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Die Zeiten ändern sich. Wer vor 15 Jahren meinte, sich über Industriepolitik äußern zu müssen, sah sich dem Verdacht hoffnungsloser Rückständigkeit ausgesetzt. Schon die Industrie als solche wurde als ein sektorales Relikt aus dem 19. und 20. Jahrhundert angesehen, dem im 21. Jahrhundert der Dienstleistungen und Digitalisierung keine Zukunftschancen gegeben wurden. Diese Einschätzung hat sich seit der Finanzkrise, die mit dem Finanz – und Bankensektor einen der wichtigsten Dienstleistungssektoren in eine tiefe Krise gestürzt hat, grundlegend geändert. Nunmehr gilt es als zukunftsträchtig und vor allem als ökonomisch sichere Strategie, wenn eine Volkswirtschaft einen möglichst großen Industriesektor ausweisen kann. Besonders dringlich erscheint dies vor dem Hintergrund sich verschärfender globaler Auseinandersetzungen um handelspolitische Vorteile namentlich seitens der USA und China.
Dies wird mittlerweile insbesondere vom Wirtschaftsminister als Aufforderung interpretiert, bestehende Industrien durch wirtschaftspolitisch flankierte Modernisierung zu erhalten. Dazu gehört es, nationale Champions zu fördern, deren Wettbewerbsfähigkeit gegenüber globalen Konzernen gestärkt werden soll. Dies ist der Kern vieler industriepolitischer Vorstellungen.
Diese Vorgehensweise, so nachvollziehbar sie auf den ersten Blick angesichts staatlich geförderter globaler Konkurrenz insbesondere durch die USA und China ist, geht in Wirklichkeit am Kern des Problems vorbei. In Wahrheit wissen wir nämlich nicht, welcher Sektor in Zukunft für Wachstum und Beschäftigung bedeutsam sein wird. Mit der vorgeschlagenen Strategie kann dies dazu zu führen, dass Ressourcen an den falschen Stellen eingesetzt und letztlich vergeudet werden. Hindert man zudem auf diese Weise den Wettbewerb, trägt teilweise der Endverbraucher die Lasten dieser Politik durch überhöhte Preise.
Eine sinnvolle Industriepolitik darf nicht von dem Wunsch nach Bestandserhaltung bereits existierender und ökonomisch bedeutsamer Unternehmen dominiert werden.
Insofern ist der Widerstand gegen eine solche Politik gleichfalls nachvollziehbar. Jedoch wäre Nichtstun und die Entscheidung dem Markt zu überlassen, anders als viele Ordnungspolitiker glauben, ebenfalls keine sinnvolle Alternative. Im Zweifel geschieht dann tatsächlich nichts oder zumindest zu wenig, weil den privaten Investoren die notwendige minimale Sicherheit in einem Meer von Unsicherheit über den weiteren technologischen Weg fehlt. Zudem ist das handelspolitische Dominanzstreben der USA und China evident. Unter diesen Umständen würde Nichtstun zu ökonomischem Machtverlust und technologischem Rückstand führen, mit den entsprechenden negativen Folgen für Wachstum und Beschäftigung.
Wie aber sähe eine sinnvolle Industriepolitik aus, die der prinzipiellen Unsicherheit künftiger Tendenzen gleichwohl Rechnung trägt? Eine entscheidende Voraussetzung ist, dass sie auf einem strategischen wirtschaftspolitischen Kalkül über die künftige Wirtschaftsweise fußt und nicht von dem verständlichen Wunsch nach Bestandserhaltung bereits derzeit existierender und unter Umständen ökonomisch bedeutsamer Unternehmen dominiert wird. Es geht also um eine strategische Industriepolitik.
Das Ziel einer solchen Politik sollte sein, in dem als strategisch sinnvoll angesehenen Bereich industrielle Produktionsformen zu etablieren. Früher verstand man darunter eine effiziente Massenproduktion, die räumlich konzentriert und arbeitsteilig ausgeführt wird. Im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung ist die räumliche Konzentration nicht mehr zwangsläufig. Vor allem wandelt sich die Bedeutung des Begriffs Massenproduktion. War dies früher viel vom Gleichen, so ist dies heute viel von Verschiedenem. Die Verschiedenheit richtet sich dabei nach den individuellen Kundenwünschen (mass customizing). Es geht also darum, Produktion und letztlich Beschäftigung zu fördern, die mittels geeigneter Verfahren in der Lage ist, große Stückzahlen mit individuellen Wünschen zu verknüpfen. Es ist offenkundig, dass dies nur mit anspruchsvollen digitalen Verfahren und Big Data-Anwendungen möglich sein dürfte.
Die Erstellung einer flächendeckenden und anspruchsvollen digitalen Infrastruktur ist notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Industriepolitik.
