Vor fast einem Jahr forderte eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern und politischen Aktivistinnen in einer öffentlichkeitswirksamen Kampagne, die Europäische Zentralbank (EZB) solle die Staatsschulden aus ihrer Bilanz streichen. Im Februar 2021 veröffentlichte diese Gruppe nun einen offenen Brief mit prominenten Unterzeichnern wie dem französischen Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, dem früheren EU-Kommissar László Andor und dem Parteichef der belgischen Sozialisten, Paul Magnette. Dieser Brief bekam in der Medienberichterstattung und in der öffentlichen Diskussion so großes Gewicht, dass die EZB öffentlich Position dagegen beziehen musste.
In dem offenen Brief argumentiert die Gruppe, die Zentralbanken unternähmen nicht genug, um die Investitionstätigkeit anzukurbeln und den Klimawandel zu bekämpfen. Außerdem führten zu hohe Staatsschulden dazu, dass die Regierungen weniger Spielräume hätten, um eine gerechtere und ökologisch nachhaltigere Gestaltung der Gesellschaft zu fördern. Die EZB hält rund 25 Prozent der öffentlichen Schulden ihrer Mitgliedsländer. Würde sie diese Schulden – so der Vorschlag – komplett erlassen, würde sie damit „ohne irgendjemandem zu schaden“ die Schuldenlast der Staaten mindern und ihnen die Möglichkeit geben, über neue Anleihen Geld auf dem Kapitalmarkt einzusammeln und in eine umweltfreundliche Wirtschaft zu investieren.
Auf den ersten Blick mag der vorgeschlagene Schuldenerlass verlockend erscheinen. Doch in Wahrheit nährt der Vorschlag eine gefährliche Illusion: die Illusion, dass ein handfestes politisches Problem sich mit einer kleinen technokratischen Lösung beheben ließe. Denn der Vorschlag verfestigt durch das Festhalten am Fetisch der Staatsschuldenquote die Vorstellung, Staatsschulden seien per se ein Problem, und übersieht außerdem, wie eng die Staatsschulden und das Zentralbankwesen mit der privaten Finanzwirtschaft verflochten sind. Und er zieht politisches Kapital vom Globalen Süden ab, der tatsächlich darauf angewiesen ist, dass seine ausländischen Gläubiger ihm die Staatsschulden erlassen.
Mit anderen Worten: Die Befürworter eines Schuldenerlasses machen sich offenbar nicht bewusst, dass ihr Vorschlag auf die Zementierung des Status Quo hinausläuft. Wer von öffentlichen Institutionen gehaltene Schulden streicht, um private Investoren zu beruhigen, betreibt aus unserer Sicht das Gegenteil einer progressiven Agenda, die nämlich anstreben sollte, die Staatsfinanzen vom Diktat der privaten Investoren zu befreien.
Die Befürworter eines Schuldenerlasses machen sich offenbar nicht bewusst, dass ihr Vorschlag auf die Zementierung des Status Quo hinausläuft.
Das Plädoyer für einen Schuldenerlass basiert auf der Annahme, private Anleger seien darauf erpicht, den Mitgliedstaaten Geld zu leihen, nachdem die EZB kurz zuvor die von ihr übernommenen Staatsanleihen abgeschrieben hat. Dabei wird übersehen, wie eng in der heutigen makrofinanziellen Architektur des Euroraums öffentliche und private Akteure miteinanderverflochten sind. In ihren Auffassungen über Kreditwürdigkeit, Disziplin und Strukturreformen sind private und öffentliche Gläubiger sich einig.
Im öffentlichen Sektor sind die fiskalpolitische Überwachung und die Notkreditprogramme, die zu den Steuerungsmechanismen der europäischen Gemeinschaftswährung gehören, das Pendant zur privatwirtschaftlichen Marktdisziplin. Die Machtverhältnisse, die diesen Steuerungsmechanismen eingeschrieben sind, bedeuten, dass ein Schuldenerlass kein buchhalterischer Vorgang ist, der niemandem wehtut. Private Investoren haben sich daher auch bereits gegen jede Art von Schuldenerlass ausgesprochen. Diese ablehnende Haltung könnte zu höheren Risikoaufschlägen für Staatsanleihen führen, die das, was mit einem Schuldenerlass zu gewinnen wäre, zu neutralisieren drohen.
