In EU-Europa scheinen Sezessionen etwas Altertümliches an sich zu haben. Sie erinnern an die Zeit der Herausbildung und Konsolidierung von Nationalstaaten, die in der Europäischen Union zwar nicht verschwinden sollen, deren Bedeutung aber durch die europäische Integra­tion relati­viert wird. So jedenfalls das jahrzehntelang vorherrschende Paradigma. Die Wel­le von Se­zessionen, die Jugoslawien zerriss, stieß in EU-Europa auf Verwunderung, konn­te aber (eher zu Unrecht als zu Recht) mit den besonderen ethnischen Verhältnissen auf dem Bal­kan er­klärt wer­den. Doch auch innerhalb der EU sind separatistische Kräfte in den letzten Jah­ren stär­ker ge­worden: In Norditalien, Schottland, Flandern und Katalonien for­dern sie die Sezes­sion ihres Landesteils aus dem übergeordneten Staatsverband. Drei dieser vier sezes­si­ons­wil­ligen Regionen sind dabei reicher – in ihrer Selbstinterpretation: wirt­schaftlich lei­stungs­­fähiger – als der Staat, den sie verlassen wollen. Sie transferieren unfreiwil­lig einen Teil ihrer Ein­kom­men an ärmere Landesteile. Die geforderte Separa­tion ist also in drei von vier Fällen gleich­­be­deu­tend mit der of­fe­nen Auf­kündigung der materiellen Solidarität mit den ärmeren Bürgern des Gesamtstaates.

In gewisser Hinsicht se­hen sich viele Katalanen sogar als die „eigentlichen“ Europäer auf der Iberischen Halbinsel.

Die Umverteilung zwischen reicheren und ärmeren Regionen findet nicht nur in vielen demo­kra­tischen Staaten statt, sie ist auch ein Prinzip der EU, in der die regionalen Lebens­ver­hält­nis­se „gleichwertig“ sein sollen (was immer das heißt). Für Katalonien ist daher bemer­kens­wert, dass auf der einen Seite die geforderte Separation von Spanien wirtschaftlich be­grün­det wird: mit den „Fiskalsalden“ zwischen Region und Zentralstaat, also dem Verhältnis der ge­zahl­ten Steuern und bezogenen Leistungen. Für Katalonien soll dies negativ sein und zurzeit fünf Pro­zent des katalanischen Sozialprodukts ausmachen. Auf der anderen Seite ist die Unab­hängigkeitsbewegung (bis jetzt) aktiv pro-europäisch: Auf den großen Demonstrationen ist die euro­pä­ische Fahne fast ebenso allgegenwärtig wie die katalanische. In gewisser Hinsicht se­hen sich viele Katalanen sogar als die „eigentlichen“ Europäer auf der Iberischen Halbinsel. Ihre Re­gion gehörte zum Frankenreich, als Spanien noch von arabischen Herrschern regiert wurde.

Diese demonstrativ pro-europäische Haltung scheint mit dem offenen Wohlstands-Separatismus nicht recht zusammenzupassen. Und doch macht gerade diese innere Widersprüchlichkeit den Charakter der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung aus. Auf der einen Seite ist sie durch ein kleinkariertes Aufrechnen von Steuern und Infrastruktur-Kosten und auf der anderen Seite durch Massendemonstrationen und Menschenketten gekennzeichnet, de­nen ein genuin de­mo­kratischer Impuls kaum abgesprochen werden kann. Motto ist das „Recht auf Entschei­dung“ – auf die Entscheidung der Bürger darüber, in welchem Land sie leben wollen. Allerdings wird damit auch das Recht in Anspruch genommen, über eine radikale Veränderung der Lebens­­wirklichkeit anderer zu entscheiden. Nämlich über die Lebenswirklichkeit der wahrscheinlich starken Min­der­heit der Unab­hän­gigkeitsgeg­ner in Katalonien und der Spanier, Basken und Ga­li­zier in Spanien, deren ge­meinsamer Staat mit der Sezession Kataloniens um einen lebenswichtigen Teil am­pu­tiert wür­de.

