleitet wird. Denn nur dann kann es nicht nur juristisch Bestand haben, sondern auch politisch wirken.

Lesen Sie in der Debatte auch die Gegenposition im Artikel „Wahrhaft wehrhaft von Roman Grabowski.