Die Verbindung von Wirtschaftsabschwung und rapide steigender Inflation stellt für einen Großteil der Bevölkerung Europas ein Novum dar. Die Corona-Pandemie und der Russland-Ukraine-Krieg führten zu nie dagewesenen Verwerfungen oder – wie Ökonomen sagen würden – zu einem Angebots- und Nachfrageschock. Zum Sommerbeginn signalisierte eine entschieden restriktive Geldpolitik den Beginn eines neuen Kapitels. Die Interpretation dieser Entwicklung ist entscheidend für die Ausrichtung eines progressiven politischen Handelns.
Die Zentralbanken der großen Volkswirtschaften haben beschlossen, die Weltwirtschaft in eine koordinierte globale Rezession zu treiben. Dabei gehen sie – am deutlichsten hat der Chef der US-Notenbank Fed sich dahingehend geäußert – davon aus, dass die schleichende und in einigen Fällen sogar galoppierende Inflation nur durch eine altbewährte Methode zurückgedrängt werden kann: durch die Abkühlung der Wirtschaft – auch auf die Gefahr hin, dass dies die Arbeitslosigkeit in die Höhe treibt. Ihrer Meinung nach hätte ein verspätetes Handeln noch höhere Kosten zur Folge, da eine hohe Inflation die Konjunkturerwartungen von Unternehmen und privaten Haushalten massiv erschüttern und eine fatale Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen würde.
Den Umgang mit Inflation sollte man jedoch nicht mit einer rein technokratischen Brille betrachten. Im Grunde geht es hierbei um die wichtigste einkommenspolitische Entscheidung, mit der dafür gesorgt wird, dass die Kosten der pandemie- und kriegsbedingten Krisen von den Lohnempfängern und nicht von den Sparerinnen oder Unternehmen getragen werden. Die Zentralbanken agieren heute wie eine Gewerkschaft der Rentiersklasse – also derjenigen, die nicht vom Arbeitseinkommen leben müssen. Dass die Zentralbanken dies tun können, liegt vor allem daran, dass die Situation neuartig und komplex und daher sehr viel schwieriger zu verstehen ist.
Die einfachste Erklärung für das Doppeldrama lautet, dass es in der Pandemiezeit zu einem negativen Angebotsschock kam, während gleichzeitig großzügige Einkommensbeihilfen bereitgestellt wurden. Diese Erklärung stützt sich offenbar auf die lebenspraktische Erfahrung. Das Problem ist allerdings, dass diese Erklärung falsch ist. Der größte Angebotsschock liegt immerhin schon zwei Jahre zurück und auch die Maßnahmen zur Einkommensstützung wurden hauptsächlich im Jahr 2020 umgesetzt. Zeitverzögerungen sind natürlich Teil des Wirtschaftsmechanismus, aber in diesem Fall ist die Diskrepanz zwischen der angeblichen Ursache und der Wirkung doch verdächtig groß.
Der größte Angebotsschock liegt immerhin schon zwei Jahre zurück.
Mit anderen Worten: Das Gerede von einer Wiederkehr der Lohn-Preis-Spirale ist nicht stichhaltig. Das Problem ist nicht, dass die organisierte Arbeitnehmerschaft zu stark wäre. Das Gegenteil ist der Fall: Die Unternehmen, die während der pandemischen Rezession möglicherweise Einbußen hinnehmen mussten, nutzen jetzt ihre Marktmacht, um wieder profitabel zu werden. In die Preisgestaltung fließen auch Lieferkettenstörungen und die durch die Deglobalisierung bedingte Unsicherheit ein. Entgegen dem Mantra „building back better“ (gestärkt aus der Krise herauskommen) der vergangenen zwei Jahre sind wir dabei, nach dem Motto „building back worse“ geschwächt aus der Krise herauszukommen. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn wir die wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine in den Blick nehmen.
Der Zusammenhang zwischen Inflation und Krieg ist historisch erwiesen. Die schlimmsten Hyperinflationen traten nach Weltkriegen auf (in Deutschland 1921–1923 und in Ungarn 1945/1946). Der erste Ölpreisschock der 1970er Jahre folgte auf den Jom-Kippur-Krieg, und das Vereinigte Königreich verzeichnet heute eine Inflationsrate wie zuletzt nach dem Falklandkrieg.
Warum Kriege generell zu Inflation führen, ist nicht so schwer zu verstehen. Der Staat muss seine Wirtschaftsaktivitäten auf militärische Ziele ausrichten, sodass Güter weder für den Konsum noch für Investitionen, sondern für die Zerstörung (oder die Bevorratung) produziert werden. In Kriegszeiten führen Marktwirtschaften Preisregulierungen ein und müssen mit dem Risiko von Versorgungsengpässen und der Rationierung von Grundgütern fertigwerden. Auch die Erwartungen spielen eine Rolle, und genau das ist der Fall, seit im Februar dieses Jahres Wladimir Putin den Startschuss für den Einmarsch in die Ukraine gab.
