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Sie haben vor kurzem Ihr neues Buch veröffentlicht: „Plattform Europa. Warum wir schlecht über die EU reden und wie wir den Nationalismus mit einem neuen digitalen Netzwerk überwinden können“. Warum ist der Leumund der Europäischen Union so schlecht?

Die öffentliche Debatte über Europa war in den letzten Jahren in einem Teufelskreis aus Krise, News und Nationalismus gefangen. Krisen waren in den letzten Jahren in Europa immer Konflikte zwischen einzelnen oder verschiedenen Mitgliedsstaaten, also eigentlich innereuropäische Konflikte, keine Konflikte von Europa nach außen. Und Konflikte an sich sind ein Nachrichtenwert. Wenn es Konflikte gibt, dann berichten die Medien gerne darüber. Eine Korrespondentin von Sky News Italien hat einmal gesagt: If it bleeds it leads – über die Berichterstattung aus Brüssel, wohlgemerkt, nicht über Berichterstattung allgemein. Also, um überhaupt ein Interesse an europäischer Politik zu erzeugen, muss Konflikt drin sein.

Und diese Konlikte befördern den Rückgriff aufs Nationale?

Die Berichterstattung gerade über diese Konflikte brachte immer auch eine Form der Kulturalisierung mit sich. Es wurde nicht nur allein über Sachfragen wie Kreditprogramme oder die Verteilung von Flüchtlingen gesprochen, es wurden auch immer Auf- und Abwertungen unter den Nationen vorgenommen. Wir kennen noch die Stereotype über Griechenland oder andere südeuropäische Länder aus der Euro-Krise. In der Migrationsdebatte hat sich dieser Diskurs dahingehend erneuert, dass manche Länder nicht solidarisch genug waren oder Deutschland eine Form von Moralisierung vorgeworfen wurde. Konflikte über Sachfragen wurden also immer sehr stark über nationale Stereotype begründet. In den Befragungen des Euro-Barometers lässt sich klar erkennen, dass in den betroffenen Ländern wie Griechenland, Portugal und Spanien in der Zeit der Krisendiskurse das Nationalbewusstsein, die Verbundenheit mit der Nation zu- und die Verbundenheit mit der EU abgenommen hat. Das gleiche haben wir noch einmal in der Migrationsdebatte mit den VisegradStaaten gesehen.

Trotzdem argumentieren Sie, das Internet sei für die europäische Demokratie wie gemacht. Warum?

Das Internet ist ein grenzenloser Kommunikationsraum. Wir haben vor dem Internet Medien gehabt wie die Zeitungen und das Radio, die immer sehr stark an nationale Grenzen und nationale Öffentlichkeiten gebunden waren. Mit dem Internet haben wir jetzt zum ersten Mal einen Kommunikationsraum, der wirklich völlig unabhängig von nationalen Grenzen funktionieren kann. Das Internet bringt ob der eigenen Struktur und Technologie gute Voraussetzungen für eine Form der transnationalen Kommunikation mit. Es gab ja schon immer das Argument: Europa braucht eine Öffentlichkeit und ein europäisches Medium. Es gab entsprechende Versuche in den klassischen Medien, beispielsweise Euronews oder Arte. Das hat alles nie so richtig funktioniert. Aber im digitalen Raum hat man meines Erachtens bisher nie einen vergleichbaren Versuch gewagt.

Gibt es dafür Vorbilder? Am weitesten gediehen ist ja bisher die globale Vernetzung der Rechtspopulisten…

Ja. Ich würde sogar argumentieren, dass die Akteure, die am ehesten so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit bisher erzeugt haben, rechtspopulistische Akteure sind. Ausnahmen sind noch einige zivilgesellschaftliche Akteure bei einzelnen Themen. Wir haben eine große Mobilisierung gegen TTIP gesehen. Wir sehen auch eine große europäische Mobilisierung derzeit zur EU-Urheberrechtsreform. Wenn Interessengruppen zu spezifischen Themen mobilisieren wollen, dann schaffen sie es in Europa auch. Aber der Rechtspopulismus hat das eben auch geschafft – und noch dazu in einem hohen Maße.

Man hat das bei der Debatte um den UN-Migrationspakt gesehen. Da ist im Grunde eine kommunikative Welle durch verschiedene europäische Länder geschwappt, ausgehend von Österreich, wo in rechtspopulistischen Alternativ-Medien sehr stark gegen den UN-Migrationspakt getrommelt wurde. Und das ist später über die rechtspopulistischen Medien in Deutschland auch in den Mainstream gekommen. Die europäischen Rechtspopulisten kommen einer europäischen Öffentlichkeit manchmal schon sehr nahe. Sie nutzen die digitalen Kommunikationsstrukturen am effizientesten zu ihrem Vorteil und für ihre Strategien.

