++++++++++++ 4. Juli: Wie weiter? ++++++++++++

Wer heute morgen durch Athen geht, sieht eine Stadt in Wartestellung. Die Cafés sind spärlich besetzt, nur in den Supermärkten ist es deutlich voller. Vor jedem Bankautomat stehen die Menschen Schlange. Und dies schon die ganze Nacht. Egal zu welcher Uhrzeit man die ATMs passiert, sie sind immer umlagert. Überall sieht man Gruppen und Grüppchen von Menschen stehen, die miteinander diskutieren, streiten, abwägen. Jeder will eine Einschätzung haben und abgeben, darüber, was die Entscheidung im Referendum morgen bringen könnte. Familien haben sich zerstritten, Unternehmen liegen seit Tagen still, und die Angestellten diskutieren miteinander: Wie geht es weiter nach diesem Sonntag?

Bislang ist hier nur Nebel zu sehen. Politisch erzeugter Nebel, weil sich die Versprechen oder Drohungen beider Seiten deutlich widersprechen; daneben gibt es aber auch den Nebel über den wirtschaftlichen Verhältnissen jedes Einzelnen. Die geschlossenen Banken, die Schlangen vor den Geldautomaten, Gerüchte über einen möglichen Haircut von Bankeinlagen aber auch die Versprechen von Finanzminister Varoufakis, dass die Banken ab Dienstag wieder ganz normal öffnen werden, erzeugen direkten Druck auf die Wählerinnen und Wähler. Den Druck der Ungewissheit.

Zwar warten alle auf das Ergebnis des Referendums. Doch nur die fanatischsten Anhänger der Regierung glauben, dass sich dadurch der Nebel lichten wird. Alle anderen sind skeptisch, nachdenklich und besorgt. Die Woche vor der Abstimmung war schon nervenzerreißend, die Woche danach droht zum Thriller zu werden. Egal, wie es ausgeht wie es weiter gehen kann, weiß eigentlich keiner.

 

++++++++++++ 4. Juli: Mitreden von außen ++++++++++++

Ein Wort noch zu den zahlreichen Wortmeldungen aus dem Ausland: Hierbei wird zwischen zwei Ebenen unterschieden.

Äußerungen der politischen Ebene werden als Parteinahme eingeordnet, man regt sich über Jean-Claude Junker und Martin Schulz gleichermaßen auf. Dass sich die Fraktion der Linken ebenfalls eingebracht hat, wird weniger strittig gesehen. Während die ersteren als ernstzunehmende Akteure in den laufenden Verhandlungen geschätzt oder gefürchtet werden, gelten Solidaritätsadressen der Linken aus Berlin oder Madrid als politische Folklore. Da die Nein-Seite jedoch ihr ganzes Narrativ darauf aufgebaut hat, dass es beim Referendum vor allem um Stolz, Unabhängigkeit und das Ende der Demütigungen gehe, und die Gläubiger diese Regierung stürzen wollen, ist jede Pro-Äußerung von Politikern aus Europa und besonders aus Deutschland kontraproduktiv. Daher hoffen auch viele in SYRIZA, dass sich Wolfgang Schäuble vielleicht sogar heute noch zu Wort meldet, denn das garantiert ihnen sicherlich ein bis zwei Prozentpunkte.

Die zweite Ebene sind die Wahlempfehlungen von Wissenschaftlern oder Exilgriechen, die teils öffentlich, teils privat vorgetragen werden. Öffentlich dominiert hier die Nein-Fraktion, die auch ein deutlich prominenteres Unterstützerfeld vorweisen kann. Im privaten Bereich hat wohl die Ja-Fraktion die Oberhand. Darauf reagieren die meisten Bürgerinnen und Bürger aber eher allergisch. Es ist leicht, aus dem Ausland, in geordneten Verhältnissen und mit Erwartungssicherheit für die Zukunft, eine Wahlempfehlung abzugeben. Es ist wie der Elfmeter, den jeder von uns auf dem Sofa garantiert verwandeln wird. Aber wenn man selbst auf dem Platz oder in der Wahlkabine steht, dann fühlt sich der Druck ganz anders an.