Industriepolitik kann über zwei Wege geschehen. Der erste ist, die Angebotsbedingungen positiv zu gestalten, um eine hohe Produktivität überhaupt möglich zu machen. Der zweite ist, durch öffentliche Nachfrage nach den Produkten über hohe Stückzahlen dazu beizutragen, diese hohe Produktivität auch zu realisieren. In beide Richtungen sollte die Politik agieren, denn nur die Kombination aus günstigen Angebotsbedingungen und hoher staatlicher Nachfrage verspricht Erfolg. Ohne günstige Angebotsbedingungen kann selbst bei hoher staatlicher Nachfrage keine wettbewerbsfähige Industrie entstehen. Umgekehrt kann ohne hohe staatliche Nachfrage eine prinzipiell wettbewerbsfähige Industrie ihre produktiven Fähigkeiten gar nicht erst entfalten und kommt im globalen Wettbewerb von Anfang an nicht zum Zuge. Gefragt ist somit eine Zwei–Säulen-Strategie, die beides ins in Blickfeld nimmt: Angebot und Nachfrage.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich zumindest für die Angebotsseite eine klare Schlussfolgerung, welchen Weg die Industriepolitik in Deutschland einschlagen sollte. Die Erstellung einer flächendeckenden und anspruchsvollen digitalen Infrastruktur ist notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Industriepolitik. Die vollständige räumliche Abdeckung ist aus zwei Gründen wichtig. Erstens trägt sie zur dringend notwendigen Entzerrung von Produktionsprozessen und den ihnen folgenden Binnenmigrationsströmen bei. Zweitens verschafft sie Unternehmen einen größeren regionalen Freiraum beim Aufbau von Wertschöpfungsketten und mindert die Unsicherheit der Standortwahl. Das sollte sich positiv auf die Wettbewerbsfähigkeit auswirken. Industriepolitik als Angebotspolitik ist also primär Investitionspolitik.
Weniger offensichtlich ist ein Konzept für eine industriepolitische Förderung durch öffentliche Nachfrage, weil hierzu wichtige wirtschaftspolitische Entscheidungen nötig sind. Strategisch sinnvoll wäre es, wenn die Wirtschaft in Deutschland sich wieder zum Vorreiter nachhaltigen und sozialen Wirtschaftens aufschwingen würde. Dies impliziert die Herstellung möglichst rohstoffschonender und emissionsarmer Produkte unter sozialen Bedingungen, die die Beschäftigten an den Renditen dieser Vorgehensweise teilhaben lässt.
Hier gibt es viele Ansatzpunkte, die bereits von anderen genannt wurden. Es beginnt mit der Förderung erneuerbarer Energien, die bereits in vollem Gang ist, geht über damit kompatible Antriebsformen und rohstoffsparende und emissionsarme Produktionsverfahren bis hin zu deren emissionsarmer Konsumption. Dabei besteht kein Gegensatz zwischen einer horizontalen Förderung ganzer Sektoren und der vertikalen Förderung von Wertschöpfungsketten, solange sie den Zielvorstellungen genügen und den Wettbewerb nicht bremsen.
Es geht um die Etablierung einer Massenproduktion ökologischer und sozialer Güter. Dies ist angesichts der teilweise noch auf Manufaktur-Niveau befindlichen Produktion ein ehrgeiziges Vorhaben.
Dies alles muss von Regulierungen begleitet werden, die verhindern, dass die Umstellung der Wirtschaftsweise mit verschlechterten Arbeitsbedingungen erkauft würde. Dies würde zu Recht Widerstand hervorrufen, der den ökologischen Fortschritt behindert oder gar verhindert. Warum setzt man sich also nicht das Ziel z.B. das Gut „Mobilität“ bis zu einem festgelegten Jahr ökologisch und sozial in diesem Sinne zu erzeugen? Ähnliches könnte man sich für „Wohnen“ vornehmen.
Entscheidende Aufgabe der Industriepolitik in diesem Kontext ist es, über eine hohe öffentliche oder öffentlich induzierte private Nachfrage zu helfen, derartige ökologische Produktionsprozesse im oben beschriebenen Sinne zu industrialisieren. Es geht also um die Etablierung einer Massenproduktion ökologischer und sozialer Güter. Dies ist angesichts deren teilweise noch auf Manufaktur-Niveau befindlichen Produktion ein ehrgeiziges Vorhaben. Industriepolitik als Nachfragepolitik ist also vor allem Industrialisierungspolitik.
Die industriepolitischen Maßnahmen sollten, sofern mit Geldzahlungen verbunden, von vorneherein befristet sein, damit die Begünstigten sich nicht auf eine dauerhafte Unterstützung einstellen. Vielmehr müssen sie sich darüber im Klaren sein, dass sie früher oder später im globalen Wettbewerb aus eigener Kraft bestehen müssen. Um dies zu unterstreichen, ist eine degressive Ausgestaltung der Förderung sinnvoll.
Ein derartiges industriepolitisches Konzept verpufft, wenn sich die Förderung anfänglich nicht auf in Deutschland ansässige Unternehmen oder Neugründungen von Unternehmen beschränkt. Wie die Entwicklung der Solarzellenindustrie zeigt, ist auch diese keine Garantie für Erfolge, aber zumindest eine gute Chance. Besser noch wäre es, man würde ein solches Programm aus europäischer Perspektive auf dem noch größeren europäischen Binnenmarkt mit der Produktion öffentlicher europäische Güter versuchen. Dies verlangt aber zwingend nach einem hinreichen großen EU-Budget, das kurzfristig nicht erkennbar ist. Das aber würde die Wirkung vervielfachen. Idealiter müssten ökologisches und soziales Wirtschaften sogar im globalen Maßstab geschehen. Doch dieses Ideal ist seit dem Aufkeimen nationalistischer Wirtschaftspolitik in jüngster Zeit derzeit fern jeder Erreichbarkeit.