Ehe man daran denkt, die von einer öffentlichen Institution gehaltenen Verbindlichkeiten aus den Büchern zu streichen, sollten deshalb die Regierungen vor allem zuverlässig dafür sorgen, dass ihre Finanzministerien nicht von den Glaubenssätzen, dem Appetit und den politischen Wünschen privater Anleger abhängig sind.
Die Befürworter eines Schuldenerlasses durch die EZB räumen ein, dass dessen unmittelbare wirtschaftliche Folgen überschaubar wären (da es sich im Wesentlichen um einen buchungstechnischen Vorgang handelt), aber sie versprechen sich davon einen „Gründungsmoment“, der kraft seiner Symbolwirkung die Europäische Union zu einer ökologisch nachhaltigeren Wirtschaft hinlenken würde.
In ihren Auffassungen über Kreditwürdigkeit, Disziplin und Strukturreformen sind private und öffentliche Gläubiger sich einig.
In diesem Zusammenhang verweisen die Verfechter eines Schuldenerlasses gern auf die Londoner Konferenz von 1953. Damals erließen die Alliierten Westdeutschland zwei Drittel seiner Auslandsschulden – aus ihrer Sicht ein Schlüsselmoment für den Wiederaufbau Europas nach dem Krieg. Es stimmt, dass das in London unterzeichnete Abkommen positive Auswirkungen für die deutsche Wirtschaft hatte, weil der Schuldendienst sich verringerte. Aber es war kein Gründungsmoment, der bei der politischen Klasse einen Sinneswandel im Hinblick auf die staatliche Verschuldung bewirkt hätte. Auch waren an dem Schritt damals keine Zentralbanken beteiligt.
Der Schuldenerlass geschah im Kontext von Kaltem Krieg und wirtschaftlichem Wiederaufbau und baute auf dem politischen Konsens auf, dass staatliche Investitionen eine höhere Priorität haben als die Finanzmärkte und dass Staatsschulden die Handlungsmöglichkeiten von Regierungen nicht einschränken. Die Länder, die den 1944 gegründeten Bretton-Woods-Institutionen beitraten, brauchten noch nicht einmal ihre Staatsschuldenstatistiken vorzulegen. Für die USA war der Wiederaufbau Westdeutschlands eine vordringliche Aufgabe im Kalten Krieg, und der Schuldenerlass fiel im Vergleich zu dem, was die USA damals für Verteidigung in Westeuropa ausgab, wenig ins Gewicht.
Das Londoner Abkommen von 1953 war keine technokratische Lösung mit transformativer Wirkung, sondern der Nebeneffekt eines grundsätzlicheren politischen Wandels, der die privaten Finanzmärkte dem Bedarf nach kreditfinanzierten öffentlichen Investitionen unterordnete. In diesem Prozess war das Abkommen nur eine Maßnahme unter vielen. Die makrofinanzielle Architektur der Bretton-Woods-Ära mit ihrem „eingebetteten Liberalismus“ wies marktgängigen Staatsschuldtiteln, wie wir sie heute kennen, nur eine marginale Rolle zu und institutionalisierte den Primat des öffentlichen Sektors gegenüber Währungs- und Kreditfragen. Ermöglicht wurde dies durch eine Verlagerung der politischen Macht von Staatsmanagern, die die Interessen der Finanzwirtschaft vertraten, zu Staatsmanagern, die im Wählerauftrag von Gewerkschaftsführern und Unternehmern handelten.
Relevanter für die aktuelle Diskussion wäre ein anderes Beispiel aus der Geschichte. Dafür müssen wir in das Jahr 1928 zurückblicken. Genau betrachtet war das, was in jenem Jahr in Frankreich geschah, anders als das Londoner Abkommen von 1953 tatsächlich ein historischer Präzedenzfall für den Erlass von Staatsschulden durch eine Zentralbank. Nach dem Ersten Weltkrieg hielt die Banque de France einen großen Teil der Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit, was als inflationär angesehen wurde. Der Wirtschaftsstabilisierungsplan von 1928 beinhaltete ein neues Währungsgesetz und eine Abwertung des Franc. Durch die Abwertung des Franc erhöhte sich der Gegenwert der Goldreserven der Zentralbank (in Francs). Diese Werterhöhung wurde verwendet, um einen Teil der von der Zentralbank gehaltenen Staatsschulden zu streichen. In den Aktiva der Zentralbank trat das neu bewertete Gold also an die Stelle der erlassenen staatlichen Schulden.