Wie sieht es bei den traditionellen Parteien und Institutionen aus?

Man sieht einen deutlichen Unterschied zu etablierten und institutionellen Akteuren wie den traditionellen Parteien. Die haben bislang das Internet eher stiefmütterlich behandelt; das war zum Teil ein lästiger Zusatzkanal für die Kommunikation, man hat sich immer sehr stark auf die klassischen Medien bezogen, wo man auch einen institutionellen Zugang hatte, man denke nur an die Bundespressekonferenz. Man sieht auch auf europäischer Ebene, dass die etablierten Akteure das ein bisschen verschlafen haben, inklusive der europäischen Institutionen. Die Rechtspopulisten sind da weiter.

Ist eine der Wurzeln des aufstrebenden Nationalismus in Europa tatsächlich schlicht und ergreifend die schlechte Kommunikation?

Ich würde eher sagen: Kritik und Unbehagen gegenüber den europäischen Institutionen entsteht auch dadurch, dass wir keinen europäischen Kommunikationsraum haben. Es ist in der Praxis nicht einfach, sich an die europäischen Institutionen zu wenden, was mit Hilfe von digitaler Technologie mittlerweile sehr viel einfacher sein könnte. Aber diese Potenziale werden wenig genutzt. Das ist ein Grund dafür, dass das Unbehagen gegenüber den europäischen Institutionen relativ groß ist, weil die EU etwas sehr Abstraktes für die meisten ist. Man hat auch nie ernsthaft versucht, die geografische Distanz mit den digitalen Möglichkeiten der Kommunikation zu überwinden. Das ist ein Versäumnis.

Kritik und Unbehagen gegenüber den europäischen Institutionen entsteht auch dadurch, dass wir keinen europäischen Kommunikationsraum haben.

Und auf der anderen Seite haben dann eben die Rechtspopulisten die kommunikativen Möglichkeiten, die es mittlerweile gibt, sehr geschickt genutzt. Im digitalen Raum, den sie stark besetzt haben, verbreiten sie ihre Narrative, die gegen die EU-Institutionen gerichtet sind, sehr effektiv. Da fehlt es an positiven Gegennarrativen, die eher pro-europäischer Natur sind.

Eines der zentralen Legitimationsdefizite der EU rührt aus der sehr marktkonformen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Was kann die Schaffung einer digitalen europäischen Öffentlichkeit auf solchen Feldern tatsächlich bewirken - über eine bessere PR hinaus?

Es geht mir überhaupt nicht um PR. Es geht auch nicht darum, so etwas wie einen europäischen Staatsfunk oder ähnliches herzustellen. Es geht stattdessen darum, einen europäischen Kommunikationsraum herzustellen. Das bedeutet dann auch, dass es für Kritik an europäischer Politik, etwa an einer mangelnden sozialen Dimension der Europäischen Union, überhaupt einen Raum gibt. Wenn man Öffentlichkeit im Sinne von Habermas definiert, dann ist Öffentlichkeit ja zunächst einmal ein Raum, in dem politische Willensbildung stattfindet, Machtausübung kontrolliert, aber auch legitimiert wird. Erst einmal sollen ein europäischer Diskurs und eine Willensbildung stattfinden. Dann kommt es auch zu einer Kontrolle von politischen Entscheidungen, aber eben auch zu einer Legitimation.

Heute kann die Legitimation europäischer Entscheidungen durchaus in nationalen Öffentlichkeiten in Frage gestellt werden. Ein Beispiel ist Viktor Orbáns Nichtbeachtung der Entscheidungen  des EuGHs zur Verteilung von Flüchtlingen in Europa. Die europäischen Institutionen haben keine Möglichkeit, in der ungarischen Öffentlichkeit mitzudiskutieren.

Wenn man dieses Konzept von Öffentlichkeit so versteht, wie Habermas es versteht, dann ist es für alle Akteure – die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Institutionen und die Ausführenden von politischer Macht – essentiell, dass wir diesen europäischen Kommunikationsraum haben. Ich glaube nicht, dass wir ohne europäischen Kommunikationsraum jemals eine wirkliche europäische Demokratie schaffen können.