 

++++++++++++ 3. Juli: Das Dilemma der Wahlkabine ++++++++++++

Am Sonntag werden viele Griechinnen und Griechen in der Wahlkabine stehen und nicht wissen, was sie ankreuzen sollen. Zwar versichert ihnen Alexis Tsipras immer wieder, dass dies lediglich eine Stärkung der Verhandlungsposition ist und kein Votum gegen den Euro. Nur mit einem Nein könne der Aufschwung in Griechenland bald wieder beginnen. Doch die Stimmen im Inland und Ausland, die das Gegenteil betonen, sind unüberhörbar. Eine Wahl mit Nein könnte den Grexit und wirtschaftliche Abenteuer bedeuten, die keiner abschätzen kann. Gleichzeitig würde eine Ja-Stimme bedeuten, dass man eine Sparpolitik unterstützt, die eine überwältigende Mehrheit der Griechinnen und Griechen für gescheitert hält. Die Folgen des Ja könnten somit weitere schwere Zeiten und vor allem keine Aussicht auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation sein. Am Sonntag sollen die Griechen also zwischen Europa auf der einen Seite und wirtschaftlicher Prosperität auf der anderen Seite entscheiden – und das alles im Namen der Demokratie.

Damit hat die Regierung ein Dilemma zwischen Werten und Institutionen aufgebaut, die vorher eins waren. Egal wie es ausgeht, dieses Dilemma wird schwere Auswirkungen auf das Verhältnis der Griechen zu Europa haben. Wenn der Zusammenschluss in der Europäischen Union gleichgesetzt wird mit Sparpolitik und nicht mehr mit Demokratie und der Aussicht auf wirtschaftliche Prosperität, geraten die Fundamente der Integration ins Wanken.

 

++++++++++++ 1. Juli: Das griechische Nein ++++++++++++

Der Stimmzettel des Referendums macht erst einmal einen seltsamen Eindruck. Denn entgegen der landläufigen Logik steht zuerst ein Nein und dann ein Ja. Zudem ist das Nein die von der Regierung erwünschte Antwort, gefragt ist also ein Veto und kein Votum.

Dahinter steht die Logik, mit der SYRIZA seit Monaten argumentiert, und die von der Regierung nun in kluger Referenz an die griechische Geschichte genutzt wird. Der öffentliche Diskurs ist weniger geprägt von politischen Kategorien oder gar finanziellen Aspekten, die im vorliegenden Vorschlag festgehalten sind. Stattdessen dominieren Begriffe wie Stolz, Würde und Demütigung. Die Auseinandersetzung wird somit in einen nationalpopulistischen Rahmen eingefügt, in dem Griechenland wie ein kleines gallisches Dorf gegen die imperialen Mächte der EU und des IWF aufsteht und sich einem aussichtslosen, aber ehrenhaften Kampf stellt. In diese Logik passt das Nein, das an eines der wichtigsten historischen Ereignisse der griechischen Zeitgeschichte erinnert: den 28. Oktober 1940. An diesem Tag verweigerte der damalige griechische Diktator Metaxas den Einmarsch der Italiener mit einem klaren „Nein“. Dieser Tag ist inzwischen ein griechischer Nationalfeiertag, der sogenannte Nein-Tag.

Mit diesem Setting des Referendums werden die Befürworter des Vorschlags in den Ruch der Kollaboration gebracht und indirekt als Verräter dargestellt. Die linke und rechte Regierung haben somit ein Klima der nationalen Erregung geschaffen, das ihnen den Sieg im Referendum bringen könnte, die Gesellschaft in Griechenland aber langfristig womöglich spalten wird.

 

++++++++++++ 1. Juli: Referendum, Banken und Chaos ++++++++++++

Es fällt schwer, den Überblick zu behalten im aktuellen Chaos aus Meldungen, Vermutungen und Gerüchten. Fest steht, dass Griechenland seit gestern Nacht faktisch zahlungsunfähig ist, weil die fällige Rate an den IWF nicht beglichen wurde. Im Land selbst herrschen Verunsicherung, Chaos und eine extreme politische Polarisierung. Die geschlossenen Banken, die Schlangen vor den Geldautomaten und der riesige Andrang von Rentnern bei den wenigen für sie geöffneten Bankfilialen erzeugen ein Klima, das schwer in Worte zu fassen ist.

