Das Interview führte Daniel Kopp.
Die europäische Grenzschutzbehörde Frontex hat seit Längerem mit Skandalen zu kämpfen – seien es Menschenrechtsverletzungen wie illegale Pushbacks im Mittelmeer oder undeklarierte Treffen mit Waffenherstellern. Haben die Enthüllungen Sie überrascht?
Bedauerlicherweise muss ich sagen, dass wir von den Enthüllungen nicht wirklich überrascht waren. Wir versuchen schon seit Längerem, von Frontex klare Antworten zu bekommen. Berichte darüber, dass irgendetwas nicht so ganz richtig läuft bei Frontex, gibt es ja leider schon seit geraumer Zeit.
Wir haben in der Vergangenheit mehrfach die Erfahrung gemacht, dass wir auf unsere Nachfragen – zu Berichten über Pushbacks, über Gewaltanwendung gegenüber Migranten – ganz häufig die Antwort bekommen haben: „Uns liegen keine Kenntnisse vor. Wir wissen von nichts!“ Das ist, so muss man im Nachhinein sagen, mindestens deutlich bezweifelbar.
Allerdings zeigt sich an der Stelle gerade bei Frontex ein grundsätzliches Problem der europäischen Strukturen: Wir als Abgeordnete sind zwar direkt gewählt und haben auch das Mandat von Frontex zusammen mit dem Rat beschlossen. Wir sind aber nicht direkt Kontrollinstanz. Es gibt den Frontex-Verwaltungsrat. Da sitzen Vertreterinnen und Vertreter von Kommission und Mitgliedstaaten. Aber wir bekommen nur die Berichte von Frontex. Wie sich jetzt gezeigt hat, waren diese Berichte eben nicht umfassend und auch nicht ganz ehrlich. Und das ist schon ein Konstruktionsfehler, dass wir da bisher nicht mehr Kontrollmöglichkeiten haben.
Welche Rolle würden Sie denn dann idealerweise dem Europäischen Parlament in der Aufsicht von Frontex zusprechen?
Ich bin mir nicht sicher, ob es Aufgabe des Parlaments sein kann, aktiv in diesen Verwaltungsrat zu gehen. Aber zumindest braucht man im Verwaltungsrat neben Kommission und Mitgliedstaaten – die will ich gar nicht völlig aus der Verantwortung lassen – auch unabhängige Experten. Einige Nichtregierungsorganisationen beraten die Agentur bereits in Grundrechtsfragen im Konsultationsforum, die Empfehlungen sind jedoch nicht bindend. Wenn zukünftig endlich nach monatelangen Verzögerungen immerhin einige der eigentlich 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Frontex angestellt werden, die sich speziell um die Frage der Einhaltung von Grundrechten kümmern, könnte auch die oder der Grundrechtsbeauftragte eine verstärkte Rolle im Verwaltungsrat einnehmen und dort berichten, was schiefläuft.
Das Parlament selbst hat jetzt eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die innerhalb von vier Monaten erst einmal die aktuellen Anschuldigungen und Berichte prüfen soll, um dann Empfehlungen abzugeben. Angesichts der Größe der Agentur macht es natürlich auch Sinn, nicht mit diesem Abschlussbericht aufzuhören, sondern dann noch nachhaltiger und regelmäßiger als bisher mit einer solchen Arbeitsgruppe zu schauen, dass entsprechende Empfehlungen auch umgesetzt werden. Wir brauchen also eine unabhängige Expertise und mehr Transparenz und können die Kontrolle von Frontex nicht weiter fast allein den Mitgliedstaaten überlassen.
Vor allem Fabrice Leggeri, der Exekutivdirektor von Frontex, steht unter massivem Druck. Riskiert man mit dem Fokus auf Leggeri nicht, dass strukturelle Probleme in der europäischen Grenzschutz- und Migrationspolitik unter den Tisch fallen?
Ich glaube, dass man beides gleichzeitig verfolgen muss.
Der Exekutivdirektor ist der, der sicherstellen muss, dass sämtliche Aspekte des Frontex-Mandates umgesetzt werden. Wenn ich dann von diesem zuständigen Direktor höre, dass über Monate hinweg etwa die Einstellung von Beamten zur Sicherung der Grundrechte verzögert wurde, und wenn ich sehe, dass teilweise wider besseres Wissen nicht über Pushbacks und zumindest zweifelhafte Vorgänge an den Grenzen berichtet wird, dann trägt dafür letztendlich natürlich er die Verantwortung. Wenn der Exekutivdirektor einer Agentur, die massiv ausgebaut wurde und wo er auch nicht schlecht bezahlt wird, nicht in der Lage ist – oder nicht bereit ist –, offen zu sagen, wo es Missstände gibt, und diese anzugehen, dann muss er einfach gehen.
