Die Fragen stellte Philipp Kauppert.
In der neu erschienenen Mitte-Studie der FES ist die erste gute Nachricht, dass die deutlich überwiegende Mehrheit der Deutschen weiter demokratisch eingestellt ist. 76 Prozent lehnen explizit rechtsextreme Einstellungen ab. Reicht das aus, um positiv in die Zukunft zu blicken?
Ja und nein. 76 Prozent sind eine stabile Grundlage, aber dass fast ein Viertel der Deutschen bei dieser Frage zumindest indifferent ist, ist eine zu hohe Zahl. Deshalb gilt: Die demokratischen drei Viertel der Gesellschaft sind gefordert, die anderen von der demokratischen Sache zu überzeugen. Dabei gibt es allerdings eine Gefahr: Diese Mehrheit besteht aus sehr unterschiedlichen politischen Strömungen, von neoliberal bis sozialistisch. Wenn sie sich nur auf einen Minimalkonsens gegen rechts einigt, droht sie konturlos zu werden. Wir müssen also lernen, gemeinsam für die Demokratie zu streiten, und gleichzeitig unsere Unterschiede in Grundüberzeugungen und Politikansätzen deutlich zu zeigen. Wenn das gelingt, ist die Demokratie stabil.
Ein weniger positives Ergebnis der Studie ist das wachsende Misstrauen in die Demokratie und ihre Institutionen. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen – auch mit Blick auf die Bundesregierung und die Parteien der sogenannten demokratischen Mitte?
Der alltägliche Blick in die Nachrichten ist schwer erträglich – selbst für Berufspolitiker. Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht ständig mit Politik beschäftigen, fühlen sich hingegen von den Nachrichten regelrecht überfordert. Früher sagten viele: „Was die da in Berlin machen, betrifft mich doch nicht.“ Das hat sich geändert. Heute spüren die Menschen: Ich bin betroffen. Gleichzeitig empfinden sie: Ich kann es nicht beeinflussen. Und dann folgt der Gedanke: Dafür gibt es doch Politiker – aber die schaffen es ja auch nicht. Diese Wahrnehmung führt zu einem angstbesetzten Misstrauen, auf das demokratische Parteien in der westlichen Welt bislang nicht ausreichend reagieren, und damit lassen sie den Extremisten Platz für ihre radikale antidemokratische Agenda.
Vertrauen wächst nur, wenn man die Realität beschreibt, statt sie zu beschönigen.
Zwei Dinge sind entscheidend: Erstens müssen wir anders kommunizieren. Ehrlich sagen: Ja, die Lage ist instabil, und es gibt keine schnellen Lösungen – aber wir arbeiten daran. Vertrauen wächst nur, wenn man die Realität beschreibt, statt sie zu beschönigen. Zweitens: Viele Alltagsbelastungen kann der Staat sehr wohl verbessern – aber im Moment wirkt es für viele so, als passiere das nicht. Steffen Mau hat es treffend gesagt: Wenn die Bahn immer zu spät kommt, zerstört das auch das Vertrauen in die Demokratie. Wenn es keinen funktionierenden ÖPNV mehr gibt, obwohl du drei Kinder hast und leider nicht vier Chauffeure beschäftigen kannst – das ist Demokratiezerstörung. Wenn Schulen marode sind, Pflegeplätze fehlen, und Kitas kein Personal haben – das alles zerstört Demokratie, weil es das Vertrauen in staatliches bürgerzentriertes Handeln untergräbt. Viele Menschen glauben, dass die Politiker gar nicht mehr wissen, wie es ist, wenn man einen normalen Job hat, sich an die Regeln hält und Kinder großzieht. Vertrauen für Demokratie zurückzugewinnen heißt, ehrlich zu sagen, dass Veränderungen Zeit brauchen – und zugleich die Alltagsprobleme dieser Menschen ernst zu nehmen.
Die Mitte-Studie zeigt außerdem eine zunehmende Polarisierung. Wie können wir als Gesellschaft damit umgehen – und vor allem: Wie lässt sich verhindern, dass sich Menschen weiter abwenden, etwa in Richtung Rechtspopulismus?
