Am Wochenende kündigte der ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk seinen Rücktritt an. Damit zog er die Konsequenzen aus einer zweimonatigen Hängepartie. Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn vom 16. Februar 2016 und dem darauf folgenden Austritt der Parteien „Vaterland“ (von Julia Timoschenko) und „Selbsthilfe“ (des Lemberger Bürgermeisters Andrij Sadowij) aus der Koalition war die „pro-europäische“ Regierung seither ohne parlamentarische Mehrheit.

Was folgte, war ein Lavieren der führenden politischen Kräfte und Präsident Petro Poroschenkos zwischen den Alternativen der Neuauflage der alten Koalition (aber mit einem anderen Premier), einer „technischen“ Übergangsregierung aus Bürokraten und aus dem Ausland importierten Reformern oder möglichen Neuwahlen.

Inzwischen darf als sicher gelten, dass der derzeitige Parlamentspräsident Wolodymyr Grojsman neuer Ministerpräsident werden und somit Jazenjuk nachfolgen soll. Dabei werden ihn voraussichtlich die schon bisher die Regierungskoalition tragenden Parteien unterstützen. Der 38-jährige Grojsman ist im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der ein politsicher Konkurrent mit eigener Partei ist, eindeutig ein Mann aus der „Mannschaft“ des Präsidenten Poroschenko. Er stammt nicht nur aus dessen Wahlkreis Winnyzja, sondern war bereits in jungen Jahren dort Bürgermeister, wo die präsidiale Schokoladenfabrik größter Steuerzahler und Arbeitgeber ist. In der Übergangsregierung im Februar 2014 zum Vize-Ministerpräsidenten ernannt, war Grojsman seit den Parlamentsneuwahlen im Oktober 2014 auf den Posten des Parlamentspräsidenten aufgerückt. Er verdankt seine gesamte politische Karriere der Protektion Poroschenkos.

Die Ukraine kehrt künftig zu einer politischen Konfiguration zurück, bei der der Ministerpräsident und das Kabinett kein unabhängiges Kraftzentrum bilden werden.

Somit kehrt die Ukraine künftig zu einer politischen Konfiguration zurück, bei der der Ministerpräsident und das Kabinett eindeutig politisch dem Präsidenten nachgeordnet sind und kein eigenes unabhängiges Kraftzentrum bilden werden. Und das, obwohl der Präsident verfassungsrechtlich lediglich den Außen- und Verteidigungsminister vorschlägt. Dies ist die eigentliche Nachricht hinter dem personellen Wechsel von Jazenjuk zu Grojsman. Da die Ukrainer um diese äußerst enge Beziehung zwischen dem neuen Premier und dem Präsidenten wissen, werden sämtliche positiven wie negativen Entwicklungen demnächst Präsident Poroschenko direkt zugeschrieben; die tägliche Arbeit der Regierung wird sein Ansehen maßgeblich mitbestimmen. Es wird für ihn nicht mehr wie bisher möglich sein, sich hinter einem unpopulären Ministerpräsidenten zu verstecken.

Schaut man sich den Hintergrund der aktuellen Regierungskrise und die Brüche in der Koalition an, dann verheißt das eine Menge Arbeit für die künftige Regierung. Seit Jahresbeginn hatten mehrere spektakuläre Rücktritte von tatsächlich reformwilligen Kräften der Forderung nach Auswechslung der alten Bürokratie und echten Reformschritten neuen Schub verliehen.  Viele der infolge des „Majdan“ in die Politik gegangenen „Reformer“ hielten und halten ganz grundsätzlich Poroschenko, Jazenjuk (und auch Grojsman) für Teile des ukrainischen Problems und nicht der Lösung, etwa beim Kampf gegen die Korruption als dem Grundübel des Landes.

Andererseits akzeptierten sie deren Regierungserfahrung und honorierten den Umstand, dass sich diese Teile der Politik rechtzeitig auf die Seite des „Euromaidans“ gestellt hatten. Dieses nach zwei Jahren brüchig gewordene Zweckbündnis zwischen „echten Reformern“ aus der Zivilgesellschaft und Teilen der alten Elite ist das Fundament der aktuellen Regierungskoalition, flankiert von Populistinnen wie Julia Timoschenko, die ihr Fähnlein nach dem jeweils herrschenden Wind hängen.

Es wird nichts weniger als der „große Wurf“ verlangt, mit einem wirklich unabhängigen Justizsystem, einer De-Oligarchisierung des Landes und Impulsen für einen wirtschaftlichen Neuanfang.

Eine neue Regierung wird sich daher in diesem Zielkonflikt zwischen „muddling through“ und einem kompletten „Neustart“ bewegen und letztlich entscheiden müssen, ob überhaupt und wenn ja, welches Reformtempo eingeschlagen wird. Die Erwartungshaltung von großen Teilen der Bevölkerung, westlichen Geberländern und der kritischen Zivilgesellschaft ist dabei klar: Es wird nichts weniger als der „große Wurf“ verlangt, mit einem wirklich unabhängigen Justizsystem, einer De-Oligarchisierung des Landes und Impulsen für einen wirtschaftlichen Neuanfang.

Liefern Grojsman und sein Kabinett nicht, dann droht ein demoskopischer Absturz, wie ihn zuletzt Jazenjuks „Volksfront“-Partei, die noch auf zwei Prozent in den Umfragen kommt, erlitten hat, auch dem Präsidenten selbst. Zusammen mit den Fliehkräften innerhalb der Koalition könnten baldige Neuwahlen die Folge sein. Aus denen wäre aber nach derzeitigem Stand keine solide Basis für vernünftige Politik zu erwarten, sondern eher ein Revival oligarchischer Interessenvertretung und populistischer Kräfte im Parlament. Insofern ist es nicht übertrieben davon auszugehen, dass die neu zu bildende Regierung das letzte Aufgebot der politischen Gewinner des Umbruchs vom Februar 2014 sein wird.