Nigeria wird von Gewalt erschüttert, die Nachrichten sind voll von brennenden Autos und geplünderten Geschäften. Polizeistationen werden belagert, auf den Straßen der Wirtschaftsmetropole Lagos spielen sich Szenen wie aus einem Kriegsgebiet ab. Der Palast des Obas – des traditionellen Königs von Lagos – steht in Flammen. Derweil mahnt Muhammadu Buhari, der 77-jährige und vielen als behäbig geltende Präsident, in seiner Rede zur Lage der Nation zur Ruhe, bedauert die getöteten Polizisten und Sicherheitskräfte und verspricht ein Vorgehen der harten Hand gegen den Aufruhr.
Die Demonstrierenden fordert er auf, nach Hause zu gehen und sich stattdessen „konstruktiv“ an der Zukunft des Landes zu beteiligen. Gleichzeitig gibt er der #endSARS-Bewegung die Schuld an der Eskalation. Was er nicht erwähnt: An der Mautstation Lekki Tollgate in Lagos wurden zwei Tage zuvor mindestens zwölf Demonstrierende von uniformierten Sicherheitskräften erschossen – vermutlich, aber nicht bestätigt, von Angehörigen der nigerianischen Armee. Seitdem versinkt die 20-Millionen-Stadt im Chaos. Im ganzen Land geht man inzwischen von mehr als 100 Toten unter den Demonstrierenden aus.
In den letzten zwei Wochen haben die Proteste der Jugend das ganze Land bewegt. Initiiert von einer feministischen Koalition, getragen von einer gut ausgebildeten, digital organisierten Generation, die genug davon hat, bei jeder Polizeikontrolle Gefahr zu laufen, verhaftet, misshandelt oder gar erschossen zu werden. Wer jung ist, ein schickes Smartphone hat, sich auffällig kleidet oder gar ein Auto besitzt, gilt ohnehin als kriminell – denn wie sonst sollte man es in diesem Land zu solchem Wohlstand gebracht haben. Unter dem Hashtag #endSARS begannen die Proteste zunächst gegen die Special anti-Robbery Squad (SARS), eine als besonders korrupt und gewalttätig geltende Spezialeinheit.
SARS wurde als schnelle Eingreiftruppe gegen Raubüberfälle gegründet, war aber zuletzt selbst vor allem für Schikane und Gewalt gegen Bürgerinnen und Bürger bekannt. Das Thema wie auch die Protestformen erinnern für Außenstehende an die Black-Lives-Matter-Bewegung aus den USA – und sicherlich sind deren Einflüsse spürbar. Viele Nigerianer haben in den USA studiert oder haben dort Verwandtschaft, die kulturelle Bindung durch Musik, Literatur, Kunst ist eng.
Wer jung ist, ein schickes Smartphone hat, sich auffällig kleidet oder gar ein Auto besitzt, gilt als kriminell.
Das erste Mal trat der Hashtag #endSARS schon 2017 in Erscheinung. Die aktuelle Protestbewegung greift jedoch viel tiefer: Aus Sicht vieler wird das Land von einer abgehobenen und abgekapselten Elite geführt, die ihre Position der Kontrolle über das Öl Nigerias verdankt und ihre Profite im Ausland parkt. Der Reichtum und die Unangreifbarkeit der nigerianischen Elite, die in Städten wie Abuja und Lagos ohne jede Scham vorgeführt werden, lässt selbst Besucher aus den Emiraten erstaunt zurück. Diese Oberschicht ist in den Augen der Protestierenden taub für die Bedürfnisse der großen Mehrheit der 200 Millionen Nigerianerinnen und Nigerianer, von denen rund die Hälfte in absoluter Armut lebt.
