Kinderarbeit, Landraub, Umweltverschmutzung – das EU-Lieferkettengesetz soll Unternehmen zum Schutz von Mensch und Umwelt verpflichten. Doch obwohl das Gesetz jahrelang auf europäischer Ebene demokratisch verhandelt wurde, will Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen es nun in kürzester Zeit aushöhlen. Auslöser ist ein bisher beispielloses Verfahren zum vermeintlichen Bürokratieabbau. Kritiker sehen darin jedoch einen Vorwand, um wirtschaftlichen Interessen und Lobbygruppen nachzugeben.

„Vereinfachen und beschleunigen“ – so lautet eines der zentralen Ziele der EU-Kommission, die seit letztem Jahr im Amt ist. Bereits im November hatte die Kommissionspräsidentin angekündigt, die Berichtspflichten für Unternehmen um bis zu 35 Prozent zu reduzieren. Diesen Mittwoch legte die Kommission nun konkrete Pläne vor. Dreh- und Angelpunkt ist das sogenannte Omnibus-Verfahren, das es der Kommission erlaubt, mehrere bereits beschlossene Gesetze nachträglich zu ändern. Betroffen sind neben dem europäischen Lieferkettengesetz auch die Nachhaltigkeitsberichterstattung, die EU-Taxonomie sowie CBAM (Carbon Border Adjustment Mechanism). Kurzum: Kernelemente des Green Deal – welche die globale Wirtschaft nachhaltiger und resilienter gestalten sollen. Mit der Veröffentlichung wird deutlich: Es geht nicht nur um Bürokratieabbau, sondern vor allem um eine Abschwächung dieser Gesetze. Auf diese Verwässerung hatten deutsche, französische und italienische Wirtschaftsverbände in den letzten Monaten massiv gedrängt. Ihre Kampagne zielte nicht auf eine praktikablere Umsetzung, sondern auf eine weitgehende Aussetzung der Gesetze. Dabei wurde mit Fehlinformationen gearbeitet – Bürokratieabbau wurde mit Menschenrechten gleichgesetzt, um die Regeln zu diskreditieren.

Von der Leyen hat ihr Versprechen gebrochen, die politischen Ziele der Gesetze zu bewahren.

Von der Leyen versprach vor der Veröffentlichung mehrfach, die politischen Ziele der Gesetze im Kern zu bewahren. Doch dieses Versprechen hat sie gebrochen: Weder wurde der Prozess transparent und inklusiv gestaltet, noch blieben die Inhalte der Gesetze unangetastet. Der Rückbau wurde undurchsichtig und einseitig vorangetrieben. Ein Beispiel dafür ist ein Treffen, das die Kommission einberief: Neben zahlreichen Wirtschaftsvertretern und wenigen Nichtregierungsorganisationen wurden lediglich zwei Gewerkschafterinnen zugelassen – und das nur, weil sie sich selbst um eine Einladung bemüht hatten. Während des Treffens machte die Kommission unmissverständlich klar: Gewerkschaften werden in diesem Verfahren nicht als Verhandlungspartner angesehen. Das ist besonders brisant, da die Richtlinie maßgeblich dem Schutz von Beschäftigten dient.

Bereits vor der Veröffentlichung des Omnibus-Vorschlags gab es zahlreiche Gegenstimmen. Die EU-Lieferkettenrichtlinie wurde in einem jahrelangen demokratischen Prozess ausgehandelt und gilt als große Errungenschaft. Sie soll gleiche Wettbewerbschancen für Unternehmen in Europa schaffen und den Schutz von Mensch und Umwelt sicherstellen. Doch das Vorhaben von der Leyens stieß auf breiten Widerstand: Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Kirchen protestierten öffentlich und hinter den Kulissen. Zahlreiche progressive Europaabgeordnete sprachen sich ebenfalls dagegen aus, das Gesetz in seiner Substanz zu verändern. Selbst etliche Unternehmen in der EU wandten sich an die Kommission und plädierten für den Erhalt der Richtlinie. Denn für sie bedeutet das aktuelle Verfahren keine Entbürokratisierung oder Vereinfachung, sondern neue Rechtsunsicherheit.

Diese Woche machte die Kommission nun öffentlich, was sie mit dem EU-Lieferkettengesetz vorhat: Unternehmen sollen künftig nur noch ihre direkten Zulieferer überwachen – nicht mehr die gesamte Lieferkette. Damit wird ihr Verantwortungsbereich deutlich verkleinert. Doch genau hier liegt das Problem: Menschenrechtsverstöße geschehen oft tiefer in der Lieferkette, bei Subunternehmen oder Rohstofflieferanten. Zudem zeigt die Erfahrung mit dem deutschen Lieferkettengesetz, das bereits in Kraft ist: Eine Beschränkung auf direkte Zulieferer schafft nicht weniger Bürokratie, sondern mehr.

Eine Arbeiterin in Bangladesch hätte europäische Unternehmen nach EU-Recht verklagen können.