Ist das nicht erneut ein Projekt, das vorrangig die urbanen, gut ausgebildeten, sehr mobilen Schichten anspricht? Damit könnte die aktuell vieldiskutierte Spaltung zwischen diesen privilegierten Gruppen und den Teilen der Bevölkerung, die sich eher abgehängt fühlen, noch intensiviert werden. Wie kann man sicherstellen, dass gerade diejenigen, die sich als Verlierer der europäischen Integration sehen, tatsächlich teilnehmen und ihre Möglichkeiten nutzen?

Mein Vorschlag ist, dass man alle Europäerinnen und Europäer in die Entwicklung einer solchen Plattform einbindet. So entwickelt auch die Tech-Branche neue Produkte. Das ist ein Gegenmodell zur Entstehung der Europäischen Union, die sehr stark top down entwickelt wurde. Ich würde so vorgehen, dass man zunächst die potenziellen Nutzer fragt, was sie auf einer solchen Plattform gerne an Inhalten und Funktionen haben möchte, damit sie sie auch nutzen würde.

Ich glaube nicht, dass wir ohne europäischen Kommunikationsraum jemals eine wirkliche europäische Demokratie schaffen können.

Ich bin überzeugt, dass man gerade mit so einer digitalen Plattform Menschen, die bisher nicht so sehr von der europäischen Integration profitiert haben, eine Möglichkeit geben könnte, stärker teilzuhaben. Sie haben es ja ganz richtig gesagt: Heute profitieren vor allem die gut ausgebildeten, mobilen Menschen von der Europäischen Union. Eine Sache, die eigentlich für alle ein Vorteil sein sollte, ist die Freizügigkeit von Arbeitnehmern. Wenn ich aber zum Beispiel ein 16-jähriger Schüler bin und in den Sommerferien einen Ferienjob in einem anderen EU-Land machen möchte, dann habe ich kaum eine Möglichkeit, Stellen zu finden. Man könnte Menschen helfen, das Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit tatsächlich wahrzunehmen, indem man Jobs aus ganz Europa auf einer Plattform anbietet und die Stellenausschreibungen in alle Sprachen übersetzt. Da kann so eine Plattform tatsächlich einen Mehrwert bieten.

Die Digitalisierung kommt gerade durch den Anreiz zur Vereinfachung und zu prägnanten Botschaften dem Populismus entgegen und lässt wenig Raum  für differenziertere Debatten. Fragen zur weiteren Entwicklung Europas lassen sich aber nur schwer in kurze knallige Botschaften packen. Warum sind Sie dennoch optimistisch, dass ein europäisches digitales Netzwerk dem Populismus die Stirn bieten kann?

Populisten sind auch deswegen in digitalen Räumen so erfolgreich, weil es eine Wesensverwandtschaft gibt zwischen der Funktionsweise der Algorithmen der sozialen Plattformen und der Kommunikationsweise von Populisten. Die Algorithmen wollen im Grunde genau diese Zuspitzung, Vereinfachung, Polarisierung, die man in den Botschaften der Populisten sieht. Sie brauchen sie, um immer wieder Aufmerksamkeit beim Publikum zu erzeugen, denn das ist letztendlich ihr Geschäftsmodell: Durch Aufmerksamkeit beim Publikum wird Interaktion – Klicks – produziert. Die Leute bleiben an Inhalten hängen, und dadurch produzieren sie Unmengen an Daten für die sozialen Netzwerke, auf deren Basis Werbung während der Plattformnutzung an sie ausgespielt wird. Es gibt also einen Zusammenhang zwischen der Ökonomie der privaten Plattform und der Art und Weise, wie Populisten Politik machen und kommunizieren.

Und eine europäische Plattform könnte das aufbrechen?

Das könnte man aufbrechen, wenn man eine Plattform schafft, die öffentlich finanziert ist. Man könnte deren Algorithmen viel stärker nach dem Gemeinwohlauftrag ausrichten, also im Grunde ein digitales Mediensystem schaffen, wie wir es auch von den klassischen Medien kennen. Da haben wir auch eine Dualität von privaten Medien und öffentlich-rechtlichen. Und die privaten Medien sind viel stärker ökonomischen Prämissen unterworfen, als das die öffentlich-rechtlichen sind. Deswegen sehen wir auch Unterschiede in der politischen Berichterstattung zwischen diesen beiden Formen von Medien.

Ich frage mich, warum wir bisher zugelassen haben, die Öffentlichkeit im digitalen Raum komplett privatisieren zu lassen von Facebook, Google und den übrigen Tech-Konzernen und nicht parallel zu den privaten Plattformen auch öffentlich-rechtliche geschaffen haben, wie wir es von den klassischen Medien kennen. Der Öffentlichkeit ist durch die Digitalisierung die Öffentlichkeit abhandengekommen. Dem müssen wir entgegenwirken, indem wir den privaten Plattformen öffentliche Plattformen entgegenstellen. Da können wir dann auch Kommunikation und politische Debatte eher nach demokratischen Regeln organisieren und müssen nicht allein nach ökonomischen Prämissen verfahren, so wie das die privaten Plattformen heute tun.