Die Politik wirkt oft überfordert von einer stetig wachsenden Generation junger Menschen, die zwar nicht direkt von Armut betroffen ist, aber im zementierten Status quo schlicht keine Zukunft mehr sieht. Arbeitslosigkeit, Korruption, Vetternwirtschaft: Jedes Mal, wenn es in den letzten Jahren Hoffnung auf Veränderung gab, wurde diese enttäuscht. Nicht selten fanden sich herausragende Persönlichkeiten sozialer Bewegungen schließlich selbst an den Tischen der Macht wieder. Sie änderten: nichts. Die Unzufriedenheit, das gegenseitige Unverständnis und Misstrauen zwischen den Generationen ist daher hoch.
Die Corona-Pandemie und der harte Lockdown in Nigeria haben die Situation noch verschärft, die Wirtschaft liegt am Boden. Noch Anfang Oktober hatten die nigerianischen Gewerkschaften wegen der steigenden Elektrizitäts- und Benzinpreise einen Generalstreik angekündigt. Er wurde in der Nacht vor dem geplanten Beginn abgesagt, nachdem sich Gewerkschaftsführung und Regierung auf die Bildung einer gemeinsamen Kommission geeinigt hatten. Niemand war davon überrascht. Es ist die Vorgehensweise, die die hiesige Politik gewohnt ist: Drohen, Verhandeln hinter geschlossenen Türen, dann Bildung eines Gremiums mit üppigen Sitzungspauschalen. Ergebnis üblicherweise: gleich null. Die Jugend Nigerias hat davon genug. Sie traut weder den Gewerkschaften noch der politischen Klasse zu, sich ernsthaft für ihre Belange einzusetzen.
So nehmen diese jungen Menschen ihre Zukunft selbst in die Hand: Sie zeigten Nigeria und der Welt, wie moderner Protest geht: Schnell, mobil, gut vernetzt über WhatsApp und Twitter gingen sie in allen größeren Städten des Südens auf die Straße, auch in der Hauptstadt Abuja. Selbst im Norden des Landes – traditionell vernachlässigt und von Terror geplagt – regten sich erste lokale Aktionen. Ohne zentrale Führung, aber mit viel Know-how wurden die Demonstrationen, samt Transport und Verpflegung, organisiert und über Spenden, auch aus der Diaspora, finanziert. Auch Mittel des zivilen Ungehorsams wie die Blockade von Brücken, Schnellstraßen und Zollstationen gehören zum Repertoire der Bewegung. Prominente Musiker wie Wizkid und Davido stellten sich auf die Seite der Bewegung, auch aus dem Ausland mehrten sich Solidaritätsbekundungen nigerianischer Fußballstars und amerikanischer Musikerinnen und Musiker.
Die nigerianische Politik ist es nicht gewohnt, einer diversen und pluralen, ja basisdemokratisch organisierten Jugendbewegung entgegenzutreten.
Die Politik reagierte erst geschockt, war dann aber sogar zu größeren Zugeständnissen bereit: SARS wurde aufgelöst, auch die Reform der regulären Polizei und die Untersuchung von Fehlverhalten von Sicherheitskräften versprochen. Jedoch, die jungen Protestierenden ließen sich dadurch nicht überzeugen. Zu oft wurde ihrer Erfahrung nach in Nigeria schnelle Besserung versprochen und dann nichts gehalten. Währenddessen schlossen sich immer mehr Gruppierungen den friedlichen Protesten an, forderten bessere Bildungsmöglichkeiten, soziale und ökologische Verbesserungen. Auch die Korruption und die attestierte Selbstbedienungsmentalität der herrschenden Klasse wurden zunehmend zu einem Schwerpunkt der Demonstrationen.
Spätestens jetzt waren Regierung und Sicherheitskräfte von der Situation überfordert: Allein der Akt, über die ursprünglichen Ziele hinaus weiter zu demonstrieren, wurde als beginnende Rebellion wahrgenommen. Die nigerianische Politik, auf nationaler wie bundesstaatlicher Ebene, ist es gewohnt, mit Anführern verschiedener Gruppierungen zu verhandeln. Sie ist es nicht gewohnt, einer diversen und pluralen, ja basisdemokratisch organisierten Jugendbewegung entgegenzutreten. Entsprechend reagierten Polizei und sonstige Organe der Staatsgewalt seit der dritten Oktoberwoche zunehmend aggressiv. Gleichzeitig wurden Proteste an vielen Orten von Schlägertrupps angegriffen (im lokalen Sprachgebrauch als Hoodlums bekannt). Diese Schläger sind selbst junge Menschen, die oft von lokalen Politikern oder Geschäftsleuten angeheuert werden, um gegen geringes Entgelt Unruhe zu stiften oder Gegner anzugreifen.