Auf einer zweiten Ebene, hinter den Kulissen, scheint die Regierung sich zu bemühen, noch kurzfristig ein Übereinkommen mit den Institutionen zu erreichen. So hatte Alexis Tsipras gestern ein mögliches drittes Paket in den Raum gestellt, heute schon schien er alle Forderungen des zweiten – gestern Abend ausgelaufenen – Pakets zu akzeptieren. Keiner weiß mehr, welches Ziel die Regierung eigentlich verfolgt, ihre Aktionen scheinen weitgehend von Aktionismus und Verzweiflung geprägt.

Gleichzeitig läuft jedoch die Kampagnenmaschine von SYRIZA für das anstehende Referendum auf vollen Touren. Vor allem in den sozialen Medien wird Stimmung für die Ablehnung des Vorschlags der Gläubiger gemacht. Selbst die Mitarbeiter des Finanzministeriums haben heute ein Banner an ihren Amtssitz gehängt, mit dem sie für ein Nein werben. Dagegen sprechen sich der Gewerkschaftsdachverband, die Unternehmensverbände, aber auch einige SYRIZA-Abgeordnete für eine Zustimmung aus. Die Stimmung bleibt angespannt, auch weil vollkommen unklar ist, ob das Referendum denn nun wirklich stattfinden wird.

 

++++++++++++ 27. Juni: Der griechische Knoten ++++++++++++

Alexis Tsipras hat sich an seinem großen Namensvetter orientiert. So wie damals Alexander der Große den gordischen Knoten mit einem Schwerthieb löste, versucht es Tsipras nun mit einem Referendum. Ein klares Votum der Bürgerinnen und Bürger soll eine demokratische Antwort auf den letzten Vorschlag der Gläubiger geben. Zwei Fragen stellen sich dazu. Erstens: Woher kommt diese plötzliche Idee? Und zweitens: Was soll das bringen?

Zur ersten Frage: Die griechische Regierung hat in den letzten Wochen und vor allem Tagen sehr viel Entgegenkommen gezeigt und sich mehr und mehr auf die Vorschläge der Institutionen eingelassen. Aber es war nie genug, stets wurden Nachbesserungen eingefordert. Bis der Eindruck entstand, Athen habe nur eine Wahl, nämlich den Vorschlag der Troika anzunehmen. Dies gipfelte in dem vom IWF korrigierten griechischen Vorschlag am Donnerstag, der aussah wie eine mit mangelhaft bewertete Klassenarbeit.

Die Antwort auf die zweite Frage ist deutlich komplizierter. Denn zum einen kann der zur Abstimmung stehende Vorschlag noch von der Eurogruppe vom Tisch genommen werden, das Referendum hätte somit keine Grundlage mehr. Oder es werden Kapitalverkehrskontrollen eingeführt und die Abstimmung findet vor geschlossenen Banken statt. Zum anderen ist Tsipras in einer Situation, in der er nur verlieren kann. Stimmen die Menschen für den Vorschlag, stellen sie sich gegen den Premier und er müsste konsequenterweise in Neuwahlen gehen. Stimmen sie dagegen, wäre er vermutlich gezwungen, das Land aus dem Euro zu führen. In beiden Fällen ist seine politische Zukunft fraglich. Das Referendum ist daher kein Versuch des Machterhalts, sondern die Verzweiflungstat eines Ministerpräsidenten, der um sich herum nur noch Sackgassen hat. Alexander der Große wurde nach seinem Schwertstreich Herrscher über Asien, Alexis Tsipras hat Glück, wenn er Premier von Griechenland bleibt. 

