Seit der mit vielen hunderten Rettungsmilliarden, staatlicher Konjunkturstimulierung und billigem Zentralbankgeld überwundenen Finanzkrise 2008 und der Eurokrise 2012 hat sich in Deutschland vordergründig vieles zum Besseren entwickelt. Scheinbar ist wirtschaftspolitisch alles richtig gemacht worden, denn die Wirtschaft wurde stabilisiert, Sozialstaat und Staatshaushalt wurden saniert und einer der längsten konjunkturellen Aufschwünge seit dem Zweiten Weltkrieg war die Folge.
Hierzu entscheidend beigetragen hat die gute Entwicklung des Arbeitsmarktes. Vorbei waren plötzlich die Zeiten, in denen jeder konjunkturelle Zyklus neue Negativrekorde bei der Arbeitslosigkeit bescherte. Seit Anfang der 1970er Jahre gelang es während konjunktureller Aufschwungsphasen nicht, die in jeder Krise angestiegene Arbeitslosigkeit vollständig abzubauen. Die Sockelarbeitslosigkeit stieg in Zyklen an. 2005 wurden erstmals mehr als fünf Millionen Arbeitslose registriert. Danach kam die Wende. Seit der Finanzkrise hat Deutschland ein „Jobwunder“ erlebt. Von 2006 bis 2019 sind fast sieben Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs neu entstanden. Von Arbeitslosigkeit sind nur noch etwa 2,5 Millionen Menschen betroffen, seit Mitte der 1980er Jahre wurde dieser Wert nicht mehr unterschritten.
Vor diesem Hintergrund ist die Bundesregierung der wirtschaftlichen Rezession, die sich schon im letzten Jahr anbahnte, sehr selbstbewusst gegenübergetreten. Bundesfinanzminister Olaf Scholz kündigte damals an, dass der Staat gewappnet sei und einer Krise wirksam begegnen könne. Er werde mit „vielen, vielen Milliarden“ und „gelebtem Keynesianismus“ reagieren. Als die Rezession durch die Corona-Pandemie an Fahrt gewann, behauptete Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier gar, dass deswegen kein Arbeitsplatz verlorengehen müsse und der Staat die Reserven habe, um das zu verhindern. Das inzwischen beschlossene Konjunkturprogramm wurde so umfangreich, um, wie Scholz verkündete, mit „Wumms“ aus der Krise zu führen.
Paradoxerweise beruht die vordergründig gute Job-Performance der deutschen Wirtschaft darauf, dass die Unternehmen technologisch kaum mehr vorankommen.
Die Einschätzung, dass es gelingen könne, die von der Corona-Pandemie ausgelöst Wirtschaftskrise ähnlich wie die Finanzkrise mit vielen hunderten Milliarden Euro weitgehend zu unterdrücken und erneut eine schnelle wirtschaftliche Erholung in Gang zu setzen, wird auch von Wirtschaftswissenschaftlern genährt. So vertritt Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die Auffassung, dass sowohl die Corona-Pandemie wie auch die Krise des Finanzsystems 2008 eine „Realwirtschaft“ getroffen habe, die „eigentlich gesund“ sei.
Diese schöne Fassade hat jedoch einen gehörigen Riss. Paradoxerweise beruht die vordergründig gute Job-Performance der deutschen Wirtschaft darauf, dass die Unternehmen technologisch kaum mehr vorankommen. Dies zeigt sich sehr deutlich an dem hierfür verwendeten Indikator: der Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität. In Deutschland ist sie von 1950 bis 1973 im Durchschnitt jährlich um 5,9 Prozent gewachsen, seitdem aber kontinuierlich zurückgegangen. Von 2007 bis 2019 gelang nur noch eine jährliche Steigerung um etwa 0,6 Prozent. Im letzten Jahr ist sogar eine Stagnation eingetreten. Die Produktivitätsfortschritte der Unternehmen sind so gering, dass sie die um etwa ein Prozent jährlich ansteigende Wertschöpfung nur mit zusätzlichem Personal erzielen konnten. Das Jobwunder seit der Finanzkrise beruht also auf der technologischen Stagnation der Unternehmen.
