Man möchte sich die Augen reiben: Die Causa Krim wird tatsächlich mit dem Kosovo gleichgesetzt. Präsident Wladimir Putin persönlich stellte auf seiner ersten Pressekonferenz nach Ausbruch des Konflikts die Analogie her. Sicher, weite Teile der serbischen Öffentlichkeit und der Medien waren hocherfreut. Endlich konnte ihr politisches Idol den Westen einmal vorführen. Doch nationalistische Politiker in Belgrad mochten den Jubel über Russlands Forderung nach Emanzipation der Krim nicht teilen. Denn die Prämisse „Was Kosovo erlaubt ist, kann der Krim nicht vorenthalten werden“ bedeutet im Umkehrschluss: „Was die Krim darf, muss auch für das Kosovo gelten“. Das war nun gar nicht im Sinne serbischer Entscheidungsträger. Natürlich weiß Putin um seinen Analogie-Bluff. Aber es geht schließlich um einen legitimierenden Präzedenzfall und somit um Einfluss auf westliches Denken.

Der hinkende Vergleich nahm daher trotz aller Widersprüche Fahrt auf. In seiner Rede zum Beitritt der Krim zur Russischen Föderation verwies Putin in einem geschickten Schachzug auf die „Regierung der Krim“, die sich bei ihrer Entscheidung am „Vorbild“ Kosovo orientiert habe. Seine Regierung, so die implizite Botschaft, habe demnach nur wie beim Bibelspruch gehandelt: Klopft an, dann wird euch die Tür geöffnet. Kein Wort darüber, dass Russland selber den Kosovo-Albanern bislang strikt eben jenes Selbstbestimmungsrecht verweigert, das es für die Bewohner der Krim nun ausdrücklich einfordert.

Selektive russische Wahrnehmung

Selektiv war auch Putins Bezug auf ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 22. Juli 2010. Die Richter hatten untersucht, ob die einseitige staatliche Unabhängigkeitserklärung des Kosovo aus dem Jahr 2008 mit dem Völkerrecht im Einklang steht. Das Urteil war positiv. Es war die russische Regierung, die das seinerzeit nicht akzeptierte. Nun legitimierte Putin mit eben diesem Gutachten die Loslösung der Krim. Dabei hatte der IGH gar nicht untersucht, ob das Völkerrecht auch ein Sezessionsrecht zulässt. Der russische Präsident zog es vor, diesen entscheidenden Punkt zu verschweigen.

Zwei Behauptungen ziehen sich als rote Fäden durch Putins „große Rede“. Zum einen gehöre die Krim historisch zu Russland. „Im Herzen und im Bewusstsein der Menschen war und bleibt die Krim ein unabdingbarer Bestandteil Russlands,“ meinte der Präsident. Zum anderen müssten Leben und Rechte der dortigen Russen geschützt werden: „Natürlich konnten wir die Krim und ihre Bewohner nicht der Not überlassen, denn das wäre Verrat gewesen.“ Bereits im kaukasischen Fünftagekrieg vom August 2008 hatte die Sicherheit russischer Staatsbürger als Vorwand für den Militäreinsatz gegen georgische Truppen herhalten müssen.

Bereits im kaukasischen Fünftagekrieg vom August 2008 hatte die Sicherheit russischer Staatsbürger als Vorwand für den Militäreinsatz gegen georgische Truppen herhalten müssen.

Auch dort hatte sich Russland rechtlich selbst mandatiert. Und zwar nachträglich per Militärdoktrin vom 5. Februar 2010. Diese sieht den „Einsatz der Streitkräfte und anderer Truppen für die Gewährleistung des Schutzes ihrer Bürger, die sich außerhalb der Grenzen der Russische Föderation aufhalten“ vor. Schon damals war Kosovo argumentative Blaupause für Russlands völkerrechtliche Anerkennung von Abchasien und Südossetien.

Bislang kennt die jüngere Geschichte sechs Typen neuer völkerrechtlich legitimer Grenzziehungen. Das Völkerrecht schließt damit die im Zuge gewaltsamer Sezessionen erreichten territorialen Gemarkungen und Trennungslinien von Abchasien, Südossetien, Transnistrien und Nordzyperns aus. Anerkannt sind bislang lediglich das Sowjet-Muster (international anerkannte Unabhängigkeiten nach staatlicher Auflösung), das Deutsche Muster (international anerkannter Staatsbeitritt nach internationalen Verhandlungen), das Jugoslawien-Muster (international anerkannte Souveränität nach Zusammenbruch und Kriegen), das Südsudan-Muster (international anerkannte Abspaltung nach Krieg und Verhandlungen), das Tschechoslowakei-Muster (international anerkannte friedliche Trennung nach Verhandlungen) und das Kosovo-Muster (international umstrittene, jedoch zunehmend anerkannte, einseitige Unabhängigkeit nach Krieg und Verhandlungen). Ein neues siebentes Modell präsentiert nun Mosaku auf der Krim: Bislang international nicht anerkannte unilaterale Selbständigkeit eines Staatsteils und unmittelbarer Anschluss an einen Drittstaat. Sollten nunmehr Volksgruppen im Nordkaukasus sich im Bestreben auf die Freiheit der Eigenentwicklung auf diesen Musterfall  beziehen, würde Russland nicht zögern, eine „tschetschenische Antwort“ zu geben.