 

++++++++++++ 26. Juni: Die Mehrwertsteuerfrage ++++++++++++

Das griechische Mehrwertsteuersystem ist ähnlich zerklüftet wie das deutsche. Wie die unterschiedlichen Steuersätze zustande kommen, bleibt der Weisheit des Gesetzgebers überlassen. Im Kern herrscht eine vergleichbare Logik: Güter des absoluten Grundbedarfs werden mit dem Mindestsatz von 6,5 Prozent belastet; Lebensmittel, Printmedien und ähnliches mit einem immer noch verminderten Satz von 13 Prozent; für alle übrigen Güter gilt der Normalsatz von 23 Prozent. Auf den Inseln der Ägäis werden alle Steuersätze nochmals um 30 Prozent reduziert – damit soll den höheren Transportkosten Rechnung getragen und zur Herstellung ähnlicher Lebensverhältnisse beigetragen werden.

Die Mehrwertsteuer ist eines der zentralen Instrumente geworden, mit dem die griechische Regierung das Haushaltsloch stopfen will. Gleichzeitig sollen aber auch die sozial Schwächeren entlastet werden. Deswegen schlägt die Regierung vor, Arzneimittel und Bücher mit einem nochmals reduzierten Steuersatz von 6 Prozent zu belegen, daneben aber auch einen Teil der verarbeiteten Lebensmittel mit dem vollen Satz zu belasten. Hotels und Gaststätten sollen im mittleren Satz verbleiben. Die Ausnahmen der Inseln sollten ursprünglich abgeschafft werden, nach einer Intervention des Koalitionspartners sollen sie nun aber doch beibehalten werden. Die Gläubiger sind damit nicht zufrieden und fordern, dass auch die Hotels, die bislang mit einem niedrigeren Satz belastet wurden, mit der vollen Steuer belegt werden, ebenso wie Gaststätten.

Die Auswirkungen für den Warenkorb sind aktuell nicht abzuschätzen. Man kann davon ausgehen, dass die Lebenshaltungskosten der Bürgerinnen und Bürger steigen werden, da ein Großteil der Lebensmittel – wie beispielsweise Pasta – mit einem Normalsatz belegt werden. Gleichzeitig erwartet die Tourismusindustrie Rückschläge, sollten sich die Gläubiger mit der Forderung nach 23 Prozent im Hotelbereich durchsetzen, vor allem, wenn dies noch am 1. Juli diesen Jahres implementiert würde.

Das Grundproblem ist dabei noch gar nicht angeschnitten: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer, um die es faktisch geht, ist eine Fortsetzung der Sparpolitik. Die Einkommen der Griechen werden weiter reduziert, erwartet wird daher eher ein rezessiver Effekt statt Wirtschaftswachstum.

 

++++++++++++ 26. Juni: Der Tunnel ohne Licht ++++++++++++

Abwechselnd heiß und kalt, ein Wechselbad der Gefühle, fasst man im Griechischen unter „Schottischer Dusche“ zusammen. Nichts anderes erleben die Bürgerinnen und Bürger in den letzten Stunden. Erst schien es, als habe man sich in Brüssel auf einen Kompromiss geeinigt, ein erstes Aufatmen setzte ein. Dann wurden die Vorschläge doch wieder zurückgewiesen. Und am späten Donnerstagabend waren die beiden Seiten immer noch weit von einer Einigung entfernt.

In Athen überwiegt inzwischen der Frust über die andauernde Hängepartie. Viele wünschen sich einfach nur noch ein Ende der Verhandlungen mit irgendeiner Vereinbarung – den Kater danach verdrängen sie noch. Andere fühlen sich in ihrer Meinung bestätigt, dass die europäischen Partner und der IWF diese griechische Regierung bekämpfen. Nur so können sie sich erklären, dass nach fünf Jahren gescheiterter Sparpolitik nun ein neues Austeritätspaket geschnürt wird.