Gleichwohl ist parallel dazu natürlich auch richtig: Die Aktivitäten an den Grenzen stehen immer noch unter Federführung der einzelnen Mitgliedstaaten. Das heißt, Frontex unterstützt, ist aber selbst nicht in der Befehlsgewalt. Insofern muss man natürlich sagen: Ja, Frontex hätte frühzeitig und offen über diese Vorkommnisse kommunizieren müssen, insbesondere, weil wir als Parlament nachgefragt haben. Gleichwohl muss man aber auch den Fokus auf die Mitgliedstaaten legen, die federführend diese Pushbacks und andere Dinge organisieren.
Wenn zwei Kommissionsvertreter im Aufsichtsrat sitzen und ansonsten Vertreter der Mitgliedstaaten, die sich dann quasi selbst kontrollieren, wird an dieser Stelle natürlich deutlich, dass das nicht wirklich funktionieren kann. Da brauchen wir einfach mehr unabhängige Beobachter.
Im mehrjährigen Finanzrahmen der EU für die Jahre 2021–2027 ist eine signifikante Aufstockung der Mittel für Frontex vorgesehen – unter anderem soll die Agentur zum ersten Mal eine eigene „ständige Reserve“ von 10 000 Grenzbeamten bekommen, die teilweise Waffen tragen sollen. Ist das angesichts der Skandale noch zu rechtfertigen?
Das ist tatsächlich ein Punkt, den man sich ansehen muss. Schließlich haben wir Frontex stärker ausgebaut. Wenn wir sagen, dass wir ein europäischer Markt sind – das meine ich nicht nur mit Blick auf die Wirtschaft –, ein Kontinent mit bestimmten demokratischen Werten, dann gehört dazu natürlich auch, dass die Frage der Grenzkontrolle eine gemeinsame sein muss.
Einige Staaten, die im Binnenland des Schengenraums liegen, haben nur noch wenige oder gar keine Grenzen mit Nicht-EU-Staaten. Das heißt, dass jetzt nur noch einige Mitgliedstaaten eine Außengrenze haben. Da finde ich es im Prinzip schon richtig, dass es eine Behörde gibt, die diese Mitgliedstaaten unterstützt.
Aber: Stand heute und angesichts der Enthüllungen und Berichte, die es über Frontex gibt, glaube ich tatsächlich, diese Erweiterung des Mandates – das Personal und auch, dass Frontex-Mitarbeiter mit Waffen ausgestattet werden sollen – kann nur funktionieren, wenn zugleich klare, transparentere Strukturen geschaffen werden und Frontex seine eigenen Verantwortlichkeiten zur Berichterstattung auch ernsthafter wahrnimmt.
Im neuen EU-Migrations- und Asyl-Paket wird Frontex eine stärkere Rolle eingeräumt; vor allem was das neue „Screening“-Verfahren von Menschen an der Grenze anbelangt. Das Screening kann zu Entscheidungen führen, die sich auf den Zugang zu Asyl auswirken. Müsste man mit Blick auf die Skandale nicht nachbessern, wenn Frontex einen direkten Einfluss auf Asylverfahren nimmt?
Der Migrationspakt ist in sich etwas zwiegespalten. Sie haben das Screening angesprochen. Alle Drittstaatsbürger, die irregulär die Außengrenze der EU überschreiten, einen Asylantrag stellen oder aus Seenot gerettet werden, sollen geprüft werden. Dazu gehören Sicherheitsüberprüfungen und Gesundheitschecks sowie die Registrierung biometrischer Daten. Das kann man wollen. Da müssen wir uns allerdings die Rolle von Frontex noch mal genauer anschauen und dabei auch sicherstellen, dass das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen ebenfalls involviert ist und sicherstellt, dass das Grundrecht auf Asyl gewahrt wird. Fest steht, dass Frontex keine Rolle in Asylverfahren hat und haben sollte.
