Die Sicherheitslage in Afghanistan ist weiterhin prekär, zuletzt sind die Opferzahlen sogar deutlich gestiegen. Ist ein Rückzug der Kampftruppen wirklich zu verantworten? Droht Afghanistan dann nicht ein Staatszerfall?
Ich möchte ungern über ein „worst case scenario“ spekulieren. Deutschland und die internationale Gemeinschaft werden alles daran setzen, dass Afghanistan in die Lage versetzt wird, dauerhaft für seine eigene Sicherheit zu sorgen und den Menschen im Land eine friedliche Perspektive zu bieten. Dazu gehört auch ein innerafghanischer Dialogprozess, der alle relevanten Akteure mit einbezieht. Anders wird der jahrzehntelange Bürgerkrieg nicht zu überwinden sein.
Natürlich ist die Bilanz unseres Engagements in Afghanistan sehr gemischt. Unsere Ziele in Afghanistan waren hochgesteckt. Vielleicht waren sie auch zu hoch gesteckt. Wir sind in vielerlei Hinsicht unvorbereitet in diesen Einsatz gegangen. Afghanistan ist weiterhin eines der ärmsten Länder der Welt. Gewalt gegen Frauen ist weiterhin allgegenwärtig. Dies alles ist Teil der afghanischen Realität.
Gleichzeitig gibt es in Afghanistan wieder eine staatliche Ordnung und Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Die Kindersterblichkeit wurde halbiert, die Lebenserwartung der Menschen ist deutlich angestiegen. Heute besuchen mehr als 9 Millionen Kinder wieder eine Schule. Davon sind immerhin 1,4 Millionen Mädchen. Und es gibt ein funktionierendes Parlament. Alles in allem ist die afghanische Gesellschaft heute eine andere als noch vor 12 Jahren. Sie ist freier, pluraler und gebildeter.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es in den westlichen Gesellschaften schon seit vielen Jahren keine Mehrheit mehr für den Einsatz am Hindukusch gibt. Die Politik kann dies nicht ignorieren.
Trotz dieser Erfolge entspricht die Sicherheitslage nicht unseren Erwartungen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es in den westlichen Gesellschaften schon seit vielen Jahren keine Mehrheit mehr für den Einsatz am Hindukusch gibt. Die Politik kann dies nicht dauerhaft ignorieren. Die gestiegen Anzahl von gefallenen afghanischen Soldaten hängt vor allem mit der gestiegenen operativen Verantwortung der afghanischen Armee, der ANA, zusammen. Der Rückzug von ISAF ist ja bereits weit fortgeschritten und die NATO-Truppen sind daher weniger exponiert als in den vergangenen Jahren. Außerdem hat die internationale Gemeinschaft immer deutlich gemacht, dass es sich um einen zeitlich begrenzten Einsatz handelt. Eine Fortsetzung des militärischen Engagements wie bislang würde die Probleme im Land auch nicht dauerhaft lösen.
Stichwort öffentlicher Rückhalt in Deutschland: Wie lässt sich ein eventuell erneutes Entsenden von 600-800 deutschen Soldaten nach Afghanistan im Rahmen einer UN-mandatierte Mission „Resolute Support“ rechtfertigen?
Bei diesen Zahlen muss man den veränderten Auftrag beachten, den die Bundeswehrsoldaten haben werden. Nach 2014 geht es in erster Linie um die weitere Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte und nicht um einen Anti-Terroreinsatz. Aber selbstverständlich haben die entsandten Soldaten einen Anspruch auf eine Schutzkomponente, um sich vor möglichen Angriffen schützen zu können. Daraus ergibt sich die mögliche Zahl von 600-800 Soldaten. Genaue Zahlen stehen aber noch gar nicht fest.
Wir müssen auch nach dem Rückzug unserer Kampftruppen ein Partner für Afghanistan sein. Ich glaube, das werden die Wähler in Deutschland verstehen, schließlich gibt es eine breite Unterstützung für unser entwicklungspolitisches Engagement vor Ort. Aber auch die afghanische Seite ist Verpflichtungen eingegangen. Die deutsch-afghanische Vereinbarung von 2012 legt fest, dass eingegangene Verpflichtungen, insbesondere zur Verwirklichung der gemeinsamen Werte der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, zur Einhaltung der Prinzipien guter Regierungsführung, zur Reform der öffentlichen Verwaltung und zur Korruptionsbekämpfung durch die afghanische Seite umzusetzen sind.
Im Zuge des „Istanbul-Prozesses“ wurden im Jahr 2011 Afghanistans Nachbarn eingeladen, zur Stabilisierung Afghanistans beizutragen. Wie realistisch ist dies angesichts der regionalen Instabilität und anhaltenden Interessenskonflikten?
Ziel des Istanbul-Prozesses ist die Förderung einer konstruktiven politischen und wirtschaftlichen Beteiligung der Staaten der Region an den künftigen Entwicklungen in Afghanistan. Dabei wurden sechs konkrete vertrauensbildende Maßnahmen identifiziert. Diese umfassen die Bereiche Katastrophenhilfe, Terrorismusbekämpfung, Drogenbekämpfung, Handelskammern/ Handels- und Investitionsmöglichkeiten, Infrastrukturausbau, und den Bereich der Bildung.
Wir müssen auch nach dem Rückzug unserer Kampftruppen ein Partner für Afghanistan sein. Ich glaube, das werden die Wähler in Deutschland verstehen
Dieser Katalog bildet die Grundlage für einen Regionalmechanismus für Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in Afghanistan und Südasien. Dazu gibt es meines Erachtens keine Alternative. Eine politische Lösung ohne Einbeziehung aller Nachbarstaaten und machtpolitischer Akteure ist nicht möglich. Das gilt nicht zuletzt auch für den Iran, der in der Anfangsphase des Krieges gegen die Taliban eine konstruktive Rolle gespielt hat. Die Nachbarstaaten dürfen nicht aus ihrer Verantwortung für die regionale Stabilisierung entlassen werden. Misslingt dies, hätte dies zwangsläufig auch Auswirkungen auf Art und Umfang unseres Engagements.
Welche Beiträge kann Deutschland zu einer konstruktiven regionalen Kooperation und zur Stabilisierung beitragen?
Deutschland ist drittgrößter bilateraler Geber und hat auch weiterhin eine koordinierende Rolle in der internationalen Afghanistanpolitik. Auch deshalb bin ich froh, dass wir mit Frank-Walter Steinmeier wieder einen Außenminister haben, der aktiv gestalten will. Ich bin sicher, dass sich das auch in der deutschen Afghanistanpolitik positiv auswirken wird. Vorsitzender der Internationalen Kontaktgruppe für Afghanistan ist der sehr erfahrene deutsche Diplomat Dr. Michael Koch. Diese Gruppe umfasst inzwischen rund 50 Staaten und Organisationen, darunter die Nachbarn Iran, Pakistan, Russland, China, Usbekistan, Tadschikistan, regionale Akteure wie die Türkei, Indien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sowie die Vereinten Nationen, NATO, EU und die Organisation der islamischen Staaten IOC. Diesen Weg werden wir konsequent fortsetzen. Deutschland wird sich seiner Verantwortung für Afghanistan nicht entziehen.
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