Kosovo und Krim: Vier Unterschiede

Es ist evident: Die Kosovo-Referenz ist der Versuch Moskaus, seine Politik gegenüber der Krim zu legitimieren. Mit Blick auf Historie und Völkerrecht gründen vermeintliche Parallelen zwischen Kosovo und Krim dabei jedoch auf sehr willkürlichen Perspektiven und Interpretationen. Denn der Kosovo-Konflikt unterscheidet sich von der Krim-Auseinandersetzung in vier ganz wesentlichen Punkten.

Erstens: Schwere, systematische Menschenrechtverletzungen. Serbisches Militär und Sonderpolizei bedrohten, töteten und vertrieben willkürlich Kosovo-Albaner. Der Massenmord gegenüber Zivilisten in Srebrenica im Juli 1995 hatte zudem gezeigt, zu welchem Ausmaß an Gräueltaten die Regierung Milosevic willens und bereit war. Demgegenüber existierte auf der Krim keine auch nur in Ansätzen vergleichbare Bedrohung der russischen Ethnie. Dass nach dem Sturz von Wiktor Janukowitsch die neue Parlamentsmehrheit sogleich das Sprachengesetz von 2012 aufhob (Russisch ist regionale Amtssprache in zehn von 27 Gebieten), war eine bornierte politische Provokation. Doch sie stellte keine gravierende, repressive Menschenrechtsverletzung dar, die das militärische Eingreifen Moskaus rechtfertigte (zumal der ukrainische Interimspräsident Alexander Turtschinow das Gesetz nicht unterschrieb.) Bedenkenswert ist außerdem: 2012 hatte der OSZE High Commissioner on National Minorities, Knut Vollebaek, das Sprachengesetz kritisiert: Es sei „spaltend“ und „favorisiere disproportional Russisch“.

Zweitens: Langwierige, kompromissorientierte diplomatische Aktivitäten. 1992 wurde durch Verhandlungen eine KSZE-Langzeitmission zur politischen Lösung des Kosovo-Konflikts eingerichtet. Auf eine deutsch-französische Initiative hin etablierte sich 1997 eine internationale Kontaktgruppe. Der UN-Sicherheitsrat erstrebte mit drei Resolutionen (1160, 1199 und 1203) eine friedliche Konfliktbeilegung. Diese wurde durch zahlreiche bilaterale Gespräche westlicher Spitzenpolitiker mit Präsident Slobodan Milosevic und kosovarischen Repräsentanten flankiert. Zudem verhandelten die Konfliktparteien unter internationaler Vermittlung insgesamt 22 Tage lang in Rambouillet und in Paris direkt miteinander. Erst nach dem Scheitern aller Friedensbemühungen begann am 24. März 1999 der 78 Tage dauernde Luftkrieg gegen Jugoslawien.

Die russische Regierung hat im Streitfall Krim keinerlei internationale diplomatische Regelungsversuche unternommen.

Demgegenüber hat die russische Regierung im Streitfall Krim keinerlei internationale diplomatische Regelungsversuche unternommen. Vielmehr nutzte Moskau das Ordnungsvakuum in der Ukraine, um im Eilverfahren Fakten zu schaffen. Abgesichert durch dubiose bewaffnete Kräfte, erhob sich intransparent am 27. Februar im Regionalparlament eine neue Regierung unter Führung von Sergej Aksjonow von der Splitterpartei Russische Einheit. Diese führte am 16. März ein Referendum über die „Wiedervereinigung mit der Russischen Föderation“ durch. Einen Tag später beantragte die Krim-Führung die Aufnahme in die Russische Föderation. Wiederum einen Tag später unterzeichnete Putins Regierung einen entsprechenden Vertrag. Am 21. März wurde dieser vom russischen Föderationsrat ratifiziert. Als die UN-Vollversammlung am 27. März die Volksabstimmung mit überwältigender Mehrheit für ungültig erklärte, war die Krim bereits knapp eine Woche neues Föderationssubjekt Russlands.

Dritten: Konfliktdynamik. Der Streit um den Kosovo intensivierte sich vor Ort über einen längeren Zeitraum von friedlichen Protesten über zivilen Ungehorsam bis schließlich zum bewaffneten Kampf der UCK-Guerilla gegen dort stationierte serbische Polizei- und Militäreinheiten. Es gibt keinen vergleichbar langen, eskalierenden Konfliktaufwuchs im Ringen um die Krim.

Viertens: Politischer Bauplan. Am Tag der Beendigung der Kriegshandlung gegen Jugoslawien am 10. Juni 1999 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1244, auf deren Basis Kosovo als Interimslösung unter UN-Protektorat gestellt wurde. Statusneutral wurde die Hoheitsgewalt provisorisch einer zivilen internationalen Übergangsverwaltung (UNMIK) übertragen. Im Auftrag des Weltsicherheitsrats versuchte der frühere finnische Präsident Martti Ahtisaari ab 2006 in monatelangen Verhandlungen einen Kompromiss zwischen Serbien und Kosovo über die völkerrechtliche Statusfrage zu vermitteln. Erst als sein nach ihm benannter Plan im Weltsicherheitsrat im März 2007 an Russland und der VR China scheiterte, steuerten europäische Staaten und die USA massiv die Staatsgründung von Kosovo an, die am 17. Februar 2008 erfolgte. Bis September 2012 blieb der neue Staat noch unter „überwachter Unabhängigkeit“. Verfassungsrechtlich ist ein Anschluss Kosovos untersagt. Russland hingegen inkorporierte nur einen Monat nach der Flucht von Viktor Janukowitsch die Krim in den russischen Staat. Vor diesem Hintergrund wird der Kosovo-Krim Vergleich nicht als Parabel in die Geschichtswissenschaft eingehen.