Europa steht vor großen Herausforderungen. Die Fundamente, auf denen die Europäische Union ihren Frieden und ihren Wohlstand aufgebaut hat, sind ins Wanken geraten. Die europäische Wirtschaft ist dem zunehmenden globalen Wettbewerb nicht gewachsen, geopolitische Instabilitäten nehmen zu, und die Abhängigkeiten der EU haben sie anfällig werden lassen. Doch wie soll die EU mit diesen (neuen) Realitäten umgehen? Um auf diese drängende Frage eine Antwort zu finden, hat die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, den ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi mit der Aufgabe betraut, Leitlinien für eine nachhaltige und wettbewerbsfähige Europäische Union aufzustellen.

Draghi fand deutliche Worte, als er am Montag seinen Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit vorstellte: Es ist Zeit zu handeln. Entweder machen wir uns an die Arbeit, oder wir geben die EU einer „langsamen Agonie“ preis. Als Präsident der Europäischen Zentralbank gelang es Draghi, den Euro zu retten – mit einer klaren Botschaft gegen Finanzmarktspekulationen. Jetzt legt er auf 400 Seiten seine Vision einer nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Europäischen Union vor und bezeichnet die darin enthaltenen Maßnahmen als konkret und dringend. Allein schon die Fülle an Vorschlägen macht deutlich, dass es auf Europas vielschichtige Problemlage keine einfache Antwort gibt. Aber die Publikation kann – und sollte – ein Weckruf sein.

„Wir können nicht gleichzeitig führend bei neuen Technologien, ein Leuchtturm der Klimaverantwortung und unabhängiger Akteur auf der Weltbühne sein. Wir werden unser Sozialmodell nicht finanzieren können. Wir werden einige, wenn nicht sogar alle unsere Ambitionen zurückstecken müssen.“ Draghi führt eine Reihe von Wirtschaftsindikatoren als Belege für etwas an, das allgemein bekannt ist: Die EU hinkt hinterher und kann sich nicht mehr auf ein günstiges globales Umfeld verlassen. Die niedrige Produktivität hat das Reallohnwachstum schrumpfen lassen und das Gefälle zwischen EU und USA beim BIP-Niveau (zu konstanten Preisen) in der Zeit von 2002 bis 2023 von 17 Prozent auf 30 Prozent vergrößert.

Was die EU braucht, sind schließlich keine neuen Belege dafür, dass sie hinterherhinkt, sondern die politische Bereitschaft, Veränderungen durchzusetzen.

Für das Europäische Parlament und die Kommission kommt der Bericht zu Beginn der neuen Legislaturperiode genau zum richtigen Zeitpunkt, denn er kann den neu gebildeten Institutionen als To-do-Liste dienen. Von der Leyen ist gerade dabei, die Aufgaben der neuen Kommissare zu formulieren, und es steht fest, dass es einen eigenen Kommissar für Wettbewerbsfähigkeit geben wird. Wie – und ob – die konkreten Vorschläge in die Tat umgesetzt werden, bleibt allerdings abzuwarten. Was die EU braucht, sind schließlich keine neuen Belege dafür, dass sie hinterherhinkt, sondern die politische Bereitschaft, Veränderungen durchzusetzen.

Draghis Bericht ist ein Plädoyer für eine echte europäische Industriepolitik, die Wettbewerbs- und Handelspolitik miteinander verzahnt. Die neue industriepolitische Strategie stützt sich auf drei Säulen – Innovation, Dekarbonisierung und Sicherheit – und umfasst ein breites Spektrum von Industriezweigen, von der Automobil- und Computerbranche bis zur Pharma- und Rüstungsindustrie, um nur einige zu nennen. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass die Industriepolitik in den Mitgliedstaaten und sogar innerhalb der EU-Institutionen fragmentiert ist und kohärenten Strategien im Wege steht.

Das umfangreiche Maßnahmenpaket betrifft auch den Handel und die wirtschaftliche Sicherheit. Draghi sieht die EU auf dem richtigen Weg, zum Beispiel mit ihrer Strategie für Wirtschaftssicherheit oder ihren Bemühungen, im Interesse der Versorgungssicherheit ihr Netz an bilateralen und Präferenzhandelsabkommen weiter auszubauen – vor allem mit rohstoffreichen Ländern. Darüber hinaus wünscht er sich ein Umdenken: Statt „pauschaler Einstellungen in Handelsfragen“ brauche es „sorgfältige Einzelfallanalysen“, um die Handelspolitik der EU voll und ganz mit ihrer Industriepolitik in Einklang zu bringen. Das gilt auch für den Einsatz von Defensivmaßnahmen und den Grad der Offenheit gegenüber Handelspartnern in bestimmten Sektoren. Außerdem sollten solche Maßnahmen mit dem übergeordneten Ziel der Produktivitätssteigerung in der EU Hand in Hand gehen.

