„Das schlechteste Szenario ist das Scheitern der Wahl,“ sagt der afghanische Präsidentschaftskandidat und Ex-Außenminister Zalmay Rassoul gegenüber dem Wall Street Journal. „Dann werden die Afghanen das Vertrauen in den demokratischen Prozess verlieren und wieder zum Anfang zurückkehren: Statt Wahlurnen werden sie wieder Kalaschnikows nutzen, um Macht zu erlangen.“
Der 69-jährige Rassoul zählt bei der Wahl am 5. April, bei der über den Nachfolger von Präsident Hamid Karzai entschieden wird, zu den drei Favoriten der verbliebenen neun Kandidaten. Die beiden anderen aussichtsreichen Kandidaten sind der ehemalige Finanzminister Ashraf Ghani und der frühere Außenminister Abdullah Abdullah. Letzterer war bei der Wahl 2009, die von der Karzai-Regierung massiv gefälscht worden war, auf Platz zwei gekommen und hatte seine Teilnahme an der Stichwahl wegen der Manipulationen abgesagt.
Rassoul gilt jetzt als Kandidat Karzais, der nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten darf. Karzai unterstützt ihn zwar nicht offiziell, aber überredete seinen älteren Bruder Quayum Karzai, seine eigene Kandidatur zurückzuziehen. Das tat der auch, um sich im gleichen Atemzug für Rassoul auszusprechen.
Der etwas aristokratisch wirkende Rassoul, ein ehemaliger Arzt, hatte lange mit dem früheren afghanischen König als dessen Berater im italienischen Exil gelebt. Er hatte sich nach eigenen Worten eigentlich schon darauf eingestellt, bald in Rente zu gehen und Golf zu spielen, entschied sich dann im vergangenen Oktober aber doch für eine Kandidatur. Dagegen bereiten sich seine Kontrahenten Abdullah und Ghani, die beide bereits 2009 kandidiert hatten, schon lange auf ihren Wahlkampf vor. Viele sehen Rassoul, dem die Volksnähe fehlt und der als Paschtune kaum Paschto spricht, deshalb nur auf dem dritten Platz. Doch kommen nur die beiden Erstplatzierten in die Stichwahl, sollte der Gewinner die absolute Mehrheit verfehlen.
Schon jetzt wird Rassoul vor Fälschungen gewarnt
„So wie Rassoul momentan dasteht, wird er nicht unter die ersten zwei kommen, es sei denn, er geht einen anderen Weg und nutzt das Netzwerk der Regierung, um Wahlurnen zu manipulieren“, sagt Nader Nadery, der Vorsitzende der unabhängigen afghanischen Wahlbeobachterorganisation FEFA (Free and Fair Election Forum of Afghanistan). Der von Karzai kontrollierte Regierungsapparat hatte bereits 2009 im großen Stil zu dessen Gunsten interveniert. Nach wochenlangem Tauziehen wurden damals mehrere hunderttausend Karzai-Stimmen für ungültig erklärt. Die massiven Fälschungen diskreditierten den gesamten Wahlprozess.
Unregelmäßigkeiten wird es zwangsläufig geben. Denn dafür sind die technische wie personelle Infrastruktur einfach zu defizitär und die potentiellen Fehlerquellen schon jenseits der sehr fragilen Sicherheitslage hoch.
Abdullah und Ghani haben jetzt schon Rassouls Lager vor Wahlbetrug gewarnt. Betrug sei Rassouls einzige Siegchance, sagte Abdullah. Ghani äußerte sich ähnlich. Sollte Rassoul also unerwartet gewinnen, dürften die beiden anderen Favoriten schnell „Foul“ schreien. Denn im Unterschied zu ihnen, die nur in ihren Hochburgen nennenswerten Einfluss auf den Wahlablauf nehmen können, sieht dies bei Karsais Kandidaten Rassoul anders aus.
Sein Dilemma ist, dass es für seine Glaubwürdigkeit fast egal ist, ob wirklich zu seinen Gunsten manipuliert wird. Vielmehr dürfte ihm und seinem Lager ohnehin jede Unregelmäßigkeit wegen seiner Nähe zu Karzai angelastet werden. Unregelmäßigkeiten wird es zwangsläufig geben. Denn dafür sind die technische wie personelle Infrastruktur einfach zu defizitär und die potentiellen Fehlerquellen schon jenseits der sehr fragilen Sicherheitslage hoch.
