Moisés Naim, der Herausgeber von „Foreign Policy“, schildert in seinem jüngsten Artikel über Venezuela das Toilettenpapier-Paradox: Ein venezolanischer Unternehmer bekam vor einem Jahr Ärger mit der Gewerkschaft. Die bemängelte, es sei nicht genügend Toilettenpapier vorhanden – ein Verstoß gegen die Betriebsvereinbarung, was im Sozialismus des 21. Jahrhunderts einen Streik oder die Betriebsschließung nach sich ziehen kann. Toilettenpapier gehört zu den preisregulierten Grundprodukten und ist wie Milch, Reis, Kondome oder Zucker nur schwer zu bekommen. Fand der Unternehmer ein paar Pakete, nahmen seine Arbeiter, die denselben Ärger mit der Mangelwirtschaft haben, die Rollen umgehend nach Hause mit. Schließlich tat der Unternehmer auf dem Schwarzmarkt einen Großlieferanten mit guten Kontakten zu staatlichen Importeuren auf, der ihm eine Palette zu einem überteuerten Preis verkaufte. Kaum war sie angeliefert, schneite ihm der Geheimdienst ins Haus, beschlagnahmte die Pakete und zeigte ihn als „Spekulanten und Mitverschwörer des US-gesteuerten Wirtschaftskriegs“ an.

 

Sozialismus auf Sand gebaut?

Es ist eine dieser Geschichten, die schmunzeln lassen, aber eigentlich tragisch sind und ein Beispiel dafür, wie ein reicher Erdölstaat durch verfehlte Wirtschaftspolitik und eine korrupte Elite in den Ruin getrieben werden kann. „Hugo Chávez' Sozialismus konnte Reichtum zwar verteilen, ihn aber nicht produzieren“, sagt sein Biograph, Alberto Barrera. Und nun, da nach dem Absturz der Erdölpreise nicht mehr viel zu verteilen ist, tun sich die Abgründe auf. Drei Jahre hat der Sozialismus des 21. Jahrhunderts bislang den Tod seines Gründers überlebt. Doch wie in den meisten, auf charismatischen Führungsfiguren beruhenden politischen Systemen, hatten auch in Venezuela die Erben des verstorbenen Präsidenten kein glückliches Händchen. Wo Hugo Chávez pragmatisch war, ist sein Nachfolger Nicolás Maduro ideologisch. Wo Chávez einte, polarisiert Maduro. Wo Chávez begeisterte, macht sich Maduro lächerlich. Wo ein wirtschaftspolitischer Kurswechsel und personelle Erneuerung nötig gewesen wären, setzt Maduro auf ein „weiter so“ mit staatlichen Preis- und Devisenkontrollen. Das bereichert kurzfristig zwar seine loyale Kamarilla und füttert deren Bankkonten in Andorra, der Schweiz und Panama, beschleunigt aber letztlich den Untergang. Venezuela mit seinen Erdölmilliarden war zum Jahrtausendwechsel die treibende Kraft des Linksrucks in Lateinamerika; jetzt ist es das Kronjuwel der bürgerlich-konservativen Gegenoffensive, die zuvor schon Argentinien und Brasilien zurückeroberte. Wie der Machtkampf – von Maduro hochstilisiert zur großen Schlacht der Revolutionäre gegen die neoliberale Bourgeoisie und den Imperialismus – ausgeht, dürfte sich in den nächsten Monaten entscheiden. Es sieht nicht gut aus für Maduro.

Wo ein wirtschaftspolitischer Kurswechsel und personelle Erneuerung nötig gewesen wären, setzt Maduro auf ein „weiter so“ mit staatlichen Preis- und Devisenkontrollen.

Die Loyalität der chavistischen Basis beruht auf zweierlei: zum einen dem Versprechen, vom Erdölreichtum mehr abzubekommen, weshalb Chávez zahlreiche Sozialprogramme auflegte, die sogenannten Missionen, vom Gesundheitsposten über sozialen Wohnungsbau, Universitäten und subventionierte Nahrungsmittel. Zum zweiten beruht die Loyalität auf einer soziologisch-psychologischen Identifikation der Unterschichten mit Chávez als „Mestize aus dem einfachen Volk“ im Gegensatz zu einer hellhäutigen, konsumistischen und sozial unsensiblen Elite. Beides bröckelt unter Maduro.

