Sie haben sich auf fast 1 000 Seiten mit dem Konzept der Menschenrechte in der internationalen Politik befasst. Der Titel lautet „Die Ambivalenz des Guten“. Was ist an Menschenrechten ambivalent? Dass sie verletzt werden?

Menschenrechte sind eine deutungsoffene Vorstellung. Sie können unterschiedlich und sogar widersprüchlich ausgelegt werden – davon legt die Geschichte der letzten knapp siebzig Jahre in all ihrer Konflikthaftigkeit ein beredtes Zeugnis ab. Ambivalent ist die Politik, die mit Menschenrechten betrieben worden ist. Das zeigt sich, wenn man die Beweggründe untersucht, aus denen heraus sich Aktivisten und Politiker für Menschenrechte eingesetzt haben. Der Wunsch, „fernen Anderen“ zu helfen, ist selten der einzige Impuls gewesen. Die Supermächte im frühen Kalten Krieg etwa verfolgten in erster Linie die Absicht, den Gegner im Systemwettbewerb zu schwächen, indem sie dessen Menschenrechtsverletzungen beklagten. Diejenigen westlichen Regierungen, die in den siebziger Jahren begannen, den Menschenrechtsschutz zu einem integralen Ziel des auswärtigen Handelns zu erklären, bemühten sich um eine moralische Relegitimierung ihrer Außenpolitik; doch ging es ihnen auch um eine verbesserte Sicherheitspolitik im Zeitlater der „Interdependenz“, in dem von regionalen Konflikten neue Gefahren auszugehen schienen. Auch die Politik von NGOs war ambivalent: Es war ihnen ein Anliegen, die Leiden anderer Menschen zu lindern, doch sahen viele Aktivisten in ihrem Engagement vor allem auch eine Form, sich selbst moralisch rein zu halten. Während sie die Öffentlichkeit über Verbrechen anderer Staaten aufklärten, erschienen Repressionen in ihren Darstellungen oft entkontextualisiert. Unterschiede zwischen verschiedenartigen Regimen konnten sich leicht verwischen. Schließlich waren auch die Folgen menschenrechtspolitischen Handelns oft uneindeutig. Die Opfer staatlicher Unterdrückung erhielten materielle Hilfe und moralischen Beistand, doch manche wurden nur um so schärfer verfolgt. Viele verbrecherische Regime wurden öffentlich stigmatisiert, doch die wenigsten ließen deshalb von ihren gewalttätigen Projekten ab.

Trotz Stigmatisierung keine Verhaltensänderung – wie groß war in den vergangenen Jahren der tatsächliche Einfluss dieser Rechtsnormen? Leben wir in einer Zeit der „Allgemeinen  Verklärung der Menschenrechte“?

Alles in allem betrachtet, hat die Menschenrechtspolitik der letzten rund vierzig Jahre ein gewandeltes internationales Setting herbeigeführt. In diesem sind die Chancen gestiegen, dass politische Akteure auf Staatsverbrechen aufmerksam werden, dass diese tatsächlich auch als Verbrechen verstanden werden, und dass Druck auf Regierungen ausgeübt wird, die Menschenrechte verletzen. Das ist nicht wenig. Im Kern liegt das an einem Prozeß, den man als politische Fundamentalsensibilisierung für Menschenrechtsfragen bezeichnen könnte, und an neugeschaffenen medialen und institutionellen Möglichkeiten.

Alles in allem betrachtet, hat die Menschenrechtspolitik der letzten rund vierzig Jahre ein gewandeltes internationales Setting herbeigeführt.

Dennoch scheinen mir Menschenrechtsfragen heute kein ähnlich mobilisierendes Thema mehr zu sein wie in den siebziger oder neunziger Jahren. Damals entfachten sie mehr Leidenschaften, weckten größere Hoffnungen – und die Vorstellung universeller Menschenrechte wurde damals auch schärfer attackiert. Regierungen haben gelernt, was man tun und was man lassen sollte, um manchen Schwierigkeiten, die Menschenrechtspolitik mit sich bringt, aus dem Weg zu gehen. Schlagkräftige NGOs gibt es immer noch, doch finden sie oft nicht mehr die Resonanz, die sie früher einmal erzielten.

In den 1970er Jahren sehen Sie einen Wendepunkt in der Konjunktur der Menschenrechte im Regimewechsel in Chile 1973 und in Osteuropa nach der KSZE-Schlussakte. Welche Bedeutung hatten diese Ereignisse?

