Das Vereinigte Königreich steht am Anfang einer sehr spannenden Ära. Über 150 Jahre, nachdem das Land die industrielle Revolution mit dem Aufkommen der Kohle in Gang gesetzt hatte, wird 2024 das letzte Kohlekraftwerk stillgelegt. Nach jahrzehntelangem Anstieg der Kohlenutzung ist diese plötzlich rapide zurückgegangen, da CO2-Steuern und erneuerbare Energien diese schmutzige Energiequelle – wahrscheinlich für immer – aus dem System gedrängt haben.

Das ist zwar ein Grund zum Feiern, aber das Land muss auch auf die unangenehme Geschichte zurückblicken, wie frühere Regierungen mit den Hunderttausenden von Arbeitern umgingen, die die britische Kohleindustrie aufrechterhielten. Die berüchtigten Streiks der Bergleute unter der Thatcher-Regierung vor 40 Jahren haben in den ehemaligen Bergbaugemeinden tiefe Narben hinterlassen, die bis heute spürbar sind. Ein Musterbeispiel für einen sehr schlecht organisierten Wandel, der die wirtschaftlichen Ansichten einer ganzen Generation prägte.

Während das Land auf Kurs zu einem Netto-Null-Übergang ist, taucht das Erbe aus der Vergangenheit wieder auf. Im Fokus steht vor allem das Stahlwerk in der walisischen Stadt Port Talbot. Dort wird über die Zukunft der britischen Stahlherstellung entschieden. Die Zukunft dieses Stahlwerks, das sich im Besitz des indischen Mischkonzerns TATA befindet, ist ein Vorbote für Großbritanniens neuen Versuch einer industriellen Strategie. Gegen einen großzügigen Zuschuss in Höhe von 500 Millionen Pfund (knapp 600 Millionen Euro) der gerade abgewählten konservativen Regierung hat sich das Unternehmen verpflichtet, die Stahlproduktion umzustellen: von der Produktion von Eisenerz mittels Kokskohle auf die Herstellung von Stahl aus Metallschrott in Lichtbogenöfen.

Das führt zu einem gewaltigen Stellenabbau: Fast 3 000 der insgesamt 8 000 Beschäftigten werden dieses Jahr ihren Arbeitsplatz verlieren, zukünftig werden möglicherweise noch weitere Stellen abgebaut werden. TATA behauptet, dass der Betrieb der riesigen Hochöfen täglich einen Verlust von einer Million Pfund bedeutet. Zudem wolle das Unternehmen den Übergang Großbritanniens zu „Netto-Null“ unterstützen. Verständlicherweise setzen die Gewerkschaften sich zur Wehr und schlagen eigene, von den Arbeitskräften selbst geleitete Pläne für den Übergang vor. Die gerade mit einem Erdrutschsieg gewählte Labour-Regierung findet sich nun mitten in diesen Auseinandersetzungen wieder. Sie hat versprochen, sofort neue Verhandlungen mit TATA aufzunehmen, um die Stellen in Port Talbot zu sichern, ohne den Übergang zu gefährden. Sollte ihr das gelingen, würde sie damit einen enorm wichtigen Präzedenzfall für andere Wirtschaftssektoren schaffen, auf die in den nächsten Jahren ebenfalls erhebliche Umbrüche zukommen.

Die Situation stellt den neuen Wirtschaftsminister Jonathan Reynolds, der für diese Verhandlungen zuständig ist, vor drei interessante Herausforderungen. Zum einen muss er sein Wahlversprechen umsetzen, die Arbeiterschaft zu schützen und mittels weiterer staatlicher Zuschüsse in Höhe von 2,5 Milliarden Pfund eine „Job-Garantie“ zu erwirken. Zweitens muss er aber auch dafür sorgen, dass das Unternehmen wettbewerbsfähig bleibt und drittens darf er den Netto-Null-Übergang nicht in Gefahr bringen. Diese drei Herausforderungen sind miteinander verknüpft. Es bestehen berechtigte Bedenken, dass der Erhalt der Herstellung von Primärstahl durch öffentliche Zuschüsse nur eine Industrie künstlich stütze, die im Vergleich zu den Industrien in Schweden, Spanien und den USA nicht wettbewerbsfähig sei. Gleichzeitig läuft der Vorschlag der Gewerkschaft, der einen Ausbau der Hochofenanlagen vorsieht, möglicherweise der Dringlichkeit des Übergangs zum Klimaschutz zuwider.

Die Binnennachfrage nach Stahl wird in Großbritannien innerhalb dieses Jahrzehnts um ein Viertel des heutigen Bedarfs steigen.

