Mal ein Gedankenexperiment: Was wäre wohl in unseren Medien los, welche Empörung gäbe es von Seiten führender Politiker in Berlin und Brüssel, wenn zum Beispiel der ungarische Premierminister Viktor Orbán kurz vor Beginn der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl die erste Runde unter fadenscheinigen Gründen annulliert, dann ein Strafverfahren gegen den populärsten Kandidaten eingeleitet und das Verfassungsgericht ihn schließlich von der Wiederholungswahl ausgeschlossen hätte?

Genau das ist im EU-Mitgliedsland Rumänien gerade geschehen. Der Grund für die ausbleibende Empörung liegt darin, dass der nun von der Wahl ausgeschlossene Călin Georgescu ein rechtsextremer Kandidat ist, der gerne Verschwörungstheorien propagiert und den Wunsch geäußert hat, sein Land aus EU und NATO zu führen. Wer will sich schon im Namen der Demokratie für einen solchen Politiker einsetzen?

Der bis Ende 2024 weitgehend unbekannte Georgescu hätte gute Chancen gehabt, die für Mai geplante Wiederholungswahl zu gewinnen: In Umfragen lag der 62-Jährige zuletzt deutlich über 40 Prozent, und der Feldzug der staatlichen Institutionen gegen ihn ließ seine Popularität nur noch weiterwachsen. George Simion, ein weiterer rechtsradikaler Kandidat und zuletzt Unterstützer Georgescus, wird wohl nun versuchen, bei der Wahl seine Rolle einzunehmen. Der aussichtsreichste Kandidat des „proeuropäischen“ Lagers ist der parteiunabhängige Bukarester Bürgermeister Nicușor Dan.

Wer aber an einem stabilen EU-Mitglied und NATO-Partner Rumänien interessiert ist, mit einer funktionierenden Demokratie und einem respektierten Rechtssystem, der darf dieses Kapitel nicht einfach abhaken. Es ist etwas grundlegend faul im Staate Rumänien. Das bewies der erste „Versuch“ der Präsidentschaftswahl Ende November 2024: Damals gelangten zwei Kandidaten in die Stichwahl, die sich beide explizit als „Anti-Establishment“ positionierten. Die beiden politischen Schwergewichte von der sozialdemokratischen PSD und der konservativen PNL – jenen Parteien, die sich seit 35 Jahren die Macht teilen – schafften es nicht in die zweite Runde.

Der Grund dafür ist eine tiefgehende Vertrauenskrise der Bevölkerung in die zentralen Institutionen der Demokratie: die politischen Parteien, die staatlichen Institutionen und die Medien. Die Corona-Pandemie war zugleich Gradmesser und Katalysator dieser Vertrauenskrise: Rumänien hatte im Herbst 2021 eine der niedrigsten Impfquoten der EU, 60 Prozent der Bevölkerung lehnten die Impfung ab. Der Großteil der Bevölkerung bezieht seine Informationen über die sozialen Netzwerke Facebook und Tiktok – eine solche Wählerschaft ist leicht zu manipulieren.

Die politische Elite des Landes gilt für viele als abgehoben und desinteressiert an den Belangen des Volkes. Inbegriff dieser Abgehobenheit war über die letzten Jahre Präsident Klaus Iohannis. 2014 als Reformer ins Amt gewählt, brachte er es in seiner zweiten Amtszeit fertig, sich völlig von seinem Volk zu entfremden: Zarengleich reiste er durchs Ausland, nahm in Aachen den Karlspreis entgegen, brachte sich zuletzt sogar als NATO-Generalsekretär ins Gespräch – und gab in all den fünf Jahren rumänischen Medien kein einziges Interview.

Die Regierung bekommt die Inflation nicht in den Griff, und die Preise in den Supermärkten sind so hoch wie in Deutschland.

Die Corona-Krise und der folgende Ukraine-Krieg haben zudem die soziale Spaltung verstärkt: Die Regierung bekommt die Inflation nicht in den Griff, und die Preise in den Supermärkten sind so hoch wie in Deutschland. Viele Menschen fragen sich, wie sie bei drei Euro für ein Stück Butter überleben sollen. Gut ausgebildete Fachkräfte in Bukarest und den westlich gelegenen Großstädten können damit noch leben, aber für die Bevölkerung der Dörfer und kleinen Städte, besonders jene im Osten, gehen die Preise an die Existenz. Millionen sind vor der Armut ins europäische Ausland geflohen, um sich dort auf Baustellen, in Logistikzentren oder Schlachthöfen zu verdingen. Unter diesen Auslandsrumänen ist die Unterstützung für Georgescu übrigens überdurchschnittlich hoch.

Inzwischen hat unter der ehemals EU-begeisterten Bevölkerung auch das Ansehen der EU spürbar gelitten – deshalb punkten Georgescu und andere Radikale mit ihrem Orbán-ähnlichen EU-Bashing. Neben Demokratie und Rechtsstaat lautet das zentrale Versprechen der EU nämlich Wohlstand – doch dieser ist in Rumänien sehr ungleich verteilt. Und verglichen mit dem „EU-Neuling“ Polen hat Rumänien, immerhin seit 18 JahrenEU-Mitglied, weitgehend versagt beim Aufbau einer modernen Infrastruktur: Während in Polen Bahnhöfe, Straßen und andere Infrastruktur zuweilen besser in Schuss sind als in Deutschland, wirkt Rumänien vielerorts wie das Nachbarland Ukraine.