 

Ein Produkt der Krise

Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung in ihrer jetzigen Form ist jüngeren Datums – ob­wohl deren Protagonisten 300 Jahre der Ausbeutung durch „Kastilien“ beklagen. Sie ist ein Re­sultat der wirtschaftlichen Krise, in der Solidarität mit den ärmeren Regionen Spaniens ein untragbarer Lu­xus zu sein scheint. So wie Spanien in der Krise jede Ent­wicklungshilfe einstellte, so stellt Katalonien in der Krise die Hilfe für die weniger entwickel­ten Regionen Spaniens ein. Doch die Krise ist nicht allein wirtschaftlicher Natur, sie hat fast alle In­stitutionen und Akteure des Landes erfasst, von der Monarchie bis zu den bei­den gro­ßen, auf nationaler Ebene agierenden Parteien, von der Justiz bis zu den Medien. In einer generellen Glaubwürdigkeitskrise verlagert sich die Loyalität fast auto­ma­tisch auf neue Ak­teurs­gruppen, die nicht dem etablierten „System“ zuzurechnen sind. Die katalanische Unab­hän­gig­keits­be­we­gung ist nur eine dieser neuen Akteursgruppen. Andere sind die Jugendbewegung der „Empörten“, deren Partei aus dem Stand heraus zur viertstärksten Kraft wurde, oder die sogenannten „Ma­reas“, die oppo­si­tio­nellen „Ein­­punktbewegungen“, die Veränderungen im Gesundheits- oder Bil­dungswesen erzwin­gen wol­len. Zu erwähnen sind hier auch die sich radika­li­sierenden Nachbarschaftsorganisationen, Vereine, die sich unter normalen Umständen um die öffentlichen Belange des Stadtteils kümmern, 2014 aber mehrfach gewaltsamen Protest organisierten.

Für die Protagonisten der Unabhängigkeit können die Auseinandersetzungen kein anderes Er­geb­nis haben als eben die uneingeschränkte Unabhängigkeit – was Verhand­lun­gen im Grunde über­flüs­sig macht.

Zweitens ist die Unabhängigkeitsbewegung das Produkt zweier einander aufschaukelnder Na­tionalismen: des katalanischen und des spanischen. Katalysator der Bewegung war ein Urteil des spanischen Verfassungsgerichts, das Teile des im katalanischen und spanischen Parlament verab­schie­deten und durch ein Referendum in Katalonien bestätigten Autonomie-Status für ver­fassungs­widrig erklärte. Den Prozess eingeleitet hatte die die selbsternannte Verkörperung des spanischen Zentralstaats: die regierende konservative Volks­partei (PP). Auf das Urteil re­agierten die Katalanen mit der ersten großen Massendemonstration, an der sich am 10. Juli 2010 zwischen ei­ner und ein­einhalb Millionen Menschen beteiligten. Damit wurde eine Spirale der kontinuier­lichen Selbstüberbietung in Bewegung gesetzt: Immer mehr Menschen in immer längeren Men­­­schenketten und auf immer höheren Menschentürmen, immer mehr Fahnen, immer radi­ka­lere Forderungen.

 

Verhandlungen oder Zusammenstoß?

Am 9. November werden die Katalanen im Rahmen eines Referendums oder einer vorgezoge­nen Wahl entscheiden müssen, ob Katalonien ein Staat ist und ob dieser Staat unab­hängig sein soll. Das Referendum oder die Wahl schaffen keinen neuen Staat, sie sind eine Willens­kund­ge­bung und damit – im besten Fall – der Ausgangspunkt von Verhandlungen über den Austritt oder den Verbleib im spanischen Staatsverband. Doch das Klima für konstruktive Ver­handlungen ist denkbar schlecht. Für den Zentralstaat liegt der Verfassung eine „unteilbare spanische Na­tion“ zugrunde, die eine Sezession – und Verhandlungen über eine Sezession – grundsätzlich nicht zulässt. Und für die Protagonisten der Unabhängigkeit können die Auseinandersetzungen kein anderes Er­geb­nis haben als eben die uneingeschränkte Unabhängigkeit – was Verhand­lun­gen im Grunde über­flüs­sig macht.

Völlig offen ist, was geschieht, wenn es zu keiner Verhandlungslösung kommt, weder zu einer verhandelten Sezession nach dem Muster der Tschechoslowakei, noch zu einem verhandelten Verbleib Kataloniens in Spanien im Rahmen einer föderalen oder konföderalen Ordnung. Wird der Zentralstaat die Armee einsetzen, die Regional­regie­rung auflösen und die Autonomie au­ßer Kraft setzen? Werden die Protagonisten der Unabhängigkeit nach deren einseitiger Aus­ru­fung Straßen, Bahnhöfe und Grenzen be­setzen? Dann könnte sich das oft beschworene Bild des Ver­hältnisses zwi­schen Spanien und Katalonien als das zweier aufeinander zurasender Züge als an­­gemes­sene Beschreibung erweisen.