Wie auch immer die Brüsseler Gipfeldiplomatie ausgehen wird: In Griechenland wird es fast nur Enttäuschte geben. Enttäuscht werden all diejenigen, die darauf gehofft hatten, dass die Regierung zumindest einen Teil ihrer Versprechen einhalten könne und mehr soziale Gerechtigkeit bringen werde. Enttäuscht werden aber auch all die Bürgerinnen und Bürger, die auf die Lernfähigkeit Europas gesetzt hatten – darauf, dass die Programme von EU und IWF nach fünf Jahren und drastischen sozialen Auswirkungen verändert würden. Alle sind enttäuscht von den sich abzeichnenden Ergebnissen. Das Licht, das man am Ende des Tunnels auszumachen glaubte, erlischt mehr und mehr.

 

++++++++++++ 24. Juni: Die bunte Liste Griechenlands ++++++++++++

Wenn der Kompromiss am Donnerstag in Brüssel abgesegnet wird, muss er noch durch verschiedene Parlamente. Eine der schwierigsten Hürden wird die Abstimmung in Athen. Denn schon am Montagabend, als das Abkommen erst schemenhaft erkennbar war, gab es die ersten negativen Stimmen. Daher lohnt sich der Blick auf die entscheidende SYRIZA Fraktion.

Die 149 Abgeordneten spiegeln die Zusammensetzung der Partei wider. Sie stammen aus unterschiedlichen Flügeln und Strömungen oder sind überhaupt kein Parteimitglied – wie Finanzminister Varoufakis.

Europaweit bekannt ist die „Linke Plattform“ mit dem Energieminister Panagiotis Lafazanis als wichtigstem Repräsentanten. Sie lehnt den sich abzeichnenden Kompromiss ab, das wurde mehrfach verdeutlicht. Daneben umfasst SYRIZA eine Vielzahl weiterer kritischer Parlamentarier. Im Gegensatz zur rebellischen CDU/CSU-Fraktion im Bundestag ist Fraktionsdisziplin für SYRIZA kein Thema. Abstimmungen werden vielmehr in stundenlangen Diskussionen vorbereitet. Kenner fühlen sich an Studierendenparlamente erinnert. Auch deshalb geht die Angst um in Europa, dass ein Kompromiss an der Fraktion scheitern könnte.

Warum glaube ich dennoch, dass eine Zustimmung erfolgt? Dafür gibt es zwei Gründe, der eine eher kurzfristig, der andere historisch: Erstens: Eine Ablehnung würde vermutlich zu Neuwahlen führen. Bei diesen könnte Parteichef Tsipras die Wahllisten zusammenstellen und Abweichler ausschließen. Eine Stimme gegen den Kompromiss wäre dann zugleich eine Stimme gegen den eigenen Verbleib im Parlament. Zweitens: SYRIZA betrachtet sich als die erste linke Regierung Griechenlands („Das erste Mal Links“). Sie will das Land langfristig verändern. Diese historische Chance würde verloren gehen, wenn die Regierung bereits an der ersten schwierigen Abstimmung scheiterte. Denn mit einer Ablehnung des Kompromisses und einem möglichen Austritt aus dem Euro würde die griechische Linke womöglich auf Jahrzehnte desavouiert. Diese Bürde will Tsipras nicht tragen – und auch die Genossinnen und Genossen von der „Linken Plattform“ dürften dieses Ergebnis scheuen.

 

++++++++++++ 23. Juni: Verhandlungen und Alltag ++++++++++++

Das Griechenlandthema dominiert die deutschen Medien. Viele sind davon genervt, manche „haben die Faxen dicke“, wie Martin Schulz kürzlich verdeutlichte. Ungeduld und Erschöpfung haben sich in Politik und Gesellschaft festgesetzt. Vielleicht erscheint der Grexit auch deswegen als interessante Option – dann ist das Thema wenigstens durch.