Dass ein solcher Schuldenerlass den Grundstein für eine neue makrofinanzielle Ordnung legt, ist weniger wahrscheinlich.
Dieses Maßnahmenpaket (Abwertung, neues Währungsgesetz und Senkung der Staatsverschuldung) war tatsächlich ein transformativer und nicht bloß progressiver Moment. Frankreich kehrte zum Goldstandard zurück. Für wenige Jahre wirkte die 1928 erreichte Stabilisierung positiv auf die französische Wirtschaft, aber als 1930 die Weltwirtschaftskrise zuschlug, stürzten die Regeln des Goldstandards das Land in eine schwere und lang anhaltende Deflation.
Wir leben nicht im Jahr 1928, aber das Beispiel zeigt: Wenn sich nicht zunächst etwas daran ändert, wie Staatsschulden auf den Finanzmärkten gehandelt und von Staatsmanagern und der politischen Klasse wahrgenommen werden, dürfte ein Schuldenerlass durch die Zentralbank eher dazu führen, dass die neoliberale Fiskalorthodoxie sich noch mehr verfestigt. Dass ein solcher Schuldenerlass den Grundstein für eine neue makrofinanzielle Ordnung legt, ist weniger wahrscheinlich. Das Londoner Abkommen von 1953 zeigt: Schuldenerlasse sind keine technische Frage, die man vom Kontext abkoppeln könnte. Bevor man die Schulden unschädlich macht, muss das gesamte Gefüge von Schuldenmanagement, Finanzregulierung, Staatsfinanzierung und Fiskalregeln verändert werden. Sonst bewirkt ein Schuldenerlass das Gegenteil von dem, was seine Befürworter ursprünglich erreichen wollten.
Wenn ein solcher Schuldenerlass durch die EZB nicht mit radikalen politischen Veränderungen der Schuldenregeln und Steuervorschriften einhergeht, besteht die Gefahr, dass er den Fiskalkonservativen in die Hände spielt. Die EZB würde aufhören, Staatsanleihen zu kaufen, und die Regierungen müssten wohl oder übel die finanzpolitischen Zügel straffen. Überdies würde der Schuldenerlass im kleinen Kreis von EZB, Europäischem Rat und EU-Kommission ausgehandelt, sodass jede Möglichkeit einer öffentlichen, demokratischen Diskussion über das makrofinanzielle Gesamtgefüge und die Rolle, die die Zentralbank in diesem Gefüge spielt, ausgeschlossen wäre.
Ohne einen tiefgreifenden Wandel droht ein Schuldenerlass durch die EZB uns in die Situation vor 2008 zurückzubefördern, als es in Europa keine Vergemeinschaftung von Schulden gab – in ein Europa mit verschärften finanzpolitischen Regeln und Schuldenobergrenzen, in dem die EZB nicht als „lender of last resort“ auf dem Staatsanleihenmarkt fungierte. Lieber sollten wir die EZB von ihrer Rolle als bloßes Auffangnetz für die Finanzmärkte und die Regierungen von ihrer Rolle als bloße Sicherheitenbesteller für das Schattenbankensystem befreien.
Zwanzig Jahre lang sollten die Gesellschaft und die „aufgeklärte Öffentlichkeit“ mit Hilfe von Strukturreformen so umgekrempelt werden, dass sie mit der im Maastricht-Vertrag festgeschriebenen makrofinanziellen Architektur kompatibel sind. Das hatte wirtschaftliche und politische Folgen, die schlimmer kaum sein könnten. Es ist höchste Zeit, die Energie, die bisher in den Strukturreformeifer gesteckt wurde, auf ein anderes Ziel zu lenken und umgekehrt die makrofinanzielle Architektur so umzubauen, dass sie mit wirtschaftlicher und politischer Demokratie vereinbar ist.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld