„The world as it is, is not the world as it should be“, rief einst Barack Obama: So wie es ist, darf es nicht bleiben. Diese Unzufriedenheit über das Delta zwischen erlebten und erstrebten Verhältnissen ist die Triebfeder aller progressiven Politik. Gebraucht werden Fortschritt, Erneuerung, Veränderung. Sich nicht mit den vorgefundenen Verhältnissen abzufinden, sondern diese zu verbessern, möglichst allen Menschen ein „lebbares“ Leben zu ermöglichen – das ist die gemeinsame Absicht aller Progressiven. Mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Lebenschancen für alle, weniger Ungleichheit und Ausbeutung, mehr lebendige Demokratie und gesellschaftliche Liberalität, weniger Rassismus und Diskriminierung, alle erforderlichen Anstrengungen zur Abwendung des globalen ökologischen und klimatischen Kollapses. Keine Frage, über Prioritäten, Strategien und Instrumente wird es immer mehrere Meinungen geben. Aber hinsichtlich der ganz grundlegenden Ziele und Werte progressiver Politik müssen im Grunde keine großen Kontroversen ausgetragen werden.
Im 21. Jahrhundert sind die fundamentalen Prinzipien der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bedroht. Außerordentlich bedroht sogar. Nicht nur in den Vereinigten Staaten ist der virulente Rechtsautoritarismus bereits an der Macht. Auch in etlichen europäischen Staaten, teilweise gleich bei uns um die Ecke – in Polen, Österreich, Ungarn, Rumänien, Italien, Tschechien –, haben sich anführerzentrierte autoritäre Bewegungen als regierende oder mitregierende Parteien inzwischen tief in die staatlichen und administrativen Strukturen hineingefräst – mit dem erklärten Ziel, diese freiheitlich-rechtsstaatlichen Strukturen systematischen von innen her auszuhebeln und zu beenden. Und überall können sich die Zersetzer der liberalen Demokratie auf die aktive Unterstützung der autoritären Kleptokratie Wladimir Putins verlassen. Die Lage ist also verdammt ernst, und die Einschläge kommen näher. Mag sein, dass erst der Ausgang drei Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im kommenden Jahr diese Einsicht auch in Deutschland wachsen lassen wird. Mag sein, dass schon die jüngsten Ereignisse von Chemnitz helfen, den tatsächlichen Ernst der Lage begreiflich zu machen.
In dieser Lage werden alle Bestrebungen, die SPD auf die vermeintlichen Vorlieben eines strukturell schrumpfenden Milieus biodeutscher männlicher Facharbeiter in westlichen Bundesländern zu verengen, nur mit Volldampf nach hinten losgehen.
Vor diesem düsteren Hintergrund erscheint aus progressiver Gesamtperspektive auf den ersten Blick jede Bewegung begrüßenswert, die dazu beitragen kann, mehr Menschen als bisher für die Erneuerung und Revitalisierung der freiheitlichen und sozialen Demokratie zu mobilisieren. Diese ganz praktische Mobilisierung ist jetzt entscheidend. Denn diejenigen, die auf die eine oder andere Weise mit dem Missverhältnis hadern, das sich zwischen der Wirklichkeit und lebenswerten Verhältnissen für alle Menschen jeglicher Herkunft auftut, mögen in Deutschland zwar (je nach Zählweise) eine vage gesellschaftliche Mehrheit stellen – eine politisch gestaltungsfähige Mehrheit bringen sie hingegen nicht auf die Waage. Was immer verspricht, Gewicht und Durchsetzungsfähigkeit dieser Kräfte zu erhöhen, das können Progressive jeglicher Couleur eigentlich nur herzlich willkommen heißen.
Vor allem die deutsche Sozialdemokratie kann starke Verbündete besonders gut gebrauchen. Natürlich sind alle sozialdemokratischen Anstrengungen sinnvoll und richtig, die eigene Partei zu erneuern, sie dadurch womöglich wieder attraktiver zu machen und zu stärken. Parteien stehen immer vor der Wahl, sich entweder wieder und wieder neu auf veränderte Verhältnisse einzulassen, oder an Einfluss und Relevanz zu verlieren: Adapt or die, das ist nicht wirklich neu. Doch der Niedergang der deutschen und europäischen Sozialdemokratie verläuft sehr langfristig und ist sehr strukturell bedingt – auch aufgrund äußerer Veränderungen in Ökonomie und Technologie, Kommunikation und politischer Kultur, auf welche die Partei selbst nur wenig Einfluss ausüben kann.
In Umfragen liegt die SPD bundesweit inzwischen stabil unter 20 Prozent, und selbst noch so erfolgreiches #spderneuern wird ihr nicht mehr zu früherer Stärke verhelfen. Als über lange Jahrzehnte hinweg gewordene politische und kulturelle „Marke“ steht die Sozialdemokratie schlicht nicht mehr im Einklang mit der diffusen Grundgestimmtheit einer Gesellschaft, die insgesamt offensichtlich keinen größeren Wert mehr darin erkennt, politisch von zwei großen Parteien rechts und links der „Mitte“ sowie einer Handvoll jeweils mehrheitsbeschaffender kleinerer Formationen repräsentiert zu werden. Spätestens mit dem Aufstieg der AfD als social movement from hell hat das deutsche Parteiensystem einen Umkipppunkt erreicht, von dem aus die Möglichkeit eine Rückkehr zu vormals üblichen Verhältnissen schlichtweg ausgeschlossen ist.
In dieser Lage werden alle Bestrebungen, die SPD auf die vermeintlichen Vorlieben eines strukturell schrumpfenden Milieus biodeutscher männlicher Facharbeiter in westlichen Bundesländern zu verengen, nur mit Volldampf nach hinten losgehen. Die Verlockung zu einem derartigen Retro-Kurs mag groß sein. Doch wo man beispielsweise im Namen eines angeblichen „linken Realismus“ (Nils Heisterhagen) das zutiefst nachkriegssozialdemokratische Bekenntnis zu Internationalismus und Weltoffenheit, europäischer Einigung und gesellschaftlicher Liberalität schlankweg als den verblendeten „kosmopolitischen“ „Hypermoralismus“ eines „postmodernen“ „neoliberalen“ „Hauptstadtestablishments“ (et cetera pp) vom Tisch wischt, da wird tatsächlich so ziemlich alles für das Wohlergehen der SPD Wesentliche missverstanden, verdrängt oder vergessen.
Wer wie die Sozialdemokratie ziemlich dringend auf neue progressive Bündnisse angewiesen ist, der sollte für diese jedenfalls keine Prüfkriterien formulieren, die faktisch die Spaltungslinien innerhalb der eigenen Partei und Wählerschaft sowie auch zwischen SPD und wichtigen potenziellen Partnern vertiefen.
Muss – erstens – wirklich daran erinnert werden, dass die bundesrepublikanische Sozialdemokratie alle ihre Erfolge stets der Fähigkeit verdankte, plurale Wählerkoalitionen ganz unterschiedlicher Milieus und Gesinnungen zusammenzuzimmern? (Oder wie sonst, nur als Beispiel, hätte noch vor gar nicht langer Zeit Olaf Scholz in der boomenden Metropole Hamburg eine absolute Mehrheit erzielen können?) Und muss – zweitens – wirklich ins Gedächtnis gerufen werden, dass sich sogar die bis heute verbliebene (potenzielle) Restwählerschaft der SPD noch immer zu großen Teilen aus genau denjenigen liberal-aufgeklärten gesellschaftlichen Schichten rekrutiert, die selbsternannte „Neue Realisten“ nun ebenso hochfahrend wie borniert als „Bionade-Bürgertum“ denunzieren?
Nein, niemand in Deutschland muss Weltoffenheit und Liberalität schätzen – it’s a free country, after all. Aber wer allen Ernstes meint, nur ohne – ja sogar im Kampf gegen – Weltoffenheit und gesellschaftspolitische Liberalität könne die SPD wieder in die Erfolgsspur finden, der schickt diese Partei geradewegs ins sektiererische Abseits. Völlig zutreffend stellt Karl Adam fest: „(D)ie ängstlich-verzagte Anpassungsstrategie an die Rechtspopulisten wird diesen niemals das Wasser abgraben können und letztlich nur die von ihnen gesetzten Deutungsmuster immer wieder bestätigen und verfestigen.“ Die Prinzipien der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit gegeneinander auszuspielen – das ist jedenfalls die mit Abstand verrückteste Idee, auf die Sozialdemokraten in ihrer gegenwärtigen Krise verfallen könnten.
Aber na klar, wo die Lage mies ist und der Leidensdruck steigt, da wächst irgendwann auch die Verlockung vermeintlicher Allheilmittel. Angesichts der langwierigen Schrumpfmisere der SPD kann es nicht verwundern, dass dieser oder jener messianische Doktor Eisenbart auf den Plan tritt und mit selbstgewissem Ton verkündet, überhaupt nur seine radikale Wunderkur könne die Partei jetzt noch kurieren. Natürlich sollten sich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten keiner Idee von vornherein verschließen. Sie sollten aber auch rechnen können – und deshalb immer zugleich fragen, ob die jeweiligen Vorschläge geeignet sind, die Möglichkeiten und die Reichweite progressiver Bündnisse in Gesellschaft und Politik zu erweitern oder nicht. Anders gesagt: Wer wie die Sozialdemokratie ziemlich dringend auf neue progressive Bündnisse angewiesen ist, der sollte für diese jedenfalls keine Prüfkriterien formulieren, die faktisch die Spaltungslinien innerhalb der eigenen Partei und Wählerschaft sowie auch zwischen SPD und wichtigen potenziellen Partnern vertiefen.