In Griechenland dagegen können sich die Menschen kaum von den Bildschirmen lösen, überall laufen Fernseher und Nachrichtensendungen und die Verhandlungen sind das einzige Gesprächsthema. Denn von den Vorschlägen der Regierung – dem Entgegenkommen der Institutionen und dem Erreichen eines Abkommens – hängt die Zukunft fast aller griechischen Bürgerinnen und Bürger ab. Wenn Tsipras in Brüssel eine Veränderung der Mehrwertsteuer auf den Inseln vorschlägt, dann wird das den Alltag der Bewohner dort maßgeblich verändern, ebenso wie die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge einen Einfluss auf den Lohnzettel aller Arbeitnehmer in Griechenland haben wird. Ein Grexit dagegen wäre alles andere als eine Befreiung, zumindest für die Normalbürger. Arbeitnehmer und Rentner, die bislang für die Krise aufkommen mussten, werden mit wertlosen Drachmen ärmer dastehen als zuvor, während reiche Griechen, mit Geld im Ausland und Schulden im Inland, massiv profitieren würden. Das bisherige Krisenmanagement hat die Ungleichheit in Griechenland vertieft, ein Grexit würde diesen Graben zu einer tiefen Schneise machen.

 

++++++++++++ 21. Juni: Überall Risse ++++++++++++

Je näher der Höhepunkt der Verhandlungen am Montagabend rückt, desto deutlicher wird, dass Griechenland in den vergangenen fünf Jahren mehr verloren hat, als die Wirtschaftsdaten vermitteln. Zwischen Athen und seinen europäischen Partnern sind tiefe Risse entstanden. Das Vertrauen ist verlorengegangen, der gepflegte diplomatische Ton dahin. Ungeniert beschimpfen griechische Politiker ihre „sogenannten Partner“, sei es der „kriminelle IWF“, seien es die „plündernden Europäer“. Besonders aus Deutschland, dem Land, in dem die „Pleitegriechen“ erfunden wurden, wird mit ähnlicher Münze zurückgezahlt. Da zählt auch die Wahrheit nur wenig – so lange es dem eigenen Argument dient, werden falsche Zahlen verwendet.

Aber die Risse sind auch in Griechenland selbst sichtbar, zwischen den still demonstrierenden Bürgern, die für den Verbleib in Europa eintreten, und den Unterstützern der „dynamischen Verhandlungstaktik“ von Alexis Tsipras. Man beschuldigt sich gegenseitig entweder der „Kollaboration“ und Unterstützung weiterer Rentenkürzungen, oder der Gefährdung der europäischen Bindung des Landes.

Selbst wenn am Montag ein Ergebnis erreicht wird, werden diese Risse bestehen bleiben und das gesellschaftliche Miteinander in Griechenland und Europa prägen. Wer positiv denkt, kann dies als Beginn einer europäischen Öffentlichkeit interpretieren. Pessimisten sehen vielmehr die Renaissance des Nationalismus in Europa. Ein gesichtswahrender, klassisch europäischer Kompromiss für alle könnte am Montagabend richtungsweisend sein.

 

 ++++++++++++ 20. Juni: Enttäuschte Hoffnungen ++++++++++++

Die Unsicherheit in Griechenland und die Angst der Bevölkerung vor einem Grexit wachsen. Zwei Tage vor dem entscheidenden Gipfel in Brüssel, bei dem Griechenlands Zukunft in der Union und vielleicht das Bestehen des Euro auf der Agenda stehen, sind die Menschen verunsichert. Jeder erzählt Geschichten über angeblich leere Geldautomaten; einige beginnen mit Hamsterkäufen.

Die Sorge ist groß, dass Alexis Tsipras die Hoffnungen, die er mit seiner Wahl entfacht hat, enttäuscht. Dass es ihm nicht gelingt, Griechenland im Euro zu halten und doch das "Diktat der Sparpolitik" zu beenden. Das griechische Sprichwort dafür lautet: „Den Hund sattbekommen und trotzdem die komplette Pastete behalten.“ Eine nahezu unmögliche Aufgabe.

Abgesehen von den ökonomischen Folgen für Griechenland und die Eurozone birgt dieses Szenario eine tiefere, politische Gefahr. Das politische System Griechenlands ist tief erschüttert, das Vertrauen der Menschen in die Politik dahin, und Parteien gelten gemeinhin als Organisationen nahe der kriminellen Vereinigung. Trotzdem war es Tsipras und SYRIZA gelungen, Hoffnung auf Veränderung zu wecken und den Eindruck zu vermitteln dass es Politiker und Parteien gibt, die das Wohl der Menschen und nicht ihren eigenen Vorteil verfolgen. Sollte er nun am Montag scheitern, wird das Misstrauen der Griechen gegenüber Politikern, im Land und außerhalb, weiter wachsen, und es wird fraglich sein, wie das Land in Zukunft regiert werden soll – und von wem.