Beide Ereignisse sind Teil eines denkbar vielschichtigen Prozesses, in dem Menschenrechte während der siebziger Jahre ins Zentrum der internationalen Politik und Öffentlichkeit rückten. Die Proteste gegen die Militärdiktatur machten Chile zu einem der international am stärksten isolierten Länder der Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Motive und Ziele, die ausländische Aktivisten und Politiker dabei verfolgten, waren ganz unterschiedlich. Doch wurden Menschenrechte im Zuge dieser Proteste zu einer gemeinsamen Sprache, um die Repressionen des Regimes zu verurteilen. Das bedeutete einen immensen Popularisierungsschub. Für osteuropäische Dissidentengruppen entwickelte sich die KSZE-Schlußakte zu einem wichtigen Referenzpunkt. Er verschaffte ihnen eine Grundlage, um die diktatorischen Methoden der osteuropäischen Regierungen vor einer internationalen Öffentlichkeit anzuklagen. Die KSZE-Folgekonferenzen sorgten dafür, dass die internationale Aufmerksamkeit auf die Menschenrechtsverletzungen in Osteuropa gerichtet blieb. Eine direkte Linie zum Zusammenbruch des osteuropäischen Kommunismus am Ende der achtziger Jahre läßt sich gleichwohl nicht ziehen – dafür mußte vieles andere hinzukommen.

Besondere Bedeutung haben in diesem Prozess immer wieder auch Organisationen wie Amnesty International gespielt. Weshalb waren diese so zentral? Und warum sind sie es heute nicht mehr?

Amnesty International war bis weit in die achtziger Jahre eine singuläre Organisation – in ihrer Arbeitsweise wie auch in ihrer Wirkung. Wenn man den Bedeutungsgewinn, den Menschenrechtspolitik in den siebziger und achtziger Jahren erlebte, an einzelnen Akteuren festmachen möchte, so gehört Amnesty zu den entscheidenden. Amnesty hat der Informationspolitik im Menschenrechtsbereich neue Dimensionen erschlossen. Es hat sich in einen Magnet für Aktivistinnen und Aktivisten verwandelt, der viel zum Entstehen einer Menschenrechtsbewegung beigetragen hat. Schließlich hat es das Bewußtsein einer breiten internationalen Öffentlichkeit für „Menschenrechtsverletzungen“ – den Begriff und bestimmte Formen von Verbrechen – immens gesteigert.

Amnesty hat der Informationspolitik im Menschenrechtsbereich neue Dimensionen erschlossen.

Darin sehe ich die langfristig bedeutsameren Wirkungen Amnestys als in seinem Beitrag zum Wandel repressiver Regime. Heute ist Amnesty informationspolitisch nach wie vor zentral – erst jüngst hat es für einige Berichte hohe mediale Aufmerksamkeit erhalten. Als Massenbewegung mit (innen-) politischer Veränderungskraft erscheint es dagegen heute weniger bedeutsam als in den siebziger und achtziger Jahren.

Ist das nicht ein allgemeiner Trend? Das Fazit Ihrer Studie ist skeptisch: Es sei „keineswegs gesagt, dass sich ein moralischer Referenzpunk herausgebildet“ habe. Sie warnen vor „trügerischen Gewissheiten“. Sind Menschrechte noch immer so anfällig?  

Mir geht es darum, bewusst zu machen, daß Menschenrechtspolitik ein historisches Produkt ist – abhängig von politischen und gesellschaftlichen Bedingungen, die sich wandeln. Einen fortgesetzten „Aufstieg“ der Menschenrechtspolitik gibt es nicht – es hat ihn auch niemals gegeben. Ob sie in der Zukunft wichtig bleibt, und in welcher Form, ist nicht ausgemacht – das kann nur das Ergebnis eines politischen Prozesses sein, auf den man einwirken muss, wenn einem daran liegt. Im übrigen haben wir seit dem Ende des Kalten Kriegs erlebt, dass die Gewalt nicht aus der Weltpolitik verschwunden ist. Das letzte Vierteljahrhundert war voller verheerender Kriege, grausamer Genozide und „ethnischer Säuberungen“ und hat neue Terrorherrschaften hervorgebracht. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, sind Menschenrechte tatsächlich nach wie vor anfällig, oder besser gesagt, Menschen immer noch existenziell bedroht.