Institutionen sind schwach und selten neutral
Verschärfend wirkt das stark personalisierte und zentralisierte politische System. Es beruht vor allem auf Patronage. Im Kabuler Präsidentenpalast konzentriert sich die politische Macht. Die ist zwar insgesamt schwach wie der gesamte Staat, doch fällt sie auch in den Provinzen unabhängig von der Bevölkerung dort die wichtigsten Personalentscheidungen. Bei der Auswahl der Funktionsträger dort entscheidet dabei weniger die Qualifikation als die Loyalität zum Präsidenten. Die Institutionen sind selten neutral. Die Wahlkommission galt schon 2009 als Instrument Karzais.
2009 waren die Manipulationen viel zahlreicher als 2004, der ersten Präsidentschaftswahl nach dem Sturz der Taliban. Jetzt sagen Beobachter wie etwa der UN-Sondergesandte Ján Kubiš, die Wahlvorbereitungen seien besser und die Vorkehrungen gegen Manipulationen überzeugender als 2009, obwohl Einfluss und Beteiligung ausländischer Wahlexperten jetzt viel geringer sind.
FEFA-Chef Nadery sieht zudem ein gewachsenes Bewusstsein für Fairness in der Bevölkerung und in den Medien. Dies wie auch die große Zahl der Kandidaten erhöhe seiner Meinung nach den Druck auf die Wahlbehörde zur Unparteilichkeit. Umgekehrt steigert dies natürlich auch das Potential für anschließende Proteste. Nadery erwartet wegen der gestiegenen Teilnehmerzahlen an den Kundgebungen der Kandidaten auch eine höhere Wahlbeteiligung. Trotzdem sei das Vertrauen der Bevölkerung in die Glaubwürdigkeit und Unparteilichkeit des Wahlprozesses gering, sagt Nadery.
Drohungen der Taliban verstärken Probleme
Wie schon bei früheren Wahlen bedrohen die Taliban auch jetzt wieder Wähler und Kandidaten mit dem Tod. Das waren schon früher keine leeren Drohungen, doch kam es nur zu vereinzelten Anschlägen. Die Taliban haben kein Interesse daran, dass der Urnengang eine neue Regierung legitimiert. Ihre Drohungen und Angriffe können dazu beitragen, Ergebnisse zu verfälschen und die Glaubwürdigkeit der Wahl zu unterminieren. Sollten zum Beispiel in den paschtunischen Hochburgen der Taliban viele Wähler nicht teilnehmen, lässt sich danach leichter argumentieren, die neue Regierung vertrete nur die Interessen anderer Volksgruppen und sei nur von diesen gewählt.
Mit dem Angriff auf das von Ausländern und der heimischen Elite frequentierte Luxushotel Serena am 20. März in Kabul wollten die Taliban offenbar auch internationale Wahlbeobachter abschrecken.
Mit dem erneuten Angriff auf das von Ausländern und der heimischen Elite frequentierte Luxushotel Serena am 20. März in Kabul wollten die Taliban offenbar auch internationale Wahlbeobachter abschrecken. Vier Ausländer, darunter ein internationaler Beobachter, der schon zu den Wahlen angereist war, wurden dabei getötet. Je weniger Beobachter es gibt, desto größer sind die Möglichkeiten für unentdeckte Manipulationen und damit für noch weniger Glaubwürdigkeit.
So zeigen die Wahlen eine paradoxe Situation: Die Bevölkerung nimmt trotz Drohungen der Taliban wieder in wachsender Zahl an den Kundgebungen und wahrscheinlich auch an der Wahl teil. Sie spricht sich damit für die Demokratie aus. Doch zugleich gehen die Menschen aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen nicht davon aus, dass der Urnengang fair sein wird. Beides zusammen zeugt von Vertrauen wie Misstrauen gleichermaßen.
Dasselbe gilt für Kandidaten wie Abdullah und Ghani, die den Regierungskandidaten Rassoul schon jetzt vor Manipulationen warnen. Angesichts der Erfahrungen von 2009 scheinen die Warnungen berechtigt. Trotzdem stellt sich die Frage, ob die beiden wirklich bereit sind, möglicherweise fair zu verlieren oder von vornherein darauf pochen, nur aufgrund von Manipulationen verlieren zu können. Sieger und Verlierer tragen zur Glaubwürdigkeit der Wahl oder ihrer Diskreditierung bei. Da aufgrund der unsicheren Gesamtlage und organisatorischen Defizite aber zwangsläufig mit Unregelmäßigkeiten gerechnet werden muss, droht der Wahl ein Glaubwürdigkeitsproblem.
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