Die dezeit gültigen europäischen Fiskalregeln sind in den 1980er und 1990er Jahren entstanden, als man davon ausging, dass sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und das Beschäftigungsniveau mit Fiskalpolitik kaum beeinflussen ließen. Stattdessen galt Währungspolitik als Allheilmittel. Wir wissen nun schon seit einiger Zeit, dass dem nicht so ist. Die Regeln haben zudem bekanntermaßen das Manko, dass sie trotz aller guten Absichten prozyklisch wirken.

Nach den katastrophalen Folgen der Covid-Pandemie gilt es deshalb jetzt nicht nur, die Fiskalregeln zu ändern, sondern die neuen Regeln müssen auch durch ein System von Sicherungsmaßnahmen ergänzt werden, damit die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) auch im Falle systemischer Schocks intakt bleibt. Wie wir in unserer jüngsten Publikation darlegen, sind für eine Reform vier neue Entwicklungen zu berücksichtigen.

Neue Fiskalregeln der Wirtschafts- und Währungsunion müssen durch ein System von Sicherungsmaßnahmen ergänzt werden, damit sie im Falle systemischer Schocks intakt bleibt.

Erstens sind die Zinssätze heute viel niedriger als in den 1990er Jahren, als die bestehenden Regeln aufgestellt wurden. Trotz deutlich höherer Verschuldung ist deshalb der Anteil der Zinsausgaben am BIP in der Eurozone heute geringer. Angesichts der anhaltenden weltweiten Sparschwemme, in deren Folge die Realzinsen sinken, wäre daher eine höhere Staatsschuldenquote eine Zeitlang tragfähig.

Zweitens ist im Zuge der Pandemie die Schuldenquote in allen WWU-Mitgliedsstaaten beträchtlich gestiegen, sodass die im Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) verankerte 60-Prozent-Schwelle für viele Länder – die südeuropäischen Staaten, aber auch Frankreich, Belgien und Österreich – völlig unerreichbar ist, es sei denn, sie drosseln die Nachfrage und stürzen Europa erneut in eine Rezession.

Drittens steigt bei einem zyklischen Rückgang des BIP die Schuldenquote auch dann, wenn die Verschuldung nicht zunimmt. Die Forderung, dass die Staatsschuldenquote über einen langen Zeitraum beständig sinken müsse, ist daher völlig unlogisch. Dank des SWP können zwar für den Fall „außergewöhnlicher Umstände“ – wie der Finanzkrise 2008 oder der aktuellen Corona-Krise – die Regeln ausgesetzt werden, doch da die makroökonomischen Auswirkungen von Krisen über längere Zeit sehr asymmetrisch ausfallen können, wie etwa von 2011 bis 2014, ist die Anwendung eines einheitlichen Regelwerks schwierig, ja praktisch unmöglich.

Viertens liegen die Zinssätze seit fast einem Jahrzehnt nahe Null – ein klarer Hinweis auf die Schwächen geldpolitischer Maßnahmen für die Bewältigung weitreichender – auch symmetrischer – Schocks. Der verstärkte Einsatz fiskalpolitischer Maßnahmen zum Zwecke der Stabilisierung und die damit verbundenen externen makroökonomischen Effekte müssen sorgfältig abgewogen werden. Im Zuge der Pandemie hat sich gezeigt, dass die Volkswirtschaften der WWU-Mitgliedsstaaten künftig nur tragfähig sein können, wenn in den Staatshaushalten außerordentliche Mittel eingesetzt werden, und zwar keineswegs nur vorübergehend. Bis 2026 ist der Wiederaufbaufonds Next Generation Europe (NGEU) in Kraft, der die Zukunftsfähigkeit des Euro fördert, indem er die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu begrenzten Fremdkapitalkosten steigert. Und danach?

Die haushaltspolitischen Maßnahmen der Staaten müssen koordiniert und harmonisiert werden, damit die Eurozone einen ausgewogenen finanzpolitischen Kurs halten kann.

Mittlerweile sollte klar sein, dass eine Fiskalpolitik, die vollständig auf der Ebene einzelner Mitgliedsstaaten angesiedelt ist und einem Regelwerk unterliegt, das externe makroökonomische Effekte außer Acht lässt, keine Zukunft hat. Die Zeit, in der jeder „seine Hausaufgaben allein gemacht hat“, ist vorbei. Wie unter anderem Buti und Messori dargelegt haben, müssen die einzelnen haushaltspolitischen Maßnahmen der Staaten nicht nur kontrolliert, sondern auch koordiniert und harmonisiert werden, damit die Eurozone einen ausgewogenen finanzpolitischen Kurs halten und weitgehend verhindern kann, dass sich einzelne haushaltspolitische Maßnahmen durch externe makroökonomische Effekte negativ auf andere Mitgliedsstaaten auswirken.

An bestehenden föderalen Gebilden wie den USA lässt sich zudem beobachten, dass ein ausreichend großer und flexibler zentraler Haushalt die Voraussetzung für ein dauerhaft kleines und diszipliniertes Budget in den Mitgliedsstaaten ist. Sollten aus Next Generation Europe und insbesondere aus SURE, der vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Notlage, dauerhafte EU-Instrumente werden, fiele es den Mitgliedsstaaten leichter, Haushaltsauflagen politisch zu akzeptieren und zu kontrollieren. Dann würde der EU-Haushalt nämlich einen erheblichen Teil der makroökonomischen Stabilisierung übernehmen, die hauptsächlich aus Eigenmitteln der Staaten finanziert würde.

Wir sollten uns von der Illusion freimachen, in einem demokratischen Europa könnte oder sollte ein automatischer Algorithmus den sogenannten „politischen Ermessensspielraum“ ersetzen.

Wir sollten uns von der Illusion freimachen, in einem demokratischen Europa könnte oder sollte ein automatischer Algorithmus den sogenannten „politischen Ermessensspielraum“ ersetzen. Vorschriften können einen Rahmen für die technische Evaluierung der öffentlichen Finanzen in den verschiedenen Mitgliedstaaten ebenso vorgeben wie in der WWU insgesamt. Sobald allerdings eine Überführung der finanztechnischen Evaluierung in politische Entscheidungen ansteht, sollte die Zuständigkeit an die politisch verantwortlichen Institutionen übergehen. In der WWU liegt die politische Verantwortung bei den Regierungen der Mitgliedsstaaten. Sie müssen jedoch bereit sein, die Souveränität mit einer Institution zu teilen, welche die kollektiven Interessen der EU gewährleistet. Aus unserer Sicht kann das nur die Europäische Kommission sein. Für die technische Analyse und die Ausarbeitung von Leitlinien zur Umsetzung von Standards muss die Kommission selbstverständlich unabhängige finanztechnische Strukturen wie den Europäischen Fiskalausschuss (EFA) sowie die parlamentarischen Haushaltsbehörden der Mitgliedsstaaten hinzuziehen.

Wie Blanchard u.a. sind wir der festen Ansicht, dass die Tragfähigkeit der Staatsschulden im Zentrum stehen sollte. Damit wäre nicht nur ausgeschlossen, dass feste Ziele unterschiedslos für alle Mitgliedsstaaten gelten, sondern, was noch wichtiger ist, die Schuldentragfähigkeitsanalyse würde von nicht beobachtbaren Variablen wie dem potenziellen BIP-Wachstum und der Produktionslücke – der Abweichung des realisierten Bruttoinlandsprodukts vom Produktionspotenzial einer Volkswirtschaft – befreit, deren Analyse laufend (und retrospektiv) erfolgen muss.

Die Schuldentragfähigkeitsanalyse der einzelnen Mitgliedsstaaten sollte in regelmäßigen Abständen erfolgen und so konzipiert sein, dass die Wahrscheinlichkeit der Schuldentragfähigkeit bewertet wird. Dabei sind die spezifischen Kennzeichen eines jeden Staates in Bezug auf Wachstum, Bevölkerungsdynamik, Zinsentwicklung (und damit die Gesamtausgaben für den Schuldendienst) sowie aktuelle Haushaltspolitik und künftige Haushaltsplanung zu berücksichtigen.

Nach der Pandemie werden Resilienz und wirtschaftliche Erholung von Kapitalaufbau und -wachstum, insbesondere von menschlichem und sozialem Kapital, abhängig sein, die Ausgabenerhöhungen erforderlich machen.

Diese Art der Analyse ist alles andere als einfach und sollte daher von einem gestärkten Europäischen Fiskalausschuss (EFA) in Kooperation mit nationalen Institutionen durchgeführt werden. Sollte die Schuldentragfähigkeitsanalyse ergeben, dass die Schuldenlast mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht tragfähig sein wird, müsste die Kommission – auf Vorschlag des EFA – mit dem betroffenen Mitgliedsstaat ein mehrjähriges Defizitabbauprogramm vereinbaren, „um die Risiken der Schuldentragfähigkeit gegen die Kosten von Produktionsanpassungen abzuwägen“, mit dem ausdrücklichen Ziel, eine Schuldenkrise des betroffenen Mitgliedsstaats sowie der gesamten WWU zu vermeiden.

Bereits 2019 empfahl der EFA, im Falle eines Schuldenabbaus eine Primärausgaben-Obergrenze festzulegen, wobei eine vorab festgelegte Quote für Investitionsausgaben – die „goldene Regel“ – gewährleistet werden sollte. Jedoch stehen beispielsweise für die Energiewende massive und langfristige Investitionen an, die realistischerweise nicht durchgeführt werden können, wenn gleichzeitig in allen europäischen Ländern erhebliche Primärüberschüsse erzielt werden. Nach der Pandemie werden Resilienz und wirtschaftliche Erholung von Kapitalaufbau und -wachstum, insbesondere von menschlichem und sozialem Kapital, abhängig sein, die Ausgabenerhöhungen erforderlich machen. In den derzeitigen Buchführungssystemen würden diese Kosten als laufende Ausgaben ausgewiesen, doch sie sollten als Investitionsausgaben eingestuft werden. Ein Beispiel sind Aufwendungen für Gesundheit und Bildung. Eine Reform der europäischen Fiskalregeln und die Einführung der „goldenen Regel“ könnten, zumindest versuchsweise, mit einer geänderten Einstufung bestimmter Schlüsselausgaben einhergehen.

Aus dem Englischen von Anne Emmert