Mit dieser Alternative zu Facebook, Google ließe sich die Marktmacht dieser Konzerne Ihrer Ansicht nach brechen?

Man kann natürlich nur Konkurrenz schaffen zu Facebook und anderen Plattformen, wenn man den Nutzern tatsächlich einen Mehrwert bietet. Der eine große Vorteil, den eine öffentlich-rechtliche Plattform hätte, wäre erst einmal, dass sich diese Plattform nicht über die Daten der Nutzer finanzieren würde. Das ist ja tatsächlich etwas, was immer mehr Menschen Bauchschmerzen bereitet. Und wir merken gleichzeitig, dass Unternehmen wie Facebook auch nicht einlenken, sondern zum Teil noch aggressiver werden. Eine öffentlich-rechtlich finanzierte Plattform böte den großen Vorteil, dass sie eben nicht von Daten abhängig ist, um sich zu finanzieren. Man könnte die Souveränität über die eigenen Daten den Nutzern zurückgeben.

Ich frage mich, warum wir bisher zugelassen haben, die Öffentlichkeit im digitalen Raum komplett privatisieren zu lassen von Facebook, Google und den übrigen Tech-Konzernen.

Ein weiterer Vorschlag, den ich mehr aus normativer Sicht mache, ist, so etwas wie ein europäisches Nachrichtenangebot oder ein europäisches Unterhaltungs- und Kulturangebot auf so einer Plattform zu schaffen.

So wie das House of Cards von Brüssel, von dem Sie sprachen?

Genau. Heute haben wir im Unterhaltungs- und Kulturbereich ein Abbild der kulturellen Vielfalt in Europa. Deutsche lieben zum Beispiel skandinavische Serien; die kann man dann bei Arte und manchmal auch bei ARD und ZDF schauen. Was wir aber nicht haben, ist so etwas wie europäische kulturelle Einheit in Form von europäischen Gemeinschaftsproduktionen. So etwas wie ein House of Cards aus Brüssel könnte europäische Kultur auch in der TV-Serie übertragen, indem das Zusammenleben verschiedener Europäer einer Stadt in ein Drehbuch gegossen wird. Man könnte sich auch so etwas vorstellen wie eine Serie über Interrail. Man könnte sich eine europäische Koch-Show vorstellen. Also nicht nur die Koexistenz von verschiedenen nationalen Kulturen abbilden, sondern zusätzlich das, was gemeinsame Kultur in Europa ausmacht. Das wäre eine Ergänzung, die so eine Plattform oder ein Kulturangebot auf so einer Plattform anbieten könnte.

Zur Finanzierung haben Sie auf die Digitalsteuer verwiesen, die im Moment debattiert wird. Was wären Alternativen?

Eine andere Finanzierungsquelle können die heutigen Budgets der nationalen Rundfunkanstalten sein. Meine Idee ist ja, dass das Ganze ausgeht von der europäischen Rundfunkunion. Da sitzen alle nationalen Rundfunkanstalten zusammen. Das ist für mich der geeignete Rahmen, um über so eine öffentlich finanzierte Plattform zu reden. Wenn die nationalen Sender übereinkommen mehr zusammenzuarbeiten, dann sollte es durch die Kooperation zu Einsparungen kommen. Wenn man in Brüssel viel stärker kooperiert und nicht alles mit nationalen Parallelstrukturen betreibt, dann entstehen finanzielle Spielräume, die in eine gemeinsame Plattform einfließen können.

Sie haben von einer Bottom-up-Strategie gesprochen. Wer könnte konkret die Initiative übernehmen?

Ich glaube, dass es immer sinnvoll ist, wenn einzelne Länder vorangehen, und im Rahmen der europäischen Rundfunkunion könnten das Deutschland und Frankreich sein. Mir ist aber auch wichtig, dass das nicht von den Regierungen selbst ausgeht. Wenn wir über Medien sprechen und damit auch über eine Berichterstattung über europäische Politik, ist es ganz wichtig, dass wir hier eine unabhängige Struktur haben. Ansonsten ist der Vorwurf der EU-Propaganda sehr schnell gemacht. Die Unabhängigkeit der Inhalte, die muss das höchste Gut dieser Plattform sein.

Die Fragen stellte Claudia Detsch