Mit dem Verbot des britischen Dokumentarfilms „India's Daughter“ macht sich die Regierung in Neu-Delhi keinen Gefallen. Den indischen Frauen und ihrem Schutz vor Vergewaltigungen hilft sie damit auch nicht, sollte das Verbot nicht unbeabsichtigt nach hinten losgehen. Denn schon mehrfach haben Verbote von Filmen und Schriften diesen erst recht zu Bekanntheit und großer Wirkung verholfen, die sie sonst vielleicht gar nicht gehabt hätten. In Indien wird jedenfalls inzwischen heftig über den Film und das Verbot gestritten, das mit wiederholten privaten Downloads bei YouTube umgangen wird.

Mit dem Argument, der knapp einstündige Film der britischen Regisseurin Leslee Udwin verstärke entgegen seiner Absicht nur Hass gegen Frauen, begründete die Regierung ihr gerichtlich erwirktes Verbot. Ein Kabinettsmitglied machte gar eine „internationale Verschwörung" aus mit dem Ziel, Indiens Ehre zu beschmutzen. Die Regierung erwirkte die Durchsetzung ihres Verbots bei Google India, dem Betreiber der Videoplattform des indischen YouTube. Doch kann YouTube den Film nicht pauschal sperren, sondern nur unter der entsprechenden Internetadresse (URL). Sobald der Film von Privatpersonen unter einer neuen Adresse gespeichert wurde, begann das Spiel von vorn.

Der indische Privatsender NDTV, der den Film zeitgleich mit der BBC ausstrahlen wollte, protestierte gegen das Verbot. Zum vermeintlichen Sendetermin am Sonntag blieb der Bildschirm für die Dauer des Films schwarz.

Auslöser des Verbots waren bereits vorab veröffentliche empörende Interviewauszüge mit einem der zum Tode verurteilten Vergewaltiger.

Delhi versuchte auch Druck auf die britische BBC als Produzentin des Films auszuüben. Die attestierte ihrem Film über den Fall einer Gruppenvergewaltigung aber einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema und zog sicherheitshalber die ursprünglich erst für den 8. März, den internationalen Frauentag, geplante Ausstrahlung auf den Abend des 4. März vor. Regisseurin Udwin verließ am selben Tag auf Anraten ihrer Anwälte Indien.

Auslöser des Verbots waren bereits vorab veröffentliche empörende Interviewauszüge mit einem der zum Tode verurteilten Vergewaltiger. Der 28-jährige Mukesh Singh rechtfertigt darin die Tat in Delhi vom 16. Dezember 2012. Die 23-jährige Medizinstudentin Jyoti Singh war gegen 20.30 Uhr mit einem Freund nach einem Kinobesuch in einen Bus gestiegen, den sie irrtümlich für im Einsatz gehalten hatten. So fielen sie der sechsköpfigen Bande in die Hände, die den Bus fuhr. Die Männer verprügelten den Begleiter und vergewaltigten während der Fahrt die Frau der Reihe nach. Dabei stachen sie mit einer Eisenstange in ihre Vagina und verletzten sie schwer. Später wurden beide nackt und blutend auf die Straße geworfen. Jyoti Singh erlag knapp zwei Wochen später ihren Verletzungen.

 

Alle 20 Minuten eine Vergewaltigung

In Indien wird alle 20 Minuten eine Frau vergewaltigt, behauptet der Film unter Berufung auf eine offizielle Statistik. Nur äußerst selten werden die Täter belangt. Doch der Fall vom 16. Dezember löste Massenproteste aus. Sie zwangen die damalige Congress-Regierung zum Handeln. Die Täter wurden gefasst, Gesetze verschärft und der Zugang zu Hilfen für die betroffenen Frauen erleichtert. Einer der Verdächtigen beging noch in Untersuchungshaft mutmaßlich Selbstmord, vier andere später wurden zum Tode verurteilt. Der Jüngste, zum Tatzeitpunkt minderjährig, erhielt die Maximalstrafe von drei Jahren Haft. Im Dezember kommt er frei. Derzeit verhandelt das Oberste Gerichtshof noch die Berufung der Todeskandidaten.

Verstörend an dem Interview mit Mukesh Singh, der meist den Bus gefahren haben will, ist die Selbstverständlichkeit und Reuelosigkeit, mit der er die bestialische Gruppenvergewaltigung rechtfertigt und zugleich dem Opfer die Hauptschuld gibt: „Ein Mädchen trägt weit mehr Verantwortung für eine Vergewaltigung als ein Junge." Zum Vorgang sagt er: „Man kann nicht mit einer Hand klatschen. Zum Klatschen bedarf es zweier Hände.“ Frauen, die nach Einbruch der Dunkelheit noch in der Stadt unterwegs sind, seien zu bestrafendes Freiwild. Denn anständige Frauen seien nicht ohne familiäre Begleitung unterwegs. Und hätten sich das Opfer und sein Begleiter nicht gewehrt, wären sie nicht so verletzt worden.