Die Rechtsgrundlage des Screenings ist nämlich nicht das gemeinsame europäische Asylsystem, sondern das Grenzregime. Das erklärt, warum auch Frontex bei diesem Screening eine Rolle spielt: Frontex macht nämlich Grenzkontrolle. Gerade bei dem Screening haben wir aber das Problem der Fiktion der Nicht-Einreise. Da wird vonseiten der Behörden so getan, als ob Geflüchtete juristisch noch nicht in die EU eingereist wären, obwohl sie physisch natürlich schon in Griechenland sind. Das muss man schon prüfen, gerade weil Frontex und das Asylunterstützungsbüro sehr unterschiedlich gewichtet sind. Wer übernimmt tatsächlich welche Rolle? Inwieweit sind die Mitgliedstaaten und die Asylbehörde willens und in der Lage, das Asylrecht tatsächlich umzusetzen und zu schützen? Das wird eine große Herausforderung sein.
Aber noch ein ganz anderer Punkt, der dem Screening vorausgeht: Das Screening fängt an, wenn jemand quasi schon mit einem Fuß in Europa steht. Die Pushbacks, über die wir eben gesprochen haben, die finden aber oft schon vorher statt. Da sehe ich die Rolle von Frontex besonders kritisch, weil Frontex in manchen Fällen argumentiert: Wenn ein Gummiboot noch in internationalen oder in territorialen Gewässern von Drittstaaten ist, dann ist das, streng genommen, noch gar kein Pushback, sondern nur eine erlaubte Anweisung, den Kurs zu ändern. Das ist Haarspalterei und zynisch.
Und wenn Frontex behauptet „Wir haben das Boot gesehen, haben aber nicht erkannt, dass da jemand Asyl beantragen wollte, also durften wir die auch zurückschicken“, da frage ich mich schon: Wie will ich denn in einer solchen Situation auf dem Meer, wenn ich mich nähere, die Menschen womöglich verzweifelt und verunsichert sind, erkennen, ob jemand Schutz braucht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die alle Schilder haben, auf denen „Asyl“ steht und die sie dann hochhalten. Ich denke, da muss man diese Menschen tatsächlich retten und ihnen die Möglichkeit geben, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Auch bevor wir diesen Migrationspakt beschließen, muss die Rolle von Frontex und die Verantwortung von Frontex deutlicher geklärt sein.
Aber ist Frontex denn nicht mehr als ein Symptom der gescheiterten europäischen Migrationspolitik? Müsste man da nicht ansetzen, bevor man Frontex so massiv aufstockt?
Ein Kernproblem ist natürlich, dass es mindestens seit 2015, aber auch davor mit der Dublin-Regel keine wirkliche Solidarität gegeben hat. Dublin schreibt vor, dass dort, wo ein geflüchteter Mensch ankommt, er oder sie auch bleiben soll. Da findet auch das Asylverfahren statt. Das hat noch nie wirklich geklappt. Jetzt haben wir einen neuen Pakt auf dem Tisch liegen, der aber auch wieder festschreibt: Die Verantwortung haben im Wesentlichen die Staaten an der Außengrenze. Ob Screening, Grenzverfahren, Asylverfahren: Das machen alles die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen.
Wenn ich nicht bereit bin zu sagen: Alle Mitgliedstaaten nehmen Flüchtlinge auf und beteiligen sich auch aktiv an der Durchführung von Asylverfahren, dann ist das nicht richtig. Ich will das auch keinesfalls rechtfertigen. Aber ich verstehe, dass irgendwann Staaten an der Außengrenze sagen, dass sie die Schnauze voll haben. Das ist umso ärgerlicher, weil wir in Deutschland, aber durchaus auch in anderen Ländern, Kommunen, teilweise ganze Bundesländer haben, die sagen: „Wir können doch Geflüchtete aufnehmen. Jenseits derer, die sowieso auf unterschiedlichen Wegen kommen, können wir zusätzlich eine bestimmte Anzahl von Menschen aufnehmen.“ Die haben die Verfahren, die Menschen für die Betreuung. Alles fertig. Und es passiert einfach nicht.
Ich sage mal eine Zahl: Ich erinnere mich noch, dass vor einigen Jahren Herr Seehofer, um das deutsche Beispiel zu nehmen, gesagt hat: Deutschland könne im Jahr maximal 200 000 Geflüchtete aufnehmen. Das war, glaube ich, damals im Rahmen der Koalitionsgespräche. Wenn ich mir nun ansehe, wie viele geflüchtete Menschen Deutschland gerade aufnimmt, sind wir von diesen 200 000 weit entfernt. Das zeigt, es gibt durchaus Spielraum, wenn man denn nur wollte.