Die in Deutschland stagnierende Arbeitsproduktivität bedeutet, dass die Unternehmen nicht mehr in der Lage sind, Wohlstandszuwächse zu generieren, die den erwerbstätigen Massen zugutekommen. Die im historischen Vergleich einzigartige Fähigkeit der Marktwirtschaft, den Massenwohlstand zu steigern, basiert darauf, dass es ihr durch Arbeitsteilung und Kapitaleinsatz in Form von Maschinen und Anlagen gelungen ist, immer produktivere Arbeitsprozesse zu etablieren. Die menschliche Arbeitszeit, die für die Herstellung einer Ware oder Dienstleitung aufgewendet werden muss, ist daher drastisch gesunken.
Seit der Industrialisierung, die in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzte, haben sich der Kapitaleinsatz pro Beschäftigtem wie auch die Arbeitsproduktivität durch Einführung neuer Technologien in einem bemerkenswerten Gleichschritt verzwölffacht. Der gesellschaftliche Wohlstand ist entsprechend stark gestiegen, denn: Für den gleichen Warenkorb wie im Jahr 1850 müssen die Deutschen heute nur noch ein Zwölftel ihrer damaligen Arbeitszeit aufwenden. Mehr und bessere Waren und Dienstleistungen wie auch mehr Freizeit waren die Folge.
Aktuell besteht die wirtschaftspolitische Reaktion der Bundesregierung auf die Corona-Krise im Wesentlichen darin, die schöne Fassade einer „eigentlich gesunden“ Wirtschaft zu erhalten.
Für die anhaltende Produktivitätsschwäche zahlen die Erwerbstätigen schon heute einen hohen Preis. Zusätzliche und gutbezahlte Jobs in Bereichen neuer Technologien entstehen in Deutschland kaum noch. Der Glanz des deutschen Jobwunders wird auch dadurch relativiert, dass die mit Abstand meisten geschaffenen Stellen Teilzeitstellen sind. Neue Jobs entstanden hauptsächlich im Gastgewerbe, im Gesundheits- und Sozialwesen sowie bei freiberuflichen und sonstigen Dienstleistungen – Bereiche, die unterdurchschnittlich bezahlt werden und auch in der Vergangenheit nur unterdurchschnittliche Produktivitätssteigerungen erreichten. Auch die Reallöhne sind seit Mitte der 1990er Jahre durchschnittlich um nur etwa ein halbes Prozent jährlich angestiegen. Besonders problematisch ist die Entwicklung beim am geringsten entlohnten Drittel der Beschäftigten. Im Jahr 2015 lagen die realen Stundenlöhne dieses unteren Drittels niedriger als 20 Jahre zuvor.
Aktuell besteht die wirtschaftspolitische Reaktion der Bundesregierung auf die Corona-Krise im Wesentlichen darin, die schöne Fassade einer „eigentlich gesunden“ Wirtschaft zu erhalten. Mit billionenschweren Hilfsprogrammen, regulatorischen Eingriffen und billigem Geld, das die Unternehmen rettet und die Konjunktur ankurbelt, wird auf der nationalen wie auf der EU-Ebene versucht, die wirtschaftliche Krise weitestmöglich zu unterdrücken. So soll vermieden werden, dass sich die seit Jahrzehnten aufgestauten Probleme niedrigen Produktivitätswachstums entladen.
Seit Jahrzehnten tendieren staatliche Institutionen und politisch Verantwortliche dazu, dem immer akuteren Problem niedrigen Produktivitätswachstums auszuweichen. In ihrem Bestreben, wirtschaftliche und politische Instabilität möglichst zu vermeiden, die von wirtschaftlichen Krisen und dem sie oft begleitenden disruptiven technologischen Wandel ausgeht, stellen sie wirtschaftliche Rahmenbedingungen her, die einseitig dazu beitragen, bestehende Unternehmen und deren Geschäftsmodelle zu schützen.
