Die Empörung über die Missachtung des Spitzenkandidaten-Prinzips durch die Staats- und Regierungschefs bei der Nominierung von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin ist enorm. Erbost machen Kritiker den Rat dafür verantwortlich, das Ansehen der EU und gar die europäischen Demokratie insgesamt beschädigt zu haben. Die deutschen Delegationen im Europäischen Parlament (EP) haben angekündigt, von der Leyen bei der Abstimmung übernächste Woche im EP nicht zu wählen. Die designierte Kommissionspräsidentin verspricht nun, das Spitzenkandidaten-Prinzip zu stärken. Aus dem Europäischen Parlament (EP) waren daraufhin Signale zu vernehmen, dass eine Stärkung des Spitzenkandidaten-Prinzips eine Bedingung dafür sein könnte, dass das EP doch noch dem Personalvorschlag des Rates zustimmen könnte.

Das Spitzenkandidaten-Prinzip bedeutet, dass der Kommissionspräsident aus den von den europäischen Parteifamilien für die Europawahl aufgestellten Spitzenkandidaten hervorgehen soll, im Normalfall aus der stärksten Fraktion im EP. Dieses Prinzip wurde bei der Europawahl 2014 zum ersten Mal etabliert. Bereits damals war die Nominierung des Spitzenkandidaten der EVP Jean-Claude Juncker nur nach einem zähen Ringen geglückt.

Das Spitzenkandidaten-Prinzip würde zwar die Legitimation der Kommission stärken, aber kaum etwas gegen die eigentlichen Ursachen des Demokratiedefizits ausrichten.

Das Spitzenkandidaten-Prinzip ist allerdings nirgends im europäischen Recht zu finden – auch wenn man angesichts der derzeitigen Aufregung leicht einen anderen Eindruck gewinnen könnte. In Wahrheit sieht das europäische Recht eine Nominierung des Kommissionspräsidenten durch den Rat und anschließend seine Bestätigung durch das EP vor. Daher ist die scharfe Kritik an den „Hinterzimmer-Deals“ des Europäischen Rates nicht sachgerecht. Der Rat hat lediglich seine vertragsrechtlich vorgeschriebene und über nationale Wahlen demokratisch mandatierte Aufgabe erfüllt. Gleiches lässt sich vom EP nicht behaupten. Das EP hat es nicht vermocht, sich hinter einen der Spitzenkandidaten zu versammeln. Damit hatte das EP dem Rat das Feld überlassen.

Was ist nun von einer besseren Verankerung des Spitzenkandidaten-Prinzips zu halten? Es ist aus zwei Gründen der falsche Weg.

Erstens, die EU ist keine Mehrheitsdemokratie und auch nicht dazu geeignet, eine zu werden. Noch schlechter passt ein präsidentielles System auf die EU, auf das die Befürworter der noch weitergehenden Idee einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten abzuzielen scheinen – selbst wenn es bei den europäischen Institutionen vor nominellen Präsidenten nur so wimmelt (Kommissionspräsident, Ratspräsident, Präsident der Eurogruppe usw.). Die EU kann angesichts ihrer immensen geographischen, kulturellen, sprachlichen, historischen, politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Vielfalt nur im Sinne eines auf geographischen und politischen Proporz basierenden Konsenssystems funktionieren. Tatsächlich entspricht der institutionelle Aufbau der EU einem solchen System – so auch das Verfahren zur Nominierung des Kommissionspräsidenten.

Das bedeutet zweierlei. Zum einen ist ein Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten, für den es keinen Konsens gibt, kein Kandidat. Manfred Weber und Frans Timmermans haben dies zu spüren bekommen. Zum anderen könnte eine Institutionalisierung des Spitzenkandidaten-Prinzips zu einem dysfunktionalen politischen Prozess führen. Die EU entspricht einem Zwei-Kammern-System mit einem vergleichsweise schwachen Parlament und einer starken Länderkammer, dem Europäischen Rat. Ein Kommissionspräsident ist daher auch nach seiner Ernennung stark auf die Unterstützung des Rates angewiesen. Dies gilt nicht nur für Gesetzgebungsinitiativen der Kommission, sondern auch für die Umsetzung europäischer Beschlüsse in den Mitgliedstaaten. Bei Letzterem ist die Kommission von der „wohlwollenden Gefolgschaft“ der Mitgliedstaaten abhängig. Würde durch ein institutionalisiertes Spitzenkandidaten-System nun ein Kandidat Kommissionspräsident, der nicht von einer breiten Mehrheit des Rates getragen würde, verhieße dies nichts Gutes für die Handlungsfähigkeit und Effektivität europäischer Politik. 

Zweitens wäre es aus einem weiteren Grund falsch, sich jetzt für das Spitzenkandidaten-Prinzip zu verkämpfen. Das Demokratiedefizit der EU liegt nicht an der schwachen demokratischen Legitimation der Kommission. Das Spitzenkandidaten-Prinzip würde zwar die Legitimation der Kommission stärken, aber kaum etwas gegen die eigentlichen Ursachen des Demokratiedefizits ausrichten. Dazu gehören zum einen die „Über-Konstitutionalisierung“ des europäischen Binnenmarktrechts, das durch seine ungewöhnlich starren und detaillierten ordnungspolitischen, quasi-verfassungsrechtlichen Weichenstellungen die politisch-demokratische Gestaltungsfähigkeit der europäischen und nationalen Politik einschränkt, und zum anderen das fehlende Initiativrecht des EP. In der EU hat einzig die Kommission das Recht, neue Gesetze vorzuschlagen. Die Bedeutung der Kommission für die europäische Gesetzgebung beruht vor allem auf diesem Monopol.

Ein im Vergleich zum Spitzenkandidaten-Prinzip weitaus wirksamere Schritt zur Demokratisierung der EU wäre, dem EP das Initiativrecht zu verleihen. Die Folge wäre, dass Parteien im Europawahlkampf endlich konkrete Versprechungen machen könnten. Sie könnten mit politischen Programmen antreten, die sie nun auch eigenhändig über die europäische Gesetzgebung vorantreiben könnten. Der Beitrag zur Demokratisierung der EU wäre enorm: Wahlkämpfe gewännen an politischer Substanz, europäische Politik würde stärker politisiert, Parteien könnten politische Projekte auf der nationalen und europäischen Ebene miteinander verzahnen und das direkt gewählte EP würde im europäischen Institutionengefüge deutlich aufgewertet. Dieser Schritt würde sogar das Spitzenkandidaten-Prinzip überflüssig machen. Wenn Gesetzgebungsinitiativen direkt aus dem EP initiiert werden könnten, würde der durch das Spitzenkandidaten-System ohnehin nur schwache Zugriff des EP auf das Initiativrecht der Kommission bedeutungslos.

Die politischen Akteure sollten sich gut überlegen, wofür sie ihr politisches Kapital einsetzen. Das Spitzenkandidaten-Prinzip passt nicht auf das politische System der EU. Es ist außerdem ohnehin nur ein Nebenschauplatz. Die wahren Demokratieprobleme liegen anderswo und bedürfen maßgerechterer und wirksamerer Lösungen.