Hier erfordert die Quadratur des Kreises eine klare industrielle Strategie, mit der die Wettbewerbsvorteile Großbritanniens ausgeschöpft werden und langfristig ein Markt für grünen Stahl gesichert wird. Die Binnennachfrage nach Stahl wird in Großbritannien innerhalb dieses Jahrzehnts um ein Viertel des heutigen Bedarfs steigen. Das ist in erster Linie auf den Bedarf an neuen Infrastrukturen für erneuerbare Energien zurückzuführen. Um diesen Bedarf wettbewerbsfähig decken zu können, ist eine ähnliche Unterstützung erforderlich, wie sie in anderen Ländern für die Stahlproduktion geleistet wird, beispielsweise in den USA durch das Gesetz zur Reduzierung der Inflation, den Inflation Reduction Act. Manch einer argumentiert, dass eine Verstaatlichung der Stahlindustrie es dem Land effektiver ermöglichen würde, eine Industriestrategie zu entwickeln, die unabhängig von den Entscheidungen privatwirtschaftlicher Unternehmen ist. Aber auch das ist keine kostenlose Alternative und die selbst auferlegten haushaltspolitischen Zwänge der Labour-Partei machen dieses Szenario derzeit wenig attraktiv.

Zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme müssen die politischen Maßnahmen eine gemeinsame Hebelwirkung entfalten. Ein robuster Mechanismus zur Anpassung der Kohlenstoffgrenzen, der die Verlagerung von CO2-Emissionen verhindert; Kapitalsubventionen oder Steuergutschriften, um Anreize für private Investitionen in neue Infrastruktur zu schaffen; langfristige Verträge über saubere Energien für billigen Strom und Abnahmeverträge mit öffentlichen und privaten Kunden, mit denen Kapitalkosten reduziert werden können. Hebel dieser Art auf Nachfrage- und Angebotsseite werden von entscheidender Bedeutung für die Umgestaltung der britischen Stahlindustrie sein. In den USA und in der EU wurden bereits Maßnahmen dieser Art eingeführt, um noch vor 2030 eine Welle von Projekten zur Herstellung grünen Stahls in Gang zu setzen. Das könnte Großbritannien möglicherweise vom Markt drängen.

Wenn Großbritannien einen Wettbewerbsvorteil hat, dann ist es die Tatsache, dass das Land sehr viel Metallschrott erzeugt und die jetzigen Standorte bereits über die zusätzliche Infrastruktur wie Netzanbindungen verfügen. Lichtbogenöfen zur Herstellung von Eisenschwamm mit Wasserstoff ist die Zukunft des grünen Stahls – und Großbritannien ist gut aufgestellt, diese Gelegenheit zu nutzen. Der internationale Thinktank Energy Transitions Commission schätzt, dass ein staatlicher Zuschuss von 30 Prozent für ein neues Projekt mit Wasserstoff, Eisenschwamm und Lichtbogenöfen zusammen mit einem Kohlenstoffpreis von 100 Pfund pro Tonne und einer Prämie für die Abnahme die Herstellung von grünem Stahl in Großbritannien sehr wirtschaftlich machen könnte. Entscheidend wird auch sein, sicherzustellen, dass die industriellen Abnehmer von den billigen erneuerbaren Energien profitieren, da der Strombedarf rapide ansteigen und sich verfünffachen könnte, wenn alle Hochhöfen in Lichtbogenöfen umgewandelt werden. Allerdings sind die Energiepreise in Großbritannien beträchtlich höher – im Durchschnitt zeitweise bis zu 80 Prozent teurer als in anderen europäischen Ländern –, was die Kosten für die Stahlproduktion natürlich in die Höhe treibt.

Es ist unwahrscheinlich, dass dieser Übergang in einer solchen Geschwindigkeit erfolgt, dass alle heutigen Arbeitsplätze erhalten werden können. Aber genau so, wie sich die Stahlindustrie entwickelt, müssen sich auch die Arbeitskräfte entwickeln. Ein Bericht des Fachbereichs Wirtschaft der Universität Leeds macht deutlich, dass die Arbeiterschaft in der Industrie dem grünen Übergang optimistisch entgegensieht und ihn als eine Gelegenheit für Arbeitsplatzsicherheit und industrielle Wettbewerbsfähigkeit begreift. Entscheidend dabei ist jedoch die Umschulung und Weiterqualifizierung der Arbeitskräfte, damit sie mit den neuen Technologien umgehen und sich an neue Rollen anpassen können.

Das Versprechen der neuen Labour-Regierung, die britische Stahlindustrie zu erhalten und auszubauen, ist begrüßenswert. Aber es wird weit mehr als staatliche Investitionen erfordern, wenn die Branche langfristig nachhaltig und wettbewerbsfähig sein soll.

Aus dem Englischen von Ina Goertz