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Mitte März wurden in Managua über 100 Personen bei Protesten gegen die Regierung verhaftet. In den vorangegangen Monaten schien sich die Lage beruhigt zu haben. Wie ist die jüngste Eskalation zu erkären?

Am Wochenende des 16. März wurden 104 Personen festgenommen, als sie in Managua, der Hauptstadt des Landes, das Recht einforderten, frei demonstrieren zu können. Daniel Ortegas Regime hatte die Demonstrationen seit September verboten. Beim geringsten Anzeichen von offenem Protest schickte das Regime die Streitkräfte auf die Straße. Vor dem Hintergrund der jüngsten Gespräche zwischen Regierung und Opposition und der Forderung nach Freilassung aller politischer Gefangenen rief die oppositionelle Unidad Azul y Blanco trotzdem zu einer Demonstration auf und forderte damit die Regierung heraus; Hunderte Menschen folgten dem Aufruf und versammelten sich auf einer der belebtesten Straßen der Stadt.

Daraufhin begann die Polizei, gewaltsam gegen die Demonstranten vorzugehen und diese festzunehmen, während sie sich in Einkaufszentren und angrenzende Geschäfte flüchteten, wobei sie die Nationalhymne sangen und die Fahne Nicaraguas schwenkten. Erst auf Intervention des Apostolischen Nuntius, den der Vatikan entsandt hatte, um die Freilassung der Gefangenen zu erwirken, konnten die Menschen die von der Polizei umstellten Gebäude verlassen, ohne angegriffen zu werden.

Anfang März begannen Regierung und Opposition einen „Friedensdialog“. Beabsichtigt ist, einen Ausweg aus der derzeitigen politischen Krise zu finden. Die Opposition besteht jedoch auf dem Rücktritt Daniel Ortegas, den dieser kategorisch ablehnt. Welche friedliche Lösung ist angesichts der verhärteten Fronten möglich?

Die Gespräche schienen bis zum 19. März festgefahren, als Daniel Ortega nach der Intervention des Repräsentanten der OAS und des Nuntius zusagte, alle  politischen Gefangenen innerhalb von drei Monaten freizulassen und das nicaraguanische Wahlrecht zu ändern. Angesichts des wenig vertrauenswürdigen Stils von Daniel Ortega und seinen Verhandlungsführern führte diese Ankündigung zu verhaltenem Optimismus. Die Oppositionsforderung nach vorgezogenen Wahlen wurde jedoch von der Regierung zurückgewiesen; ihr geht es um die Aushandlung der Bedingungen, die es Ortega ermöglichen würden, bis zum Ende der Wahlperiode im Jahr 2021 im Amt zu bleiben.

Die Nicaraguanische Revolution feiert 2019 ihren vierzigsten Jahrestag. 1979 stürzten Daniel Ortega und weitere Mitglieder der FSLN, der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront, die Diktatur der Somoza-Familie. Sie selbst traten bereits 1970 der FSLN bei und sind heute eine der offensten Kritikerinnen der Regierung von Daniel Ortega. Wie konnte aus dem revolutionären Projekt eine autoritäre Regierung werden?

2019 ist der vierzigste Jahrestag des Triumphs der Sandinistischen Revolution. In den vergangenen vierzig Jahren hat es weltweit große Veränderungen  gegeben; auch die Mentalität derer, die damals die Revolution durchführten, hat sich geändert. Während einige von uns der Auffassung waren, dass sich die Linke demokratisieren und modernisieren müsse, konzentrierte sich Daniel Ortega wie besessen darauf, an die Macht zurückzukehren und griff dazu auf eine Taktik zurück, die er „Regieren von unten“ nannte und die darauf beruhte, den Parteiapparat dazu zu benutzen, durch Landfriedensbruch und gewaltsame Aktionen die Arbeit der jeweiligen Regierungen zu behindern.

Als dies erfolglos blieb, beschloss er, sich als geläuterten friedlichen und religiösen Bürger auszugeben. Er trug weiße Kleidung, söhnte sich mit der Kirche aus, versprach ein Verbot therapeutischer Abtreibungen für den Fall seines Erfolgs (und hielt sein Versprechen) und schloss einen Pakt mit dem korrupten Präsidenten Arnoldo Alemán, in dessen Rahmen er ihm nach seiner Verurteilung wegen Korruption Haftverschonung im Gegenzug zu dessen Unterstützung für eine Verfassungsänderung zusagte, mit der der für einen Wahlsieg im ersten Wahlgang erforderliche Stimmenanteil von 45 Prozent auf 35 Prozent gesenkt würde.

Getreu dem Grundsatz „Der Zweck heiligt die Mittel“ ließ sich Ortega 2007 mit 38 Prozent der Stimmen sodann erneut zum Präsidenten wählen. Seitdem hat er die Macht in seiner Hand und der seiner Frau konzentriert und den Staatsapparat, die Polizei und die Streitkräfte mit seinen Parteigängern besetzt; er hat sich mit dem Großkapital verbündet, das Wahlsystem korrumpiert und die Verfassung dahingehend geändert, dass eine unbegrenzte Wiederwahl möglich wird. Gegen all dies brachte die Bevölkerung am 18. April 2018 ihren massiven Protest zum Ausdruck. Doch anstatt darauf zu hören, wie es seine Pflicht gewesen wäre, entschied sich Ortega für eine gewaltsame Niederschlagung; das Ergebnis waren 325 Tote, 2 000 Verletzte, 700 Gefangene und 52 000 Personen im Exil im Verlauf von vier Monaten. Das macht ihn zu einem Tyrannen und einem Verräter an der Revolution.

Die Fragen stellte Claudia Detsch.