Die Fragen stellte Vanessa Wagner

Im Jahr 2017 begannen englischsprachige Separatisten gegen die frankophone Zentralregierung von Kamerun zu rebellieren. Seitdem kommt es regelmäßig zu bewaffneten Zusammenstößen im Land. Wie sieht die aktuelle Lage aus?

In Kamerun gibt es aufgrund der kolonialen Vergangenheit zwei Sprachgemeinschaften: eine englischsprachige Minderheit, die 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, und eine Mehrheit von 80 Prozent, die Französisch spricht. Kamerun ist ein bilinguales Land – die Zweisprachigkeit ist offiziell anerkannt und in der Verfassung verankert. Diese Diversität sollte eigentlich eine Stärke der kamerunischen Bevölkerung sein, führt aber zu Ungleichheiten zwischen den beiden Gemeinschaften. Hinzu kommen schlechte Regierungsführung, fehlendes Bürgerengagement, ungleiche Ressourcenverteilung, Armut und unzureichende Gesundheitseinrichtungen. Dadurch hat sich die Situation so verschlechtert, dass der englischsprachige Teil der Bevölkerung einen Assimilationsdruck fühlt. Die englischsprachigen Regionen sind daher 2017 dazu übergegangen, die Regierung zu bekämpfen und mehr Selbstbestimmung zu fordern.

Die Diversität sollte eigentlich eine Stärke der kamerunischen Bevölkerung sein, führt aber zu Ungleichheiten zwischen den beiden Gemeinschaften.

Die kamerunische Bevölkerung, vor allem in den englischsprachigen Gebieten und in den angrenzenden Regionen, erlebt ganz unmittelbar entmenschlichende Gewaltakte und Rechtsverletzungen, die sowohl von staatlichen als auch von nichtstaatlichen Kräften verübt werden. Dies führt zur Vertreibung Tausender Menschen in die benachbarten Regionen sowie nach Nigeria und Ghana. Rückblickend auf die sieben Jahre dieses Konflikts, von denen sechs Jahre von Gewalt geprägt waren, ist eine neue Dynamik festzustellen. Der Enthusiasmus und die Euphorie, die 2017 die Menschen motivierte, zu den Waffen zu greifen und sich gegen die Regierung zu wehren, sind verflogen. Die Menschen sind inzwischen müde geworden. Sehr viele, die dachten, der Konflikt werde in ein oder zwei Tagen beendet sein, wollen nicht mehr leiden und suchen nach Alternativen.

Wie sieht die Situation für Frauen und Kinder aus?

Frauen und Kinder sind stark belastet, denn der Konflikt betrifft sie massiv. Viele sind nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen. Durch den Konflikt erhöht sich ihre Betreuungsbelastung, weil sie die Rolle des „Familienoberhaupts“ übernehmen. Einige Frauen sind nicht einmal in der Lage, ihre Kinder zu ernähren. Um zu überleben, lassen sich mittlerweile viele von ihnen auf Transaktionssex ein. Gleichzeitig sind Frauen auch am stärksten von konfliktbedingter sexueller Gewalt betroffen.

Durch Missbrauch wird vermehrt ihre körperliche Selbstbestimmung verletzt. Die Zahl der Übergriffe ist extrem hoch, überall kommt es zu Vergewaltigungen, und Kinder bringen Kinder zur Welt. Zudem gehen viele Kinder schon seit sechs Jahren nicht mehr zur Schule. Wir versuchen zwar nach wie vor, das Bildungssystem wiederaufzubauen, aber eine qualitativ hochwertige Bildung können wir nicht garantieren. Im Nordwesten Kameruns gab es früher rund 18 000 Schülerinnen und Schüler, heute sind es nur noch 2 000. Selbst wenn man berücksichtigt, dass viele auf Schulen in anderen Regionen gehen, gibt es 8 000 Kinder, über deren schulischen Verbleib nichts bekannt ist. Das ist eine ganze Generation von Analphabeten, die weder eine formale Ausbildung noch eine geistige Bildung und auch keine andere Form von Wissenserwerb erhalten.

Im Juli 2021 fand die „Erste Nationale Frauen-Friedenskonferenz in Kamerun“ statt mit mehr als 1 800 Teilnehmerinnen aus allen zehn Regionen des Landes. Die Motti lauteten „Wir, die Frauen Kameruns, sehnen uns nach Frieden“ und „Lassen wir nicht länger andere für uns sprechen – sprechen wir für uns selbst“. Was war für Sie die Motivation, eine solche Konferenz zu organisieren?

Frauen und Mädchen wird in Kamerun traditionell die Rolle von Friedensstifterinnen und Friedensvermittlerinnen zugewiesen. Das heißt, die meisten Frauen haben innerhalb ihrer Familie oder Gemeinschaft bereits Konflikte gelöst. Wir sollten nicht vergessen: Männer, die eine Führungsposition anstreben, bauen ihre Macht aus und üben Kontrolle aus.

Wenn Frauen nach einer Führungsrolle streben, tun sie es allein aus dem Grund, dass sie überleben wollen.

