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Deutlicher hätte die Demütigung kaum sein können: Natürlich wolle sich die ungarische Regierung dem Aufruf zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anschließen, gab Justizministerin Judit Varga bekannt. 14 EU Mitgliedstaaten – darunter Deutschland – hatten in einer gemeinsamen Erklärung dazu aufgerufen, gerade in Zeiten der Krise „unsere europäischen Prinzipien und Werte hoch[zu]halten“. Das sollte als klare Ansage in Richtung Ungarn verstanden werden, wo die Regierung des Ministerpräsidenten Victor Orbán Anfang vergangener Woche in einem nie dagewesenen Ausmaß dem Parlament Macht entzogen hat und nun auf unbestimmte Zeit per Dekret regieren kann. Was bei dem Warnschuss der Mitgliedstaaten an Ungarn fehlte: die Nennung Ungarns. Orbán konnte also das hämische Manöver vollführen, sich kurzerhand der Erklärung anschließen zu wollen.

Diese Episode zeigt einmal mehr, wie gefährlich es ist, demokratiefeindliche, populistische Regierungen nicht klar in die Schranken zu weisen. Denn gerade in Zeiten von Corona verfolgen sie ihre perfide Strategie, die Macht auf allen Ebenen des politischen und gesellschaftlichen Systems an sich zu ziehen. Warum es so wichtig ist, dass die Europäische Union konsequent dagegen vorgeht, zeigt sich, wenn man die Strategie dieser populistischen Regierungen genauer unter die Lupe nimmt. Denn Orbán sieht sich mitnichten als Feind der Demokratie. Er verweist vielmehr darauf, dass in allen anderen Mitgliedstaaten die Exekutiven im Zeichen der Krisenbekämpfung Entscheidungskompetenzen an sich gezogen haben. Er könne sich jetzt nicht mit solchen kleinkarierten Vorwürfen auseinandersetzen, sondern müsse seine ganze Aufmerksamkeit auf die Bekämpfung der Pandemie legen.

Ein weiteres eklatantes Beispiel für diese Taktik der Normalisierung des Demokratiebruchs ist die PiS-geführte Regierung in Polen. Sie will mit aller Macht durchsetzen, dass die für Mai geplanten Präsidentschaftswahlen stattfinden. Ein Unding in Zeiten von Corona, denn außer dem Amtsinhaber und Kandidaten der PiS-Partei Andrzej Duda kann sich keiner der Mitbewerber im Land bewegen. Ein freier und fairer Wahlkampf ist derzeit unmöglich. Trotzdem beharrt die PiS auf der Wahl, die sie nunmehr per Brief durchführen lassen möchte. Dass damit Millionen Auslandspolen von der Wahl ausgeschlossen werden, kommt der PiS gelegen. Dass der Chef der polnischen Post eine Briefwahl unter den gegebenen Umständen für nicht durchführbar hält – ein Anlass für die PiS, ihn kurzerhand durch den Vize-Verteidigungsminister zu ersetzen. Dass eine entsprechende Änderung des Wahlgesetzes so kurz vor dem Wahltermin gegen die polnische Verfassung ist – für die PiS kein Grund innezuhalten. Denn sie hat nicht viel zu befürchten: Sie hat das Verfassungsgericht bereits mit ihr genehmen Richtern besetzt, genauso wie die Kontrollkommission beim Obersten Gericht, die die Wahl für ungültig erklären könnte.

Und worauf verweist die PiS, wenn ihr der Bruch mit europäischen Grundwerten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vorgeworfen wird? Auf die kürzlich teilweise per Briefwahl abgehaltene bayerische Kommunalwahl. Einmal mehr bedient sie ihr Narrativ: Die Europäer legten gegenüber Polen doppelte Standards an, was Polen tue, sei gängige europäische Praxis. Gerne verschweigen sie dabei, dass die bayerische Wahl verfassungsgemäß war und der Wahlkampf nicht zu Pandemiezeiten stattfand.

Auch in Zeiten der Krise muss die Gewaltenteilung funktionieren, muss die demokratische Praxis von „Checks and Balances“ gewahrt bleiben.