 

++++++++++++ 19. Juni: Politische Verhandlungen ++++++++++++

Es ist angerichtet für die politische Lösung des griechischen Problems. Ein Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs soll am Montag die letzte Gelegenheit darstellen, um noch eine Einigung zwischen Griechenland und seinen Partnern zu finden. Das ist ein erster Erfolg von Alexis Tsipras, der diese „politische Verhandlung“ – im Gegensatz zu technischen Gesprächen – von Beginn an forderte. Ein zweiter möglicher Erfolg geistert seit gestern Morgen durch die griechische Presse: Für die Erklärung des Rates soll eine belastbare Verpflichtung vorgesehen sein, sich des griechischen Schuldenproblems anzunehmen, wenn Griechenland im Gegenzug dazu die verlangten Reformen durchführt. Diese beiden Asse könnten Tsipras ausreichen, um das Paket der Eurogruppe mit leichten Veränderungen anzunehmen. Die „politische Verhandlung“ zeigt, dass Griechenland wieder am „Tisch der Großen“ sitzt und dort auf Augenhöhe verhandelt. Das ist nicht zu unterschätzen, denn „Würde“ und „Respekt“ sind zentrale Kategorien in der Regierungsrhetorik. Die Zusage einer längerfristigen Lösung der Schuldenfrage, vermutlich durch eine weitere Streckung der Kredite, wäre der substantielle Erfolg, auf den Griechenland seit November 2012 wartet. Mit einer solchen Perspektive könnte das Damoklesschwert des Grexit von der griechischen Wirtschaft genommen und gleichzeitig die innerparteilichen Kritiker eines Kompromisses besänftigt werden.

Ein Nachtrag zum gestrigen Post: Die Demonstration "Wir bleiben in Europa" war ein beeindruckendes Ereignis, bei dem Tausende aus der Mitte der Gesellschaft friedlich und ruhig für eine Einigung demonstrierten.

 

++++++++++++ 18. Juni: Angst und Vorsorge ++++++++++++

Es sind vertraute Bilder, die gestern aus Athen gesendet wurden: Tausende Bürgerinnen und Bürger hatten sich auf dem Syntagmaplatz versammelt, um die Regierung zu unterstützen. Unter dem Motto „Wir nehmen die Verhandlungen in die eigenen Hand und schaffen die Sparpolitik ab“ demonstrierten sie friedlich für eine Veränderung des Krisenmanagements.

Heute Abend werden sich am selben Ort die eher regierungskritischen Proeuropäer versammeln. Mit dem Slogan „Wir bleiben in Europa“ wollen sie die Sorge vor einem Scheitern der Verhandlungen an die Regierung vermitteln. Auch hier werden einige Tausende erwartet. Eine regierungsnahe Gegendemonstration der etwas anderen Art ist dazu wiederum in den sozialen Medien angekündigt worden. Die Organisatoren fordern satirisch eine „Griechische Europäische Union“: „Wir bleiben in Europa – alle anderen gehen raus.“

Dieser demonstrative Aktivismus wirkt wie das sprichwörtliche Pfeifen im Wald. Denn gleichzeitig nehmen die Bankabhebungen massiv zu. Während seit Ende November 2014 etwa 38 Milliarden Euro griechischer Bankeinlagen abgehoben wurden, schätzt man die Abhebungen der vergangenen zwei Tage auf etwa 1,75 Milliarden Euro. Damit erhöht sich der Bargeldumlauf auf etwa 45 Milliarden Euro. Die Menschen trauen weder den Politikern, noch dem Bankensystem, und haben Angst vor den kommenden Tagen. Man sorgt individuell vor.