Ein weiterer zentraler Punkt der Richtlinie war die zivilrechtliche Haftung. Sie hätte einen wichtigen Schritt in Richtung Gerechtigkeit bedeutet: Eine Arbeiterin in Bangladesch hätte europäische Unternehmen nach EU-Recht verklagen können – anstatt sich auf die oft schwächeren Gesetze ihres Heimatlandes verlassen zu müssen. Doch die geplanten Änderungen machen dieses Recht faktisch wirkungslos. Das Verfahren wird so kompliziert, dass Klagen kaum noch Erfolgschancen haben.

Auch die Beteiligung von Beschäftigten, Gewerkschaften und NGOs wurde stark eingeschränkt. Bisher mussten sie im Sorgfaltspflichtverfahren konsultiert werden – eine deutliche Verbesserung gegenüber dem deutschen Lieferkettengesetz. Sie hatten Mitspracherecht bei der Ermittlung und Bewertung von Risiken, der Entwicklung von Präventions- und Abhilfemaßnahmen sowie bei Entscheidungen über die Beendigung oder Aussetzung von Geschäftsbeziehungen. Diese Regelung hatte gleich zwei Vorteile: Sie stärkte die Rechte der Betroffenen und half Unternehmen, Risiken besser einzuschätzen. Doch laut dem neuen Entwurf entfällt ausgerechnet die Mitsprache bei der Entscheidung über die temporäre Aussetzung von Geschäftsbeziehungen – einem besonders sensiblen Punkt.

Ein weiteres scharfes Schwert war die Pflicht zur Beendigung von Geschäftsbeziehungen. Wenn ein Zulieferer schwere Menschenrechtsverstöße beging und keine Besserung in Sicht war, mussten Unternehmen die Zusammenarbeit beenden. Auch diese Verpflichtung soll nun wegfallen. Zudem wird deutlich, dass die Kommission Sorgfaltspflichten zunehmend als Feigenblatt benutzt. In der ursprünglichen Richtlinie mussten Unternehmen Klimaschutzpläne nicht nur erstellen, sondern auch umsetzen. Diese Verpflichtung soll nun gestrichen werden – das bedeutet: Unternehmen können weiterhin ambitionierte Klimaziele formulieren, ohne sie tatsächlich einhalten zu müssen.

All das zeigt: Ursula von der Leyen distanziert sich in dieser Legislaturperiode so weit wie möglich von nachhaltigem Wirtschaften. Stattdessen rückt Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten der Beschäftigten in den Fokus. Doch echte Wettbewerbsfähigkeit entsteht nicht durch Deregulierung, sondern durch sozialen Fortschritt. Europa bleibt nur dann ein attraktiver und glaubwürdiger Partner, wenn es seine Werte konsequent vertritt. Dafür braucht die EU eine stabile, regelbasierte Wirtschaftspolitik, die sowohl für europäische Unternehmen als auch für ihre globalen Partner klare und verlässliche Rahmenbedingungen schafft. Dazu gehören Investitionen, die Menschenrechte respektieren, ökologische Grenzen einhalten und wirtschaftliche Entwicklung sowohl in Europa als auch in den Produktionsländern fördern.

Die neue deutsche Bundesregierung könnte beeinflussen, ob das Gesetz nun in abgeschwächter Form kommt – oder doch noch gerettet wird.

Was jetzt nötig ist, liegt auf der Hand: eine umfassende Mobilisierung für den Erhalt des europäischen Lieferkettengesetzes. Gewerkschaften und Zivilgesellschaft dürfen sich nicht mit einem intransparenten Verfahren abspeisen lassen. Sonst droht diese beispiellose Vorgehensweise zur neuen Normalität zu werden. Ursula von der Leyen muss für ihren Wortbruch und das fehlende Konsultationsverfahren zur Rechenschaft gezogen werden.

Betroffene Unternehmen müssen ihre Stimme lauter erheben und sich gegen den Kurs ihrer einflussreichen Verbände stellen. In ihrem Namen wird eine als Bürokratieabbau getarnte Deregulierungsagenda vorangetrieben. Jetzt ist der Moment, öffentlich klarzustellen: Sorgfaltspflichten sind keine Belastung, sondern bieten betriebswirtschaftliche Chancen. Sie stärken die Unternehmensreputation, verbessern die Qualität der Vorprodukte und erhöhen die Resilienz der Lieferkette. Unternehmen sollten deutlich machen, dass die geplanten Änderungen keine Bürokratie abbauen, sondern vielmehr Planungssicherheit gefährden.

Nun liegt der Vorschlag der Kommission beim Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat. Beide Institutionen können Änderungen einbringen und haben damit eine entscheidende Rolle im weiteren Prozess. Doch die Herausforderung ist groß: Nach der Europawahl ist das progressive Lager im Parlament deutlich geschwächt. Trotzdem muss es alles daransetzen, den Prozess aktiv zu steuern und das Lieferkettengesetz zu verteidigen. Auch die Haltung der neuen deutschen Bundesregierung wird dabei eine zentrale Rolle spielen. Ihre Position könnte maßgeblich beeinflussen, ob das Gesetz in abgeschwächter Form kommt – oder doch noch gerettet wird.