Um Stärke und Solidarität zu demonstrieren, zeigte Europa sich von Beginn des Krieges an entschlossen, sich in den Konflikt einzuschalten. Die Erwartungshaltung wurde in Richtung eines „endlosen Krieges“ gelenkt, der zur Entmachtung Russlands führen könnte, damit es künftig nicht mehr in seine kleineren oder größeren Nachbarländer einfallen kann. Solche Botschaften verändern die Handlungsstrategien der privaten Haushalte und der Unternehmen. Im Kleinen und im Großen kommt es zu Spekulationen. Dass in einer solchen Situation Waren gehortet werden, ist eine natürliche Reaktion.
Der Zusammenhang zwischen Inflation und Krieg ist historisch erwiesen.
Wegen der umfassenden Finanzialisierung werden die Auswirkungen sehr rasch und in multiplizierter Form sichtbar – und zwar abgekoppelt von den tatsächlichen Angebots- und Nachfragemengen auf den Märkten. Einer der Gründe für den weiteren Anstieg der Ölpreise ist die Tatsache, dass Öl über „Drittländer“ wie Indien gekauft werden muss, das trotz der russischen Offensive weiterhin Handelsbeziehungen zu Russland unterhält, während die zurückhaltende Haltung der USA und ihrer Verbündeten Indien nicht vom Weltmarkt ausschließt.
Die Erholung nach der Pandemie hätte also in jedem Fall inflationär gewirkt, aber der Krieg treibt den Verbraucherpreisindex in allen Ländern in die Höhe. Nach Schätzungen von Wirtschaftsfachleuten würde die Inflationsrate in Polen ohne den Krieg bei etwa 8 bis 9 Prozent liegen, hat sich aber durch den „Putin-Effekt“ auf 13 Prozent beinahe verdoppelt. In Estland, einem der streitlustigsten Länder an der östlichen Peripherie der EU, hat die Inflationsrate sogar 23 Prozent erreicht. Von einer „Krieg-Preis-Spirale“ lässt sich aber nicht nur deshalb sprechen, weil der Krieg die Inflation erheblich in die Höhe treibt. Vielmehr steigt mit der Inflation auch die Gefahr eines weiteren internationalen Konflikts. Insbesondere in einer Phase der Stagflation lassen steigende Preise den Elendsindex ansteigen. Das führt in einigen politischen Kulturen dazu, dass Politikerinnen und Politiker sich instinktiv einen Schauplatz im Ausland suchen, auf dem sie ihre Macht demonstrieren können und dafür sogar vermeidbare Konflikte in Kauf nehmen.
Dass derzeit mehrere Krisen zusammenkommen, bewirkt einen stärkeren Inflationsschub für diejenigen, bei denen Lebensmittel und Energie einen größeren Anteil am Gesamtverbrauch ausmachen. Für ärmere Bevölkerungsgruppen und Länder bedeutet dieser Herbst unweigerlich das Abrutschen in eine soziale Krise. Es handelt sich womöglich um den größten koordinierten Einbruch des Lebensstandards in Europa, den die heutigen Generationen je erlebt haben (abgesehen von den osteuropäischen Transformationsprozessen in den frühen 1990er Jahren). Wer im vergangenen Frühjahr dachte, dass 19 statt 21 Grad in ihren Wohnungen und etwas kühleres Wasser beim Duschen für die Bürgerinnen und Bürger des Westens ausreichen, um der Ukraine zu einem Sieg über Russland zu verhelfen, wird sich eines Besseren besinnen müssen.
Was das wirtschaftspolitische Instrumentarium betrifft, so funktionieren die fiskalpolitische Reaktion auf Konjunktureinbrüche und die geldpolitische Reaktion auf die Inflation mit Sicherheit nicht wie im Lehrbuch. Senkt die Fiskalpolitik die Steuern, liefert sie der Geldpolitik nur einen Vorwand, um den Zinssatz weiter anzuheben und damit die Rezession zu verschärfen. Hebt die Geldpolitik den Zinssatz nur geringfügig an, steigt auch die Konkurs- und Armutsgefahr, was wiederum staatliche Interventionen und Ausgaben zur Konsolidierung und Entlastung nach sich zieht. Man könnte dies als „fiskalisch-monetären Teufelskreis“ bezeichnen. Dies ist nicht das richtige Mittel bei einer Stagflation, die durch einen sich zuspitzenden Wirtschaftskrieg verschärft wird, der in vielen Ländern zur Preisinflation bei gleichzeitiger Schrumpfung der Realwirtschaft führt (Shrinkflation).