Noch verstörender als die unerträglichen Äußerungen des Täters, der aus armen Verhältnissen kommt, sind die Worte seiner zwei Anwälte, die gebildeter sind. Sie teilen nicht nur die Ansichten ihres Mandanten, sondern der Anwalt A.P. Singh erklärt auch, er würde nicht zögern, seine eigene Tochter mit Benzin zu überschütten und anzuzünden, würde sie sich wie das Vergewaltigungsopfer verhalten. Er wurde inzwischen angezeigt, die indische Anwaltskammer prüft den beiden ihre anwaltliche Lizenz zu entziehen.

„Ein Mädchen trägt weit mehr Verantwortung für eine Vergewaltigung als ein Junge“, meint der Täter.

Die Meinung des Täters dürfte nicht nur in Indien unter Männern weit verbreitet sein. Vergewaltiger weisen oft die Schuld von sich und machen ihre Opfer verantwortlich. Ist solch zynische wie antiquierte Haltung Werbung für Vergewaltigungen und verdient deshalb keine Öffentlichkeit, wie Indiens Regierung meint? Oder können sich viele Männer in Mukesh Singhs Haltung wiedererkennen und erhalten damit die Chance, an der eigenen Entstellung Frauen gegenüber zu arbeiten.

Ein weiterer Vorwurf der Regierung lautet, das Interview mit Mukesh Singh sei illegal gewesen. Als die Regisseurin auf ihre Genehmigungen verweist, wird ihr unterstellt, die Bedingungen dafür nicht eingehalten zu haben. Udwin sagt, sie habe die Behörden über den vollen Wortlaut des 16-stündigen Interviews informiert, die wollten aber nur einen kurzen Zusammenschnitt haben. Die Behörden behaupten inzwischen, die Interviewgenehmigung sei nur für nicht-kommerzielle Zwecke gewesen. Die (öffentlich-rechtliche) BBC sei aber ein kommerzieller Sender. Keine Frage: Indiens Behörden sehen in dem Fall gar nicht gut aus, sie sitzen aber am längeren Hebel.

 

Ausblenden oder offensiver Umgang?

Das bewusste Ausblenden unangenehmer, aber gesellschaftlich relevanter Haltungen – um so etwas handelt es sich bei dem Umgang der Regierung damit leider – dürfte seltener Verhaltensänderungen bewirken als eine offensive Auseinandersetzung damit. Doch sollte sicher vom jeweiligen Fall abhängen, ob verurteilte Straftäter wirklich Gelegenheit bekommen sollten, ihre Handlungen außerhalb von Gerichten öffentlich zu rechtfertigen. Doch der Film rechtfertigt weder Vergewaltigungen, noch wirbt er um Verständnis für die Täter. „Indiens Tochter“ rekonstruiert und dokumentiert in erster Linie das damalige Verbrechen. Die meisten Verantwortlichen der indischen Regierung, die das Verbot erwirkten, haben den Film wahrscheinlich gar nicht gesehen, sondern nur die empörenden Ausschnitte aus dem Interview mit Mukesh Singh gelesen.

Der Film lässt die Eltern des Opfers ausführlich zu Wort kommen, ebenso einen Freund, die Anwälte und Verwandten der Täter, Mitglieder einer Regierungskommission, eine Wissenschaftlerin, Aktivistinnen, einen Polizeichef und eine Politikerin. Der Film dokumentiert so die antiquierte wie verbrecherische und menschenverachtende Haltung der Täter. Er zeigt, dass ihre Haltung kein Einzelfall ist und diese zunehmend in Konflikt gerät mit der Rolle moderner, vor allem urbaner Frauen, die durch neue berufliche Herausforderungen und den wachsenden Wohlstand selbständiger werden und ihr Leben stärker in die eigene Hand nehmen (müssen). Der Film zeigt das selbstbewusste Opfer als stark sozial orientiert. Genau deshalb wollte sie Ärztin werden. Die Täter dagegen sprachen Frauen pauschal eigene Freiräume ab und wollten über sie Macht ausüben. Die dokumentierten Gespräche mit deren Angehörigen thematisieren auch die geringe soziale Stellung und Perspektivlosigkeit der Täter.

Der Film hilft zu verstehen warum es in Indien zu so vielen Vergewaltigungen kommt und diese ungesühnt bleiben. Dieses Verständnis ist notwendig, um in Indien wie anderswo sinnvoll gegen Vergewaltigungen vorgehen zu können. „Indiens Tochter“ dokumentiert durch das Interview mit einem Täter und seinen Anwälten, wie Männer sich bisher auf ein Verhaltensmuster bei Vergewaltigungen verlassen konnten: Weil die Opfer meist aus Scham schwiegen, blieben die Täter meist straffrei. Doch das wachsende Selbstbewusstsein der Frauen verändert dies. Für den Täter Mukesh sind daraus die Konsequenzen klar: Vergewaltigungsopfer würden künftig nicht mehr am Leben gelassen, sondern wegen der neuen Angst vor juristischer Verfolgung getötet.