Diese schon seit den 1970er Jahren eingeleitete und seitdem kontinuierlich verschärfte Stabilisierungspolitik hat eine wirtschaftliche Lähmung bewirkt. Einer zunehmenden Anzahl von Unternehmen gelingt es, sich dauerhaft durchzuschleppen, weil staatliche und supranationale EU-Institutionen Rahmenbedingungen schaffen, die etablierte Unternehmen stützen – notfalls zu Lasten neuer Wettbewerber. Der Staat schützt die Unternehmen durch wirtschaftspolitische Regulierung, Subventionen oder durch Niedrigzinsen. Aber selbst unter diesen für sie förderlichen Bedingungen sind sie wenig profitabel und in der Regel nicht in der Lage, die Investitionen zu stemmen, die für technologische Innovationen erforderlich wären.
Mittlerweile weisen nur noch wenige Vorreiterunternehmen eine hinreichend hohe Profitabilität auf, um die Kosten und Risiken einzugehen, die technologische Innovationen erfordern.
Die Spitze dieses Eisbergs bilden die Zombieunternehmen. Sie sind Untote, die technologisch stagnieren, kaum Steigerungen der Arbeitsproduktivität erreichen und daher keinen Beitrag zur Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstands leisten können. Dennoch dürfen sie nicht sterben, weil dies aufgrund der aufgestauten Probleme eine immer größere wirtschaftliche Krise auslösen würde. Einer OECD-Studie zufolge war in Deutschland bereits 2013 mehr als zwölf Prozent des Kapitals in Zombieunternehmen gebunden. Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform zeigte, dass die Profitabilität der Unternehmen bereits vor der Corona-Krise so geschwächt war, dass eine nur leichte Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen etwa 20 Prozent von ihnen in die Verlustzone treiben würde.
Die wirtschaftliche Lähmung beschränkt sich jedoch nicht auf die Zombieunternehmen. Mittlerweile weisen nur noch wenige Vorreiterunternehmen (oft als Technologie-Avantgarde bezeichnet) eine hinreichend hohe Profitabilität auf, um die Kosten und Risiken einzugehen, die technologische Innovationen erfordern. Die große Masse der Unternehmen hingegen ist nicht profitabel genug, um diesen Vorreitern folgen zu können. In der Wissenschaft wird dieses Phänomen als ausbleibende Technologiediffusion beschrieben.
Die von der Corona-Pandemie bzw. -Politik ausgelöste Wirtschaftskrise hat unter den Bedingungen der Zombiewirtschaft erhebliches wohlstandsgefährdendes Potenzial für die Masse der Erwerbstätigen. Dieses rührt weniger aus den vielen Jobs, die während der Krise verlorengehen. Vielmehr hat die Zombiewirtschaft die Fähigkeit eingebüßt, neue Geschäftsmodelle und technologische Innovationen hervorzubringen, durch die es gelingen könnte, die Jobverluste auszugleichen oder sogar zusätzliche Jobs zu schaffen. Hinzu kommt, dass Reallöhne auf lange Sicht nur steigen können, wenn die Arbeitsproduktivität wächst. Wo diese Entwicklung hinführt, zeigt sich schon heute am Beispiel der weiter fortgeschrittenen japanischen Zombiewirtschaft. Dort sind die Reallöhne seit Mitte der 1990er Jahre um zehn Prozent gesunken.
Wir müssen den Teufelskreis durchbrechen, in dem eine immer weiter zombifizierte und derart geschwächte Wirtschaft immer abstrusere Rettungsorgien nach sich zieht und gerade dadurch den Massenwohlstand senkt. Das Thema Arbeitsproduktivität muss auf die politische Agenda.