Eine aktuelle Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Januar kommt zu einem vernichtenden Ergebnis: „Die Stimmung in Rumänien ist düster und reicht von Besorgnis (Großstädte) über Depression (mittlere oder kleine Städte) bis hin zu Verzweiflung (ländliche Gebiete).“ Zu der Enttäuschung über die eigene Regierung kommt Kriegsangst hinzu. Laut einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ist diese besonders unter der Jugend weit verbreitet: 59 Prozent der Menschen zwischen 14 und 29 Jahren haben Angst vor Krieg.

Denn Rumänien, lange Zeit eher friedliche Peripherie der NATO, ist plötzlich potenzielle Kampfzone in einer Konfrontation zwischen Russland und dem Westen geworden, ähnlich wie Westdeutschland zu Zeiten des Kalten Kriegs. Was wäre Anfang der 1980er Jahre in Westdeutschland wohl los gewesen, wenn es hierzulande eine derartige Vertrauenskrise zwischen Bevölkerung und Eliten gegeben hätte? Die Rumänen haben keine prorussischen Veranlagungen, doch Georgescu nutzt die weitverbreitete Kriegsangst geschickt aus. Er erzählt von einer „Kriegspartei“ im Westen, die das Land in einen Krieg mit Russland verwickeln wolle, und propagiert als Alternative eine Mischung aus Pazifismus und Isolationismus.

Seit Trumps Wahlsieg spielt Georgescu zudem in die Karten, dass seine Botschaften durch Vertreter der USA verstärkt werden: In seiner Münchner Rede kritisierte US-VizepräsidentJ.D. Vance die Annullierung der rumänischen Präsidentschaftswahl als Beispiel für die Einschränkung der Demokratie in Europa. Elon Musk twittert regelmäßig über Rumänien, zudem berichten einflussreiche amerikanische Blogger aus dem Trump-Lager im Sinne Georgescus über die Lage im Land.

„Korrupte politische Parteien (...) sind die Hauptschuldigen für die chaotische Situation, in der wir uns heute befinden.“

Nun also eine Präsidentschaftswahl, deren erste Runde vom Verfassungsgericht annulliert wird, und das kurz vor Beginn der Stichwahl. Die Begründung: eine angebliche ausländische Einmischung, wobei offensichtlich Russland gemeint war. Brüssel und Berlin gaben sich mit der Begründung zufrieden – es passte ja ins Schema. Nicht so die Rumänen, denn bis heute haben die rumänischen Behörden für diese Behauptung keine belastbaren Belege geliefert. Egal ob man in Rumänien Anhänger von Georgescu oder seine Gegner fragt – die Menschen sind konsterniert. „Ein schwacher Staat konnte die Annullierung der Wahlen nicht verhindern und kann sie nach drei Monaten nicht mit überwältigenden Beweisen für alle Rumänen erklären“, schreibt etwa der Bukarester Bürgermeister Nicușor Dan. „Korrupte politische Parteien, die inkompetente Personen in öffentliche Ämter befördert haben, sind die Hauptschuldigen für die chaotische Situation, in der wir uns heute befinden.“ Wohlgemerkt, das schreibt der proeuropäische Kandidat. Auch Juristen äußern große Zweifel an der Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts und an der rechtlichen Stichhaltigkeit des Urteils. Unter anderem stellt sich die Frage, warum die Parlamentswahl, die wenige Tage NACH der umstrittenen ersten Runde der Präsidentschaftswahl stattfand, nicht ebenfalls annulliert wurde.

Seit Ende Februar ermitteln die Behörden gegen Georgescu – wegen „Anstiftung zu Handlungen gegen die verfassungsmäßige Ordnung“, „falscher Angaben zu den Finanzierungsquellen seines Wahlkampfs“ und „Förderung faschistischer und legionärer Ideen“. In dieser Woche entschied die Wahlkommission unter Berufung auf das Verfassungsgericht, Georgescu von der Wahl auszuschließen. Wenig später bestätigte das Verfassungsgericht diese Entscheidung. In sich mag das alles kohärent sein. Aber was, wenn den Institutionen niemand mehr vertraut? Nicht zuletzt, weil das Verfassungsgericht nahezu vollständig mit Vertretern der regierenden PSD und PNL besetzt ist?

„Die großen politischen Entscheidungen des letzten halben Jahres haben selbst das letzte bisschen Vertrauen zerstört, das noch vorhanden war“, schreibt der Publizist Vasile Ernu in der unabhängigen Zeitung Libertate. Europa sollte nicht tatenlos zusehen, wie ein EU- und NATO-Mitglied an der Ostflanke des Bündnisses weiter in eine politische Krise mit unbekanntem Ausgang rutscht. Călin Georgescu ist nicht die Ursache des Problems – er ist nur das Symptom eines kranken Systems.