Wenn die EU in der nächsten Legislaturperiode Handelsabkommen abschließen will, muss sie weniger reden und mehr zuhören.

Die Abkommen der vergangenen Jahre haben jedoch eines gezeigt: Staaten warten nicht auf die Europäische Union, und die EU ist nicht mehr ihr einziger Handelspartner. Die Lieferketten müssen natürlich gesichert werden, aber das ist nicht möglich ohne ein attraktives Angebot. Dazu gehören auch entsprechende Investitionen in den Partnerländern. Die Sorgen und Anliegen der Partnerländer sind bekannt, angefangen beim besseren Marktzugang bis zur Industrieentwicklung und Wertschöpfung im eigenen Land. Wenn die EU in der nächsten Legislaturperiode Handelsabkommen abschließen will, muss sie weniger reden und mehr zuhören.

Zum Thema Verteidigung enthält Draghis Analyse wenig Neues. Die europäische Rüstungsindustrie ist zu stark fragmentiert, um den durch Russlands Angriff auf die Ukraine entstandenen Kapazitäts- und Innovationsbedarf zu befriedigen. Um diesen kurzfristigen Bedarf zu decken, geben die europäischen Mitgliedstaaten ihre Mittel zunehmend für Auftragsvergaben außerhalb der EU aus, statt in die europäische Verteidigungsindustrie zu investieren. So wird die Chance vertan, Ressourcen zu bündeln und eine technologische und industrielle Basis der europäischen Verteidigung (EDITB) zu konsolidieren.

Um Strukturschwächen abzubauen, plädiert Draghi für die Umsetzung der im März dieses Jahres veröffentlichten Europäischen Industriestrategie für den Verteidigungsbereich (European Defence Industrial Strategy, EDIS) und des Programms für die EU-Rüstungsindustrie (European Defence Industrial Programme, EDIP). Langfristig spricht er sich – im Interesse der Standardisierung und Interoperabilität und zur Erzielung von Größenvorteilen – für eine grenzüberschreitende Integration im Rüstungssektor aus. Fraglich ist jedoch, ob die Mitgliedstaaten bereit und gewillt sind, ihre nationalen Unternehmen für die Konsolidierung der industriellen Verteidigungsbasis der EU aufzugeben. Um mehr Mittel für den Verteidigungssektor zu generieren, rät Draghi, die von der Europäischen Investitionsbank und der EU-Taxonomie vorgegebenen Beschränkungen aufzuheben – ein Vorschlag, der zeigt, dass dieser Bericht nicht vor provokativen Vorstößen zurückscheut.

Es muss eine völlig neue Form der Zusammenarbeit geben.

Zu den besonders kontroversen Themen des Berichts gehört die Finanzierung: Um die darin genannten Ziele zu erreichen, braucht es zusätzliche Investitionen von mindestens 750 bis 800 Milliarden Euro pro Jahr. Das sind mindestens 4,4 Prozent des BIP der Europäischen Union. Zum Vergleich: Die Investitionen im Rahmen des Marshallplans beliefen sich auf ein bis zwei Prozent des BIP in den Empfängerländern. Dieser Finanzbedarf lässt sich nicht allein mit Privatkapital decken; die Stärkung der Kapitalmarktunion wäre nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Laut Draghi muss als nächster Schritt unbedingt die Emission gemeinsamer Schuldtitel folgen – aufbauend auf den Erfahrungen mit dem Wiederaufbaufonds Next Generation EU. Dafür müssen die Finanzminister bereit sein, die Integration weiter voranzutreiben und in die Zukunft der Union zu investieren.

Es muss eine völlig neue Form der Zusammenarbeit geben. Kann Draghis Vision ein Weckruf sein? Jubel ist in den Mitgliedstaaten seit der Veröffentlichung des Berichts bislang nicht ausgebrochen. Das mag verständlich sein, denn die politische Koordinierung auf EU-Ebene verlangt von den Mitgliedstaaten, dass sie einen Teil ihrer Macht abtreten. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben. Ursula von der Leyen wird ihren Vorschlag für die Ressorts und die Zusammensetzung der neuen Kommission am kommenden Dienstag dem Europäischen Parlament in Straßburg vorstellen. Draghis Bericht ist eine Einladung an die Regierenden. Am Ende bleibt es jedoch den Mitgliedstaaten überlassen, welchen Weg sie einschlagen wollen: Reformen und weitere Integration – oder der langsame und stetige Niedergang Europas.

Aus dem Englischen von Christine Hardung