Die Versuchung, sich unter dem Deckmantel der Coronabekämpfung unbegrenzte exekutive Macht zu verschaffen und dabei Grundrechte und Demokratie auszuhebeln, ist groß. Die Debatte zur Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit exekutiver Befugnisse in Krisenzeiten wird zu Recht in vielen Ländern Europas geführt. Doch es ist wichtig, dass wir trennscharf unterscheiden zwischen Regierungen, die ihre oftmals schon vor der Krise ausgelebten autoritären Anwandlungen jetzt weiterdrehen und jenen, die legitimerweise bestimmte Exekutivbefugnisse zeitlich begrenzt und unter parlamentarischer Kontrolle ausweiten.

Gerade letzteres ist immens wichtig: Auch in Zeiten der Krise muss die Gewaltenteilung funktionieren, muss die demokratische Praxis von „Checks and Balances“ gewahrt bleiben. Wo nationale Regierungen dies in Frage stellen, muss die Europäische Union handeln. In Artikel 2 des EU-Vertrages wird klar dargelegt, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit integraler Bestandteil der Werte sind, auf die sich die EU gründet. In Artikel 10 des Vertrages ist festgehalten, dass sich die Regierungen der Mitgliedstaaten parlamentarischer Kontrolle unterwerfen müssen. Wenn Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt werden, dann wanken also auch die Grundfesten unserer Europäischen Union.

Was kann die EU-Kommission als Hüterin der Verträge jetzt tun? Zunächst muss sie, wie eingangs beschrieben, die Verstöße klar benennen und die betroffenen Staaten vor dem Europäischen Gerichtshof auf Vertragsverletzung verklagen. Der EuGH hat in der Vergangenheit bewiesen, dass er nicht zögert, bei Verstößen gegen europäisches Recht schnell zu handeln. Mit einstweiligen Anordnungen könnte der EuGH europarechtswidrige Gesetze unverzüglich aussetzen.

Das Narrativ der Populisten, sich mit ihrem Vorgehen auf dem Boden europäischer Werte zu bewegen, muss gebrochen werden.

Das Narrativ der Populisten, sich mit ihrem Vorgehen auf dem Boden europäischer Werte zu bewegen, muss gebrochen werden. Den Wählerinnen und Wählern in den betroffenen Staaten muss klar werden: Wenn sie sich für Orbán und Co. entscheiden, dann entscheiden sie sich gegen Europa. Die Bevölkerungen der betroffenen Staaten sind mehrheitlich pro-europäisch eingestellt. Trotz des nationalistischen Kurses ihrer Regierungen wollen sie weiter von den Vorteilen der europäischen Einigung profitieren. Ihre Regierungen finanzieren ihre finanziellen Wohltaten über europäische Fördergelder.

Das führt zum nächsten Punkt, an dem man europäische Grundwerte effektiv verteidigen kann: Wer gegen sie verstößt, dem müssen die EU-Fördermittel gekürzt werden. Momentan gibt es einen solchen Mechanismus noch nicht. Er muss erst im Zuge der Verhandlungen über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen beschlossen werden. Hier wird sich zeigen, wie ernst es den Mitgliedstaaten ist. Denn in ihrem letzten Entwurf zum EU-Budget wurde die von Kommission und Parlament geforderte Bindung von EU-Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien verwässert. Angesichts der Vorkommnisse in Zeiten von Corona ist das mehr als bedenklich. Das nächste EU-Budget wird voll auf die Überwindung der Krise ausgerichtet sein, so viel steht fest. Zur Überwindung der Krise gehört jedoch auch, dass wir in Zukunft robustere europäische Instrumente zum Schutz unserer Grundwerte haben.

Beides muss jetzt schnell geschehen: Ein entschiedenes Handeln der Europäischen Kommission und die Eröffnung finanzieller Sanktionsmöglichkeiten. Denn aus der Corona-Krise darf keine Krise der Demokratie in Europa werden. Nur wenn wir gerade in diesen herausfordernden Zeiten unter Beweis stellen, dass eine erfolgreiche Bewältigung der Pandemie und unser Modell einer liberalen Demokratie Hand in Hand gehen, werden wir die autoritären Verlockungen innerhalb und außerhalb der EU abwehren können.