 

 ++++++++++++ 17. Juni: Decoding Tsipras ++++++++++++

Gestern hat Alexis Tsipras eine Rede vor seiner Fraktion gehalten. In der deutschen Rezeption dominiert die Interpretation des „Konfrontationskurses“ (FAZ). Bei genauerem Hinsehen wird aber deutlich, dass der Parteichef – in dieser Funktion – eine durchaus proeuropäische Rede gehalten hat. Tsipras hat eine europäische Lösung der Krise gefordert und kein weiteres Vertagen in die Zukunft. Dabei hat er mehrere Leitlinien genannt: Griechenland brauche eine ökonomisch tragfähige und sozial verträgliche Perspektive. Die Krisenlasten müssten gerechter verteilt werden auf Steuerflüchtige und Oligarchen, statt auf Rentner und Arbeitnehmer. Zudem müsse mit einer Lösung der Schuldenfrage die Grexit-Debatte als Damoklesschwert von der Wirtschaft genommen werden. Dann könne die Regierung ihren Kampf gegen Steuerflucht, Korruption und Misswirtschaft fortsetzen. Eine solche  gemeinsame Lösung sich respektierender Partner würde die Werte Europas, Demokratie und Solidarität, widerspiegeln.

Gut, auch in diesem Bild darf der Bösewicht natürlich nicht fehlen. Das ist der IWF. Er wolle Griechenland seine Vorstellungen aufzwingen, indem er auf seinen gescheiterten Rezepturen beharre und die Schwachen belasten wolle. Ein vom IWF inspirierter Vorschlag werde daher vom griechischen Parlament abgelehnt werden.

Damit hat Tsipras seiner eigenen Partei noch einmal den europäischen Stempel aufgedrückt und gleichzeitig eine Kompromisslinie skizziert: Keine unmittelbare Kürzung niedriger Renten und Belastung von Niedrigverdienern. Der IWF rückt in den Hintergrund – und damit auch ein Deal für die Schuldentragfähigkeit.

 

++++++++++++ 16. Juni: Rentendebatte ++++++++++++

Die aktuell von Bosbach, Bild und FAZ angeheizte Debatte über das angebliche niedrige griechische Rentenalter von 56 Jahren verdrängt die ernsthafte Diskussion über das griechische Rentensystem. Fakt ist: Die Regierung Tsipras will die Rentenreform von 2010 rückgängig machen.

Die Reform beinhaltete zwei Bausteine: eine Basisrente von 360 Euro für alle und ein beitragsbasierter Rentenanteil mit einem Mindestsatz von 15 Tageslöhnen bei mehr als 15 Beitragsjahren. Mit der Reform war eine Vereinheitlichung der unterschiedlichen Rentenkassen in Griechenland verbunden. Allerdings wurden auf Bemühung der Regierung Papandreou die sogenannten „großzügigen“ Kassen ausgespart: Mediziner, Juristen, Ingenieure, Journalisten und Angestellte der Bank von Griechenland. Zudem wurden Privilegien der Uniformierten, der Angestellten der Staatsbetriebe und der Bankangestellten geschützt. Auch die Bauern wurden „verschont“. Sie erhielten eine Rente zu günstigeren Bedingungen. Die Ungerechtigkeiten des Systems und das fehlende Solidarprinzip blieben erhalten.

Derzeit erhält etwa die Hälfte der griechischen Rentner eine beitragsbasierte Zusatzrente. Diese Zusatzrente ist eine weitere Quelle der Ungerechtigkeit. Denn die Relationen zwischen Beiträgen und Auszahlungen sind überaus großzügig kalkuliert. Nicht zuletzt deswegen mussten die meisten dieser Kassen staatlich bezuschusst werden.

Auf Druck der Troika wurde 2012 ein Gesetz zur Reform des Systems erlassen. Nur: Es wurde nie implementiert. Das Gesetz sieht vor, dass die Rentenkassen vereinigt werden und keine Defizite mehr aufweisen dürfen. Dagegen nun wehrt sich die griechische Regierung, wie auch die Vorgänger. Sie schützt damit die betuchteren Rentner und verhindert eine gerechtere Verteilung zwischen Arm und Reich.