Ministerpräsident Viktor Orbán hat Ungarns sechsmonatige EU-Ratspräsidentschaft mit diversen diplomatischen Aktionen eingeleitet, die für einen Schock bei den EU- und NATO-Partnern sorgten. Zunächst begab er sich nach Kiew zu seinem ersten bilateralen Treffen mit Präsident Wolodymyr Selenskyj seit dem vollumfänglichen russischen Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022. Mit Blick auf die bestehenden Differenzen zwischen den beiden Ländern gab es zwar keine greifbaren Ergebnisse, aber die Ukraine sagte zu, auf die ungarischen Bedenken bezüglich des Status der ungarischen Minderheit in Transkarpatien sowie der Behandlung ungarischer Unternehmen einzugehen. Diese Zusage nährte zumindest kurzfristig einen vorsichtigen Optimismus, dass es zu einer Annäherung und einer moderat-prowestlichen Wende in der ungarischen Außenpolitik kommen könnte.

Einige Tage später stattete Orbán jedoch Moskau einen überraschenden Besuch ab, der weder mit den EU- und NATO-Partnern noch mit der ukrainischen Führung abgestimmt war. Der Schritt zeigt, wie Orbán die EU-Ratspräsidentschaft missbrauchen kann, wie er vorgibt, im Namen der gesamten EU zu sprechen, wie er Verwirrung stiftet und der EU-Außenpolitik schadet. Gleichzeitig dienen und nutzen derartige Aktionen den Interessen Russlands und anderer illiberaler Rivalen des Westens.

In den EU-Verträgen ist klar geregelt, dass die Regierung, die den Ratsvorsitz innehat, die EU nicht nach außen vertritt. Dies ist das Vorrecht des Präsidenten des Europäischen Rates, der Präsidentin der Europäischen Kommission und des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Dennoch hat Orbán bei seinen bisherigen Reisen das Logo der ungarischen Ratspräsidentschaft verwendet, wiederholt auf seine derzeitige Position an der Spitze des Europäischen Rates angespielt und Russlands Präsident Wladimir Putin nicht widersprochen, als dieser beim Treffen erklärte, Orbán spreche in Moskau für die EU. Auch die russische Staatspropaganda nutzte Orbáns Besuch und seine Eigendarstellung, die perfekt zur Rhetorik des Kremls passt.

Orbán stellte seine Reise nach Moskau als nächste Etappe seiner „Friedensmission“ nach dem Besuch in Kiew dar. In Wirklichkeit brach er aber glasklar mit der EU-Position, nicht ohne die Ukraine über die Zukunft der Ukraine zu verhandeln – und hielt darüber hinaus den Russland-Besuch gegenüber Kiew geheim. EU-Ratspräsident Charles Michel, Kommissionschefin von der Leyen sowie der noch amtierende Hohe Außenvertreter Josep Borrell und seine Nachfolgerin Kaja Kallas kritisierten die Reise. Alle betonten, dass Orbán dafür kein EU-Mandat hat und dass die Ratspräsidentschaft nicht die EU nach außen repräsentiert.

Wie zu erwarten war, zeigt Orbán, dass er die Ratspräsidentschaft zum außenpolitischen Trollen nutzen will.

Orbán reiste von Russland weiter nach Aserbaidschan, um am informellen Gipfel der Organisation der Türkischen Staaten teilzunehmen. Aus EU-Sicht ist auch dieser Besuch heikel, da die territoriale Integrität und Souveränität Zyperns infrage gestellt werden könnte. Schließlich waren auch Vertreter der von der EU nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern anwesend. Diese Problematik wurde sowohl von Borrell als auch vom Ko-Vorsitzenden der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), Nicola Procaccini von den Fratelli d‘Italia, zur Sprache gebracht. Letzteres zeigt, dass sich nicht nur Orbáns Beziehungen zum EU-Mainstream verschlechtern, sondern auch die Verbindungen zur EKR-Fraktion und zu Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die vor den EU-Wahlen noch als Verbündete Orbáns galten.

Von Baku aus flog Orbán dann nach Peking, um den chinesischen Präsidenten Xi Jinping zu treffen. Vor Ort lobte er Chinas Engagement für einen Friedensschluss zwischen Russland und der Ukraine. Dabei überging er geflissentlich Xis Entscheidung, den Genfer Friedensgesprächen im Juni fernzubleiben. Von Peking aus reiste Orbán weiter zum NATO-Gipfel in die Vereinigten Staaten, wo er auch Donald Trump traf.

All das ist nur der Anfang. In den nächsten Monaten der ungarischen Ratspräsidentschaft dürfte es weitere nicht abgesprochene Besuche geben, bei denen Orbán die Positionen der EU missachtet und beschädigt – sei es bei Trump in den USA, bei Benjamin Netanjahu in Israel oder in Georgien und Moldawien, wo jeweils im Herbst heiß umkämpfte Wahlen anstehen.