Es handelt sich womöglich um den größten koordinierten Einbruch des Lebensstandards in Europa.
Wenn die Politik die Ursachen und nicht nur die Folgen der Krise bekämpfen will, muss sie die Gewinnbelastung eindämmen. Dies kann durch die Festlegung von Preisobergrenzen und Gewinnsteuern in den Sektoren geschehen, in denen die Marktbedingungen und die Marktmacht offenbar zu Einnahmequellen für die Aktionäre werden. UN-Generalsekretär António Guterres hat eine Sondersteuer für Energiekonzerne angeregt, die derzeit Zufallsgewinne einstreichen. Das langfristige Mittel gegen übermäßige Marktmacht ist eine stärkere Wettbewerbspolitik, aber die taugt mit Sicherheit nicht als kurzfristige Lösung. Und wenn sich herausstellt, dass es sich um ein strukturelles und nicht nur um ein vorübergehendes Problem handelt, darf auch die Verstaatlichung (in der Energie- und Wasserwirtschaft und ähnlichen netzgebundenen Wirtschaftszweigen) als mögliche Option nicht ausgeklammert werden.
Wenn jedoch immer mehr Menschen von Ernährungs- und Energiearmut bedroht sind, muss die Stärkung der sozialen Sicherheitsnetze an erster Stelle stehen. So wie die Pandemie vor zwei Jahren der Auslöser für verschiedene Regelungen zum Mindesteinkommen war, könnte die derzeitige Krise den Anstoß für universelle Grundleistungen geben. Diese können verschiedene Formen annehmen und für unterschiedliche Gesellschaftsgruppen gelten. Idealerweise sollten sie nicht nur den Ärmsten zugutekommen, sondern auch jenen Teilen der Arbeiter- und Mittelschicht, die noch nicht von der größten Not betroffen sind, denen aber Not droht, wenn die Reserven zur Neige gehen oder weitere Schocks oder Anpassungen durchschlagen.
Regierungen, Genossenschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft müssen mit vereinten Kräften Sachleistungen für die Menschen bereitstellen, die am heftigsten von Armut bedroht und am stärksten benachteiligt sind. Dafür gibt es viele Beispiele wie etwa kostenlose Schulmahlzeiten und Schulbücher für Kinder. Auch die in Deutschland erprobte Bahn-Monatskarte zu einem symbolischen Preis ist beispielhaft für soziale Innovation, die zugleich eine klimafreundliche Form des Reisens fördert. Aus ähnlichen Gründen ordnete der Bürgermeister von Budapest an, dass Kinder unter 14 Jahren die öffentlichen Verkehrsmittel während der Pandemie kostenlos nutzen konnten. Die derzeitige Krise könnte eine Gelegenheit sein, solche Programme auszuweiten und weiter auszubauen.
Viele der genannten Maßnahmen (gerechte Besteuerung, Preisregulierung, Ausbau von Sozialleistungen usw.) sind auf nationaler Ebene angesiedelt. Doch auch die EU kann ihren Beitrag leisten. Angesichts der Stagflation sollte die EU nach der erfolgreichen Einführung von SURE – dem EU-Programm zur Finanzierung kurzfristiger Beschäftigungsprogramme in der gesamten Union und zum Erhalt von Arbeitsplätzen während der Covid-19-Pandemie – ein zweites Sicherheitsnetz aufspannen. Da es sich diesmal um eine anders geartete Rezession handelt, die voraussichtlich stärker struktureller Natur sein wird als die Rezession im Frühjahr 2020, sind Kurzarbeitsregelungen weniger hilfreich. Es ist an der Zeit, das Bekenntnis zu einer echten europäischen Arbeitslosenrückversicherung einzulösen.
Was die Sanktionspolitik betrifft, sollten die Staaten regelmäßig überprüfen dürfen, was sich bewährt hat und was nicht, und Sanktionen, die sich als kontraproduktiv erwiesen haben, wieder aufheben können. Es liegt im Interesse der Bevölkerung Europas, die Erdgas- und möglichst die gesamte Energiefrage aus der wirtschaftlichen Kriegsführung herauszuhalten. Denjenigen, die dem Frieden skeptisch gegenüberstehen, muss klargemacht werden, dass Krieg nicht nur eine militärische, sondern auch eine wirtschaftliche Frage ist – mit massiven sozialen Folgen.
Dieser Text erschien ursprünglich in der Progressive Post.
Aus dem Englischen von Christine Hardung