Die Konjunkturritter der Angst wollen keinen Dialog. Sie haben eine apodiktische Meinung, und wer widerspricht, ist ein Feind. Kompromisse sind nicht vorgesehen. Das ist die Zerstörung demokratischer Kultur. Demokratie lebt nämlich vom Dialog. Hier kommt der viel zitierte Begriff der Zivilgesellschaft ins Spiel. Es sind nicht Bundestag oder Landtage, die das alleine lösen können, sondern alle demokratischen zivilgesellschaftlichen Akteure: Gewerkschaften, Kirchen, NGOs, Gemeinden, Städte, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Sie alle sind prädestiniert, Dialogplattformen zu schaffen. Ebenso die Universitäten, Schulen, Sportvereine, Altenheime, Jugendzentren, Brauchtumsvereine. Überall dort, wo Öffentlichkeit entsteht und Menschen zusammenkommen, müssen wieder mehr und neue Räume des Gesprächs entstehen.
Nach meiner Erfahrung als Kommunalpolitiker gelingt das am besten tatsächlich auf der lokalen Ebene. Sie ist die Ebene, auf der sich das Leben der Menschen abspielt – und auf der Vertrauen am besten wachsen kann: Man trifft die Leute in der Bäckerei oder im Park, kann sie ansprechen, sieht, was sie direkt bewegen. Deshalb ist eine bessere finanzielle Ausstattung der Städte und Gemeinden von existenzieller Bedeutung: sowohl um kleine Probleme wie fehlende Fußgängerübergänge schnell zu lösen, aber auch um Alltagsrisiken abzufedern. Vor Ort werden dadurch Räume für den Dialog geschaffen, die bei der Überwindung der Polarisierung helfen.
Die aktuelle Debatte über die „Brandmauer“ nach rechts hat in den letzten Wochen hohe Wellen geschlagen, vor allem innerhalb der CDU. Was bedeutet diese Diskussion für das progressive Lager?
Für uns ist klar: Wir sind die Gegner der extremen Rechten – und sie haben uns als ihre Gegner identifiziert. Die AfD ist eine anti-aufklärerische, anti-diverse, anti-sozialdemokratische, anti-grüne Partei. Wir sind für sie der Feind. Die CDU dagegen ist nicht nur ihr Feind, sondern ihre Beute. Der Raubvogel hat sich seine Beute ausgeschaut. Die AfD will die Union spalten und schwächen. Deshalb ist die Brandmauer-Debatte vor allem eine Debatte der Union. Wir als progressive Kräfte brauchen sie nicht – wir sind die Brandmauer.
Wer den Geist aus der Flasche lässt, bekommt ihn nicht mehr hinein.
Ich empfehle der CDU und CSU, die eigenen Studien der Konrad-Adenauer-Stiftung ernst zu nehmen. Überall dort, wo sich moderate Konservative auf einen Deal mit der extremen Rechten eingelassen haben, wurden sie von ihr pulverisiert. Sie können nie so radikal sein, wie die Extremisten es fordern. Man muss den Zauberlehrlingen in der Unionsfraktion sagen: Wer den Geist aus der Flasche lässt, bekommt ihn nicht mehr hinein. Schaut nach Frankreich, Italien, in die Niederlande, nach Belgien, Schweden, Finnland – überall, wo sich die Moderaten mit den Rechtsextremen eingelassen haben, sind sie abgestürzt.
Das Gegenargument lautet: Die Einbindung der extremen Rechten könne sie mäßigen und so auch zu einer Entzauberung ihrer Radikalpositionen beitragen – etwa wie in Schweden, wo die konservative Minderheitsregierung faktisch von den rechtsextremen Schwedendemokraten gestützt wird.
In Schweden sehen wir, dass die Moderaten zwar regieren, aber quasi täglich Wähler verlieren – sowohl an die Sozialdemokraten als auch an die Schwedendemokraten. In Finnland ist es ähnlich. In Spanien versucht die konservative Partido Popular aktuell eine Art Mittelweg zu gehen. Sie sprich die Anliegen der Wähler von VOX durchaus an, grenzt sich aber stärker von der rechtsextremen Partei als solcher ab. Der Ausgang ist offen. Aber die Erfahrungen zeigen: Parteien wie die Schwedendemokraten, die Wahren Finnen oder VOX in Spanien wollen sich gar nicht mäßigen. Und die deutschen Rechtsextremen sind im internationalen Vergleich aktuell die radikalsten. Deshalb ist die Brandmauer-Debatte in Deutschland eine andere. Bei uns sollte es nicht um taktische Optionen gehen, sondern zuallererst um die Verteidigung und Stärkung demokratischer Grundsätze.