Wie zu erwarten war, zeigt Orbán, dass er die Ratspräsidentschaft zum außenpolitischen Trollen nutzen will. Dabei geht es ihm nicht um oberflächliche Irritationen und ums Stören an sich, sondern er verfolgt eine Strategie. Angesichts der eigenen postkommunistischen Erfahrung hat Orbán offenbar verinnerlicht, dass der Untergang von Imperien und supranationalen Institutionen dann droht, wenn diese Institutionen anfangen, lächerlich zu wirken. Aus genau diesem Grund versucht er mit seinen Aktionen, die EU lächerlich zu machen.

Ein Entzug der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft war im vergangenen Jahr schon mehrfach diskutiert worden.

Mit seinem sprunghaften Verhalten und seiner mehrgleisigen Außenpolitik will Orbán demonstrieren, dass es keine Konsequenzen hat, wenn er wiederholt gegen EU-Regeln verstößt und EU-Positionen untergräbt. Damit hält er die Union intern und extern zum Narren, indem er aufzeigt, dass sie nicht in der Lage ist, die Einheit aufrechtzuerhalten und dass ein einzelner Mitgliedstaat sich wie die Axt im Walde aufführen kann, ohne dass dies negative Konsequenzen hätte. Daraus ergibt sich dann schnell die Frage: Warum sollten andere Länder wie Belarus, Georgien oder Serbien (um nur einige zu nennen) auf die EU hören?

Die wichtigste strategische Aufgabe der EU ist es nun, negative Konsequenzen für das Verhalten Orbáns zu schaffen. Im Moment sind dabei insbesondere die anderen Mitgliedsstaaten und der Europäische Rat gefordert, denn es wird noch Monate dauern, bis die neue Kommission und das neue EU-Parlament voll einsatzfähig sind. Darüber hinaus sind gerade die Reaktionen anderer Staaten für Orbán wichtig, der die supranationalen EU-Institutionen ohnehin verachtet.

Ein Entzug der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft war im vergangenen Jahr schon mehrfach diskutiert worden. Im Juni 2023 verabschiedete das Europäische Parlament sogar eine Entschließung, in der es die Fähigkeit des Landes infrage stellte, die Aufgaben des Ratsvorsitzes konstruktiv und redlich zu erfüllen. Die Meijers-Kommission, eine angesehene Juristenorganisation in den Niederlanden, hat nun einen legalen Weg aufgezeigt, wie Orbán die Ratspräsidentschaft entzogen werden kann.

Demnach könnten die anderen Mitgliedstaaten die ungarische Ratspräsidentschaft verkürzen und den Start der folgenden polnischen Ratspräsidentschaft vom 1. Januar 2025 auf den 1. September (oder noch früher) vorziehen. Parallel dazu sollten sie die erste Phase des Verfahrens nach Artikel 7 gegen Ungarn abschließen, um einen solchen Bruch mit dem in den EU-Verträgen verankerten Prinzip der „gleichberechtigten Rotation“ des Ratsvorsitzes zu rechtfertigen.

So müsste der EU-Ratspräsident auf der Grundlage von Artikel 236 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union einen Antrag auf Änderung des Turnus der Ratspräsidentschaft stellen. Die Mitglieder des Europäischen Rates könnten dann durch eine einfache Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit den Beginn der polnischen Präsidentschaft auf August oder September vorverlegen.

Die Mitgliedsstaaten müssen umgehend handeln.

Für das Verfahren nach Artikel 7 müssten die Mitgliedstaaten einen Antrag an das Ratssekretariat stellen, um eine Abstimmung aufgrund der „eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der EU-Werte in Ungarn gemäß Artikel 7 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung des Rates „Allgemeine Angelegenheiten“ zu setzen. Für einen entsprechenden Beschluss braucht es eine Vier-Fünftel-Mehrheit.

Beide Initiativen sollten idealerweise von den Schwergewichten Frankreich, Deutschland und Polen angeführt und von einer möglichst großen Gruppe von Mitgliedsstaaten mitgetragen werden, insbesondere von den baltischen Staaten sowie Ländern aus Mittel- und Osteuropa wie Tschechien, Rumänien und Slowenien.

Die Mitgliedsstaaten müssen umgehend handeln, denn sie werden wohl nie mehr eine bessere Gelegenheit bekommen: Im rechtsradikalen Spektrum ist die Beziehung zwischen Meloni und Orbán angespannt, da die neue Fraktion des ungarischen Regierungschefs, die sogenannten „Patrioten für Europa“, aktiv EKR-Mitglieder abwirbt. Darüber hinaus dürften bei den anstehenden Wahlen in Österreich und Tschechien weitere Verbündete Orbáns an die Macht kommen.

Wenn sie eine angemessene Antwort auf Orbáns Trollen und seine Verhöhnung der EU geben wollen, könnten die Mitgliedsstaaten die ungarische Ratspräsidentschaft innerhalb weniger Wochen beenden. Alles, was es dazu braucht, ist gute Diplomatie und Mehrheitsfindung im Europäischen Rat.

Die jüngsten Ereignisse, die Realität, widerlegen die Experten, die zuvor noch behauptet hatten, Ungarns Ratspräsidentschaft könne der EU nur sehr begrenzten Schaden zufügen. Derweil müssen sich diejenigen, die weiter auf ein halbes Jahr Aussitzen und Durchwurschteln pochen, auf weitere Aktionen Orbáns wie die der letzten Tage einstellen.

Aus dem Englischen von Tim Steins