Der abstürzende Erdölpreis hat die staatliche Kontrollwirtschaft in die Krise getrieben: Güterknappheit, Schwarzmarkt, eine Rezession, die der Internationale Währungsfonds in diesem Jahr auf acht Prozent schätzt, eine Inflation von 720 Prozent und ein Loch im Staatshaushalt von rund 12,5 Milliarden US-Dollar sind das Ergebnis. Hinzu kommen Energieengpässe und Wasserknappheit durch eine anhaltende Dürre sowie ausufernde Kriminalität, die mit pro-chavistischen Milizen begann und vom Staat toleriert wurde. Plünderungen, Lynchjustiz, eine Mittelschicht, die dem Land den Rücken kehrt, eine Arbeiterschaft, die massenhaft dem Schwarzhandel frönt – der gesellschaftliche Zersetzungsprozess ist vielleicht noch drastischer als die Wirtschaftskrise.

Umfragen zufolge hat der Sozialismus abgewirtschaftet: Maduros Popularität liegt bei 20 bis 30 Prozent – das ist die harte ideologische Basis, auf die der „chavismo“ sich wohl auch in Zukunft stützen kann – während knapp 70 Prozent ihn ablehnen. Der Verlust des Parlaments im Dezember 2015 an das bürgerliche Oppositionsbündnis MUD war eine logische Folge davon. Maduro, der bis 2018 gewählt ist, ging jedoch auf Konfrontationskurs zu den Volkvertretern. Jede unliebsame Entscheidung missachtete er oder ließ sie durch das hörige Oberste Gericht für verfassungswidrig erklären. Die institutionelle Blockade gießt Öl ins Feuer der Unzufriedenheit, denn sie versperrt einen demokratischen Ausweg. Wie es mit Venezuela weitergeht, hängt von fünf Faktoren ab: den Strategien von Opposition und Regierung, dem Erdölpreis, dem Militär und der Straße.

 

Maduros Dilemma und das Kalkül der Opposition

Weil wirtschaftliche Kurskorrekturen, wie sie pragmatischere Sozialisten gefordert haben, ausblieben, kann Maduro nur zwischen schlechten Lösungsansätzen wählen. Er kann die Preis- und Wechselkurskontrollen aufheben und die Wirtschaft liberalisieren – was er aus Furcht vor einem Preisschock und sozialen Unruhen nicht tut; er kann den Schuldendienst einstellen – was vermutlich die Beschlagnahmung von Raffinerien und Erdöltankern im Ausland zur Folge hätte; oder er setzt die Importe aus und verärgert damit die Wähler. Bisher hat sich Maduro für Letzteres entschieden, während er zugleich das letzte Tafelsilber verscherbelt. Seit Anfang des Jahres hat er an die Schweiz 96 Tonnen Gold verpfändet. Die Gold- und Devisenreserven schrumpfen zusehends, ein Großteil der Erdölexporte wurden zudem an die Chinesen verpfändet, die ihm mit bislang 50 Milliarden US-Dollar Krediten aus dem Liquiditätsengpass geholfen haben. Die nächsten Zahlungen an die Gläubiger in Höhe von knapp sieben Milliarden US-Dollar stehen im November 2016 an. Zieht der Erdölpreis nicht deutlich an, dürften die Kassen spätestens Anfang 2017 leer sein.

Maduro klammert sich an die letzte Hoffnung steigender Ölpreise und will deshalb vor allem Zeit gewinnen, selbst wenn ihn das immer mehr in die Ecke eines autoritären Potentaten rückt. Denn mittlerweile muss er sich auf militärische Repression stützen, um zunehmende Proteste und Plünderungen zu unterdrücken, während seine Justiz das von der Opposition angestrebte Abberufungsreferendum sabotiert. Lange hat die internationale Gemeinschaft Maduros Treiben zugesehen – nicht zuletzt deshalb, weil Venezuela durch verbilligte Erdöllieferungen die Solidarität zahlreicher Bruderländer in Mittelamerika und der Karibik eingekauft hat. Jetzt dreht sich der Wind: Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) droht mit der Demokratieklausel und der Suspendierung Venezuelas, während die USA, der Vatikan und zahlreiche Nachbarländer beide Seiten zu einem Dialog drängen, um eine Destabilisierung des Erdölstaats zu verhindern. Doch nach wie vor ist die internationale Gemeinschaft uneins, während die Positionen in Venezuela derart unvereinbar sind, dass man den Gegnern wohl ziemlich undiplomatisch die Pistole auf die Brust setzen müsste. Dass einflussreichen Chavistas Prozesse im In- und Ausland wegen Drogenhandel, Korruption und Geldwäsche drohen, vereinfacht die Verhandlungen über eine unblutige Transition nicht.