In dieser sich aufheizenden Situation beschloss der Gouverneur von Lagos eine 24-stündige Ausgangssperre, auch andere Großstädte kündigten ähnliche Maßnahmen ab Dienstagabend an. Wenige Stunden vor Beginn der Ausgangssperre fielen nun die Schüsse von Lekki. Seitdem ist der eigentliche Protest beendet. Diverse Gruppen mit den verschiedensten Interessen liefern sich nun Straßenschlachten, es werden alte und neue Rechnungen beglichen. In Abuja herrscht eine angespannte Stille. Die feministische Koalition rief am Freitagmorgen alle Anhänger der #endSARS-Bewegung auf, daheimzubleiben.
Fürs Erste scheint die Regierung gewonnen zu haben. Durch die Gewalt, die nun mit den Protestierenden assoziiert wird, treten deren Anliegen zunächst in den Hintergrund. Die Unruhen bilden den willkommenen Anlass, nun hart gegen jede Form von zivilem Ungehorsam durchzugreifen. Dennoch besteht Anlass zu Hoffnung: Noch nie in der jüngeren Geschichte Nigerias konnten junge Menschen in so kurzer Zeit so viele mobilisieren und so viel internationale Aufmerksamkeit generieren. Konkrete Forderungen wurden von der Politik zumindest gehört. Die verschiedenen Gruppen, die hinter #endSARS stehen, haben auch gesehen, dass die Regierung durch den Druck auf der Straße durchaus zu Verhandlungen bewegt werden kann.
Diverse Gruppen mit den verschiedensten Interessen liefern sich nun Straßenschlachten, es werden alte und neue Rechnungen beglichen.
Allerdings fehlte bisher auf Seiten der Bewegung eine entsprechende Vertretung, um an solchen Debatten teilzunehmen. Am Wochenende wurde von einer „Coalition of Protest Groups“ aus Lagos und weiteren Landesteilen ein Onlineprozess initiiert, um Vertreter der Bewegung zu nominieren und zu legitimieren. Auch sollen in den nächsten Wochen neue Onlineformate organisiert werden, mittelfristig auch neuer Protest auf der Straße. Falls dieser Prozess gelingt, könnte er den Protesten der Jugend neue Kraft und Legitimität verschaffen.
Nach den harschen Worten vom Freitag scheint auch die Regierung in Abuja wieder stärker bereit, auf die Forderungen einzugehen. Allerdings herrscht in vielen Teilen Nigerias nach wie vor Unsicherheit darüber, was die nächsten Wochen bringen werden. Noch dominieren gewalttätige Banden vielerorts die Straßen, in vielen Bundesstaaten wurden zuletzt Lagerhäuser geplündert, in denen Nahrungsmittel und weitere Versorgungsgüter zur Milderung der Pandemiefolgen aufbewahrt wurden – und welche, tatsächlich oder vermutlich, nicht an die Bevölkerung weitergeben wurden.
Offensichtlich sind in jedem Fall die Motivation und die Fähigkeit der Jugend, das Land zu verändern und sich auch nach den Rückschlägen der letzten Tage neu zu organisieren. Dies könnte auch dazu beitragen, dass sich die bisher hauptsächlich aus der gebildeten Schicht stammende Protestbewegung in Zukunft breiter aufstellt. Ob damit nachhaltige Erfolge gegenüber einer Politikerklasse erzielt werden können, die Demonstrationen und basisdemokratische Initiativen in erster Linie als Angriff auf die eigene Macht versteht, ist in Nigerias vierter Republik leider auch im 21. Jahr ihres Bestehens noch lange nicht selbstverständlich.