In der Abstimmung zum Europäischen Parlament Ende Mai stimmten viele Europäer gegen Jahrzehnte der ökonomischen regionalen Integration. Die wachsende Euroskepsis ist vor allem Ausdruck der Enttäuschung über die aktuelle wirtschaftliche Lage in vielen Staaten der Eurozone. Sie spielt dabei jenen Euroskeptikern in die Hände, auf deren Agenda der Rückzug von der regionalen Integration durch die Verfolgung nationalistischer Wirtschaftspolitik steht. Eine politische Bewegung zur Renationalisierung der europäischen Volkswirtschaften ist jedoch fehlgeleitet und kurzsichtig. Denn sie würde dem wirtschaftlichen Erholungsprozess Europas enorm schaden.

Dabei ist jedoch auch klar, dass Europa dringend eine Kurskorrektur vornehmen muss. Denn in den vergangenen zwei Jahren haben viele EU-Staaten eine Überdosis der falschen Medizin erhalten. Eine mächtige Koalition nordeuropäischer Regierungschefs hat beharrlich den Standpunkt vertreten, dass Sparmaßnahmen allein die wirtschaftlichen Probleme Europas lösen würden. In der Folge ist die Gesamtnachfrage eingebrochen und hat den Kontinent näher an den Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs geschoben. Zugleich hat dieses falsche Medikament auch die Symptome der Euroskepsis verstärkt, weshalb nun die Anti-EU Parteien im Europäischen Parlament an Stärke gewonnen haben.

In den vergangenen zwei Jahren haben viele EU-Staaten eine Überdosis der falschen Medizin erhalten.

Die extremeren Vertreter dieser Rückzugsagenda plädieren für die Auflösung der EU und die Abschaffung des Euro. Aber natürlich sind diese Maßnahmen ebenso unbrauchbar, um eine wirtschaftliche Erholung voranzutreiben, wie es die rigide Sparpolitik war. Die Probleme von Arbeitslosigkeit und schleppendem Wachstum durch eine Abkehr von der europäischen Integration lösen zu wollen, wird nicht gelingen. Im Gegenteil: Dieser Weg würde die Probleme nur weiter verschärfen. Ganz abgesehen von der praktischen Frage, wie sich die EU-Wirtschaftszone nach Jahrzehnten wachsender Integration eigentlich auflösen sollte.

In der heutigen globalen Ordnung zeichnet sich wirtschaftliche Stärke genau durch die regionalen Kooperationsvereinbarungen aus, die von Europa auf den Weg gebracht wurden. Wirtschaftliche Macht ist zunehmend auf Handelsblöcke verteilt. Auch deshalb werden Verhandlungen über neue Handelsvereinbarungen wie TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) und TPP (Trans-Pacific Partnership) geführt.

In diesem Zusammenhang haben es viele Europäer gerade der EU zu verdanken, dass sie ihre einzigartige Kombination aus wirtschaftlicher Dynamik, hohen Löhnen und Arbeitnehmerrechten bewahren konnten. Ein Rückzug aus der regionalen Kooperation würde diese Balance stören und die einzelnen europäischen Staaten wären in einer globalisierten Wirtschaft, in der prekäre Beschäftigungen auf dem Vormarsch sind und Löhne in vielen Branchen stagnieren, auf sich allein gestellt.

 

EU-Skeptizismus: Herausforderung, nicht Mehrheitsmeinung

Zum Glück kann die diverse Ansammlung der Euroskeptiker kein breites Mandat für sich in Anspruch nehmen – allen übertriebenen Aussagen von Le Pen und von Nigel Farage von der UKIP zum Trotz. Zum einen haben nur etwas mehr als 43 Prozent der Europäer ihre Stimme abgegeben. Zum anderen wird weit mehr als die Hälfte der Sitze im neuen Parlament in den Händen der Mitte-Rechts und der Mitte-Links Koalitionen bleiben. Beide unterstützen ein integriertes Europa.

In diese Richtung ging auch die Aussage Jean-Claude Junckers, des ehemaligen luxemburgischen Premierministers und Mitte-Rechts Kandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten: „Eine überwältigende Zahl von Europäern ist von der europäischen Integration überzeugt und kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass der Euro abgeschafft oder ihr Land die EU verlassen würde.“

Juncker hat Recht. Aber die Integrationsbefürworter müssen sich trotz der parlamentarischen Mehrheit der Herausforderung eines wachsenden Euroskeptizismus stellen. Die beiden großen Parteienblöcke – die konservative EEP-Fraktion und die progressive S&D-Fraktion – sollten eine klare Kurskorrektur vornehmen und Europa auf den Pfad von geteiltem Wachstum und der Schaffung von Arbeitsplätzen zurückführen.

 

Wachstum statt Sparpolitik

Selbst nach dem anfänglichen Schock im Zuge der Wahlen hat sich die EU-Kommission nur halbherzig hinter diese Prinzipien gestellt. Ein Bericht der Kommission vom Juni 2014 mit Empfehlungen für die Mitgliedsstaaten steht zwar unter dem Titel „Building Growth“, verfolgt aber die gleiche fehlgeleitete Sparpolitik der letzten Jahre. Statt anzuerkennen, dass Arbeitslosigkeit die größte Barriere auf dem Weg zur wirtschaftlichen Erholung des Euroraums darstellt, sieht sie diese eher als externen sozialen Effekt einer notwendigen fiskalischen Konsolidierungspolitik.

Das Zeitfenster für eine Kurskorrektur ist kleiner, als die Mehrheitsparteien im EU-Parlament meinen.

Natürlich ist Arbeitslosigkeit ein soziales Problem. Aber sie ist vor allem auch ein wirtschaftliches Problem. Die EU-Staaten verzeichnen hauptsächlich deshalb niedrige Wachstumsraten, weil die interne Nachfrage weiter zu gering ist, die am wirksamsten mit der Schaffung von qualitativ guter und gut bezahlter Arbeit gesteigert werden kann.

Das Zeitfenster für eine Kurskorrektur ist kleiner, als die Mehrheitsparteien im EU-Parlament meinen. Jetzt ist es an der Zeit, eine neue, innovative Politik umzusetzen, die progressive Wirtschaftsideale mit Blick auf ein breites und inklusives Wachstum neu definiert. Dieser Politik muss die Leitidee zugrunde liegen, dass Beschäftigung ein zentraler Bestandteil für die Schaffung und Erhaltung wirtschaftlichen Wachstums ist. Nur wenn die EU-Politik die Schaffung von mehr und qualitativ besseren Arbeitsplätzen ganz oben auf ihre Agenda setzt, kann sie dem wachsenden Euroskeptizismus Einhalt gebieten.