 

Das militärische Damoklesschwert

Die bürgerliche Opposition will die Gunst der Stunde nutzen, um nach 17 Jahren wieder an die Macht zu kommen – und macht sich den internationalen Druck zunutze. Ihr Ziel ist es, das Referendum noch in diesem Jahr durchzusetzen, denn fände es erst nächstes Jahr statt, würde es laut Verfassung keine Neuwahlen geben, sondern der Vizepräsident übernähme die Amtsgeschäfte bis zu den nächsten regulären Wahlen im Jahr 2018. Innerhalb der Regierung gibt es Stimmen, die die Macht um jeden Preis verteidigen, andere würden ein Referendum befürworten, damit die Opposition die unpopulären Sparmaßnahmen zu verantworten hat. Wer sich in dem Poker durchsetzt, ist offen. Die Opposition hat das Parlament und die internationale Solidarität auf ihrer Seite; die Regierung kontrolliert die Justiz, die Petrodollars und das Militär. Was keine von beiden Seiten wirklich kontrolliert, ist der Volkszorn. Die Stimmung ist derart angespannt, dass ein Funke genügt, um das Pulverfass zu entflammen. Provokateure gibt es auf beiden Seiten.

Dass einflussreichen Chavistas Prozesse im In- und Ausland wegen Drogenhandel, Korruption und Geldwäsche drohen, vereinfacht die Verhandlungen über eine unblutige Transition nicht.

Das Gespenst eines zweiten „caracazo“, wie der blutig niedergeschlagene Volksaufstand von 1989 heißt, schwebt wie ein Damoklesschwert über Venezuela. Es gibt einige Parallelen zu damals: der abstürzende Erdölpreis und eine durch Korruption und Misswirtschaft diskreditierte Regierung. Doch ein neuer „caracazo“ könnte nicht nur Maduro hinwegfegen, sondern ein Blutbad verursachen und auch die Opposition beschmutzen. Und er würde die Militärs zum Zünglein an der Waage machen. Das wäre kein ruhmreiches Kapitel für die älteste Demokratie Südamerikas. Allerdings haben die Militärs in einem schleichenden Prozess längst Schlüsselrollen eingenommen. Chávez selbst war Oberstleutnant und vertraute seinen Waffengenossen mehr als jedem Zivilisten. Deshalb stellen die Militärs heute Parlamentarier, Minister, die Mehrzahl der Gouverneure; sie kontrollieren Wirtschaftsbetriebe, den Zoll, die Devisenbehörde und die Nahrungsmittelverteilung. Viele Offiziere brachten es mit Schwarzmarkt-Geschäften zum Millionär. Doch in den mittleren Rängen, die ebenso wie normale Bürger unter Wirtschaftskrise, Kriminalität und Polarisierung leiden, herrscht viel Unmut, und zahlreiche Militärs unterzeichneten die Unterschriftensammlung der Opposition für ein Abberufungsreferendum, manche sogar in Uniform.

Ein „caracazo“ könnte für das Militär daher zu einer unangenehmen Stunde der Wahrheit werden. Verteidigungsminister General Vladimir Padrino López ist zwar bekennender Sozialist, doch er kennt den Zustand seiner Truppe. Als in der Wahlnacht im Dezember alarmierende Meldungen die Runde machten, wonach ranghohe Chavistas unter Führung der Nr. 2, Parlamentspräsident Diosdado Cabello, das Ergebnis missachten und motorisierte Schlägertrupps zur Einschüchterung der Opposition losschicken wollten, trat Padrino López vor die Kameras. Er erklärte, die Militärs würden jeden Versuch, den demokratischen Volkswillen zu beugen, unterbinden. Cabello soll ihn wutentbrannt „Ratte“ genannt haben, berichtete die spanische Zeitung ABC. Es war ein Warnschuss, dass die politische Loyalität der Streitkräfte ihre Grenzen hat.