Der Film und seine nachgespielten Szenen sind nicht voyeuristisch, sondern nüchtern. Das verursacht Beklemmungen, aber darin liegt auch seine Kraft. Die verbitterten Eltern des Opfers wirken bewundernswert gefasst und dürften vom Verbot des Films ähnlich geschockt sein wie die Regisseurin.

 

Zweierlei Maß?

Hauptkritiker des Films und Befürworter seines Verbots sind Männer. Sie dürften sich selbst ihrer Sorge um Indiens Wahrnehmung in der Welt durch Reaktionen pauschaler Ablehnung bestätigt fühlen, wie sie eine deutsche Professorin aus Leipzig ausdrückte. Diese hatte ihre Ablehnung der Praktikumsanfrage eines Studenten aus Indien auch mit der dortigen Vergewaltigungskultur der Männer begründet. Diese Begründung ist dumm, rassistisch und kontraproduktiv, was glücklicherweise der deutsche Botschafter erkannte und intervenierte. Doch stößt er auch auf Kritik indischer Feministinnen. Sie verweisen darauf, dass es für westliche Frauen wie die Regisseurin Udwin wohlfeil sei, sich in einem Entwicklungsland wie Indien als Befreierin der Frauen aufzuführen und dabei die lokale Frauenbewegung zu ignorieren, statt selbst vor der eigenen Tür zu kehren. So verweist etwa Kavita Krishnan von der All India Progressive Women's Association darauf, dass der frühere französische IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn im Prozess um einen von ihm mitbetriebenen Prostitutionsring Dank seiner Staranwälte eher als freigeistiger Wüstling erscheine denn als Vergewaltiger, der er zweifellos gewesen sei.

In der Tat gibt es diesbezüglich auch für britische Medien spätestens seit Bekanntwerden der amtlich ignorierten Vergewaltigungen und Folterungen britischer Mädchen in der Grafschaft Oxfordschire viel zu berichten. Ein an diesem 3. März vorgestellter Untersuchungsbericht kam zu dem Ergebnis, dass dort 370 Mädchen im Alter zwischen 11 und 15 in den letzten 15 Jahren systematisch vergewaltigt und zum Teil gefoltert wurden. Polizei und Sozialbehörden seien seit 1995 informiert gewesen, hätten den Aussagen der meist als „schwierig“ bezeichneten Mädchen, die sich überwiegend in staatlicher Obhut befanden, aber keinen Glauben geschenkt.

Todesstrafe, Filmzensur und Lynchmorde: Indien hat nicht nur mit Vergewaltigungen, sondern auch mit dem Umgang damit ein großes Problem.

Der Skandal in Großbritannien ist schockierend und war bisher weit weniger ein Medienthema als es 2012/13 die Vergewaltigung von Jyoti Singh war, deren Name damals aus juristischen Gründen nicht genannt werden durfte. Indiens Medien sprachen deshalb stets nur von einer „Nurbhaya“, so ihr offizieller Deckname. Doch so verständlich indische Vorbehalte gegen Belehrungen von westlichen Medien und vor allem solchen aus der ehemaligen Kolonialmacht sind, so kann dies kein Grund sein, dass britische Medien nicht auch Probleme im heutigen Indien dokumentieren. Genau dies macht „India's Daughter“ und trifft dabei noch meist den richtigen Ton. Die Stärke des Films ist überwiegend Inderinnen und Inder zu Wort kommen zu lassen und so eine qualifizierte Debatte zu ermöglichen. Das von der Regierung erwirkte Verbot des Films dürfte Vergewaltigungen künftig so wenig verhindern wie die für das Verbrechen vorgesehene Todesstrafe, auch wenn letztere von vielen indischen Frauen wie auch den Eltern von Jyoti Singh befürwortet wird.

 

Reue wegen Teilnahme am Film

Eine Kritik Krishnans an dem Film, in dem sie selbst auftritt, was sie nach eigenen Worten inzwischen bereut, ist bedenkenswert. Sie argumentiert, solange das juristische Berufungsverfahren andauere, sei es unangemessen, ein mediales Verfahren wie den Film zu starten. Denn „India's Daughter“ werde die Rufe nach Vollstreckung der Todesstrafe für Mukesh Singh verstärken, fürchtet sie. Das könnte zutreffen. So wurde in den letzten Tagen je ein mutmaßlicher Vergewaltiger in Nagaland und Uttar Pradesh von aufgebrachten Mobs gelyncht. Doch andererseits hat der zum Tode Verurteilte seiner Mitwirkung an dem Film ausdrücklich zugestimmt.

Todesstrafe, Filmzensur und Lynchmorde: Indien hat nicht nur mit Vergewaltigungen, sondern auch mit dem Umgang damit ein großes Problem. Das Verdienst des Films „India's Daughter“ ist, die Debatte darüber wieder anzufachen, nachdem das Thema aus der Öffentlichkeit schon wieder verschwunden war. Die seit knapp zehn Monaten amtierende Regierung der Hindunationalisten (BJP) macht bei dem Thema bisher keine gute Figur.