Wenn Frauen nach einer Führungsrolle streben, tun sie es allein aus dem Grund, dass sie überleben wollen. Sie brauchen Freiräume, damit sie sich entwickeln können. Die Frauen in Kamerun arbeiten seit jeher zusammen und nutzen ihr indigenes Wissen. Aus diesem Bewusstsein heraus haben wir angefangen, uns zusammenzutun. Zunächst haben wir gemeinsame Aktionen auf ganz unterschiedlichen Ebenen organisiert, bis wir uns schließlich auf die regionale Ebene vorgearbeitet haben. Auf der Ersten Nationalen Frauen-Friedenskonferenz wurde uns bewusst, dass es an der Zeit ist, die vielen Kraftquellen, die vielen Formen, in denen Frauen sich gegen Gewalt zur Wehr setzen, auf einer nationalen Plattform zu bündeln, wo wir miteinander diskutieren und Strategien entwickeln können.

Welche Konsequenzen ergaben sich daraus – speziell für Frauen?

Frauen wurden im Netz und im realen Leben angegriffen, und man hat versucht, sie zu instrumentalisieren. Wir wurden unter Druck gesetzt, zum Schweigen gebracht und tätlich angegriffen. Für viele Mächtige bedeutet „Frieden schaffen“, dass sie keine Geschäfte mehr machen können. Diese Leute sind nicht bereit, auf ihre Macht, ihr Geld oder ihre Kontrolle zu verzichten. Deshalb werden Frauen, die die Schäden zu beseitigen versuchen, den diese Männer in ihren Gemeinschaften anrichten, zur Zielscheibe. Als wir uns zusammentaten, war uns klar, dass wir solche Probleme bekommen würden, und wir haben uns darauf vorbereitet – zum Beispiel durch Selbstverteidigungskurse. Wir haben an unserer Konfliktsensibilität gearbeitet, damit wir diese Herausforderungen bewältigen können.

2022 haben Sie simulierte Friedensverhandlungen mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen geführt. Was wollten Sie damit erreichen? Und welche Forderungen haben Sie gestellt?

Wir wollen nachhaltigen Frieden. Außerdem fordern wir für die Zukunft eine stärkere Unterstützung für die Friedensstifterinnen in Kamerun. Wir brauchen fachlichen Support in den Bereichen, in denen uns das erforderliche Know-how fehlt. Zudem sollten Frauen über flexible Finanzierungsquellen verfügen, damit sie sich zum Beispiel psychologischen Beistand besorgen können, wenn sie angegriffen werden. Frauen müssen auch unterstützt werden, damit sie mit Hilfe des sogenannten „Maßnahmenpakets für Demokratie und politisches Handeln“ gegen Konfliktursachen vorgehen können. Außerdem sollten wir uns um ein Machtgleichgewicht bemühen, das soziale Gerechtigkeit für alle gewährleistet. Dabei müssen wir strategisch darauf hinarbeiten, dass in unseren Gemeinschaften Geschlechtergleichheit und Chancengleichheit verwirklicht werden.

Was muss über das bereits Erreichte hinaus passieren, damit die Perspektive von Frauen ernst genommen wird, damit Frauen mit am Verhandlungstisch sitzen und am Friedensprozess mitwirken können?

Als Erstes sollten wir die ureigene Expertise von Frauen anerkennen. Den Friedensstifterinnen sollte ein bestimmter Freiraum zugestanden werden, indem nicht schon im Voraus definiert wird, was „Frauen-Friedensarbeit“ im globalen Maßstab zu sein hat, sondern indem die praktische Umsetzung des Konzepts in unseren Gemeinschaften gewürdigt und gefördert wird.

Wir sollten anerkennen, dass Frauen Teil des Friedensprozesses sind und für ihre Arbeit meistens keine Wertschätzung erfahren.

Wir sollten anerkennen, dass Frauen Teil des Friedensprozesses sind und für ihre Arbeit meistens keine Wertschätzung erfahren. Frauen sollten grundsätzlich an offiziellen Prozessen mitwirken – zum Beispiel als Friedensvermittlerinnen. Das Mindeste ist, dass wir die kleinen Taten aufwerten, die Frauen vollbringen – jenes Stück Frieden, das jede Gemeinschaft sich wünscht.

Was können Frauen in aller Welt von den Frauen in Kamerun lernen?

Kameruns Frauen haben ihre Resilienz bewiesen. Sie treten beharrlich für die friedliche Beilegung von Konflikten ein und setzen sich so intensiv für den Frieden ein, dass kein Akteur sie mehr ignorieren kann. Sie haben auf lokaler Ebene Gleichgesinnte zusammengebracht und die Überleitung auf die nationale Ebene geschafft. Sie sind ein entscheidender Akteur, eine Stimme und eine Kraft, die Anerkennung verdient. Frauen in aller Welt sind alle auf ihre jeweils eigene Weise einzigartig. Doch was alle Frauen auf dieser Welt von den kamerunischen Frauen lernen können, ist dies: Es verleiht ihnen Kraft, wenn sie sich als Schwestern verstehen, an die Gemeinschaft glauben, sich organisieren, die Stimme erheben, sich mit vereinten Kräften für das Gemeinwohl starkmachen – und wenn sie viele sind.

Aus dem Englischen von Christine Hardung