Peter Brandt etwa fällt – ausgerechnet unter der Überschrift <link rubriken soziale-demokratie artikel wir-brauchen-eine-linke-oekumene-2910>„Wir brauchen eine linke Ökumene“ – zu den Grünen vor allem ein, diese hätten sich „an den neoliberalen Mainstream angepasst“ und erwiesen sich „gegenüber Russland, eher als Scharfmacher im Sinne der Ideologie der ‚westlichen Wertegemeinschaft’“. Das sitzt aber mal so richtig! Wer es derartig präzise hinbekommt, in einem einzigen Satz zugleich einen für wirksame progressive Bündnisse völlig unverzichtbaren (noch dazu politisch aufstrebenden) Partner vor den Kopf zu stoßen und die freiheitlich-menschenrechtliche Tradition der eigenen Partei zu vergessen, dem liegt wirkliche „Ökumene“ am Ende vielleicht doch nicht allzu sehr am Herzen. Oder allenfalls zu den eigenen Bedingungen. Also im Grunde gar nicht.
Dasselbe gilt selbstverständlich für Sahra Wagenknecht in ihrer Eigenschaft als Gründerin und Drahtzieherin ihrer national-sozial eingefärbten und schon deshalb zutiefst antiprogressiven Aktion „Aufstehen“. Wagenknecht geht es erkennbar nicht darum, das gesellschaftliche und politische Spektrum links der Mitte zu „sammeln“, zusammenzuführen, zu integrieren und insgesamt zu stärken. Nicht zufällig versteht man die zutiefst machtpolitischen Zwecke, die Wagenknecht mit der Operation „Aufstehen“ verfolgt, in ihrer eigenen Partei wesentlich besser als in manchen eher leichtgläubigen sozialdemokratischen Kreisen. Tatsächlich ist die Lage innerhalb der richtungspolitisch blockierten Linkspartei verfahren. Mit ihrem politischen Projekt ist Wagenknecht dort seit Jahren nicht mehrheitsfähig. Es geht weder vor noch zurück. Deshalb sollen nun mit Hilfe der simulierten Volksbewegung „Aufstehen“ nützliche Menschen von außerhalb der Linkspartei „eingesammelt“ werden, um Druck auf die Willensbildung der Linkspartei auszuüben und deren interne Machtbalance endlich in Richtung des Wagenknecht-Flügels zu verschieben.
Es könnte sein, dass sich Wagenknecht tatsächlich einbildet, mit einer auf ihrem Kurs segelnden Linkspartei werde sie in der Lage sein, Wähler aus dem Lager der AfD zurück zu locken. Sehr wahrscheinlich ist das zwar nicht, wie nicht zuletzt das erschütternde Fanal von Chemnitz nahelegt. Aber ob mit oder ohne Erfolg: Eine in irgendeinem Sinne progressive Partei wäre diese Wagenknecht-„Linke“ mit absoluter Sicherheit weniger denn je. Entlang der entscheidenden gesellschaftlichen Konfliktlinie unserer Zeit zwischen freiheitlicher Demokratie und Autoritarismus, zwischen Offenheit und Abschottung stünde sie auf der verkehrten Seite.
Und damit zurück zum Ausgangspunkt. Ja, die Lage ist ernst, viel steht auf dem Spiel. Und genau darum ist es so wichtig, dass links der Mitte neue progressive Bündnisse in Gesellschaft und Politik zusammenfinden. Denn jeweils alleine und für sich werden weder geschwächte Sozialdemokraten noch gestärkte Grüne, weder sozialliberale Freidemokraten noch freiheitlich gesinnte demokratische Sozialisten oder weltoffene christliche Demokraten die autoritäre Welle bändigen, die gerade mit voller Wucht auf sie alle gemeinsam zurollt. Wollen diese und andere Kräfte wirksam zusammenkommen, dann werden sie im Umgang miteinander ganz bestimmte „progressive Sekundärtugenden“ an den Tag legen müssen. Dazu gehören Großzügigkeit, Wohlwollen und Freundlichkeit sowie der unbedingte Wille zur Kooperation und zum Kompromiss – um des einen übergeordneten Wertes willen, den zu verteidigen allen Progressiven gemeinsam heute am allerwichtigsten sein sollte. Im Zweifel für die Freiheit.
Lesen Sie in dieser Debatte auch die Beiträge von Peter Brandt und Ludger Volmer.