Am vergangenen Sonntag hat die Rebellenmiliz M23 die Stadt Bukavu im Osten der Demokratischen Republik Kongo erobert. Zwei Wochen zuvor hatte sie bereits die andere strategisch wichtige Stadt Goma eingenommen. Kinshasa scheint immer mehr Einfluss über den Osten des Kongo zu verlieren, der Konflikt droht nun zu eskalieren. Viele Beobachter sind der Meinung, dass dies ohne die Unterstützung Ruandas nicht möglich gewesen wäre. Kongos Präsident Felix Tshisekedi suchte am Wochenende auf der Münchner Sicherheitskonferenz nach Verbündeten.

UN-Berichte der letzten Jahre belegen, dass Ruanda die bewaffnete Gruppe nicht nur logistisch, sondern auch mit eigenen Truppen in der DR Kongo unterstützt. Anfang 2024 schätzte eine UN-Expertengruppe, dass sich 3 000 bis 4 000 ruandische Soldaten in der DR Kongo befinden. Nach der Einnahme von Goma und Bukavu könnte sich diese Zahl auf mindestens 6 000 bis 7 000 Soldaten erhöht haben.

Welche Interessen verfolgt Ruanda im Osten der Demokratischen Republik Kongo? Warum handelt es auf eine Weise, die als Invasion bezeichnet werden kann? Um das zu verstehen, muss man Ruandas vielschichtige Interessen im Kongo betrachten. Diese sind politisch, sicherheitspolitisch und wirtschaftlich – und sie sind eng miteinander verwoben. Wer diese Zusammenhänge nicht versteht, kann den Konflikt nicht durchschauen.

Ruanda sieht den Osten der Demokratischen Republik Kongo als Bedrohung seiner nationalen Sicherheit, doch eine Lösung des Konflikts bleibt außer Reichweite. Besonders die Rebellengruppe FDLR („Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas“) stellt für die Regierung eine Bedrohung dar. Viele ihrer Kämpfer waren 1994 am Genozid an den Tutsi beteiligt. Ruandas kompromisslose Sicherheitspolitik ist eine direkte Folge des Völkermords von 1994. In einer Erklärung vom Februar 2024 betont die ruandische Regierung mit Blick auf die FDLR: „Ruanda behält sich das Recht vor, alle legitimen Maßnahmen zur Verteidigung des Landes zu ergreifen, solange diese Bedrohung besteht.“

Präsident Tshisekedi hat stark in die militärische Verteidigung des Kongo investiert, doch grundlegende Probleme bleiben ungelöst.

Die Bemühungen der DR Kongo, auf den Konflikt im Osten des Landes zu reagieren, werden unter anderem durch eine Reihe struktureller Probleme behindert. Dazu zählen die weit verbreitete Korruption in der Armee sowie deren Zusammenarbeit mit bewaffneten Gruppen, einschließlich der FDLR. Präsident Tshisekedi hat zwar stark in die militärische Verteidigung des Kongo investiert, doch grundlegende Probleme bleiben ungelöst – wie der Fall von Goma und Bukavu zeigt. Auch die Gespräche mit der M23 und deren Demobilisierung (Oktober 2019 bis Mitte 2021) blieben weitgehend erfolglos – viele Chancen wurden vertan.

Das Augenmerk allein auf Kinshasa zu richten, greift allerdings zu kurz – das würde die Rolle Ruandas ausblenden und verharmlosen.

Erstens ist die Bedrohung durch die FDLR nicht groß genug, um eine derart massive militärische Reaktion der M23 und Ruandas zu rechtfertigen. Die Gründe für das militärische Vorgehen sind eine Mischung aus legitimen Interessen Kigalis und der Instrumentalisierung der Bedrohungslage zu eigenen Zwecken. Als die M23 – mit maßgeblicher Unterstützung Ruandas – im November 2021 wieder auf den Plan trat, verfügte die FDLR über schätzungsweise 500 bis 1 000 Kämpfer. Sie stellte damit keine existenzielle Bedrohung für Ruanda dar.

Zweitens spielt Ruanda eine doppelte Rolle – als „Brandstifter“ und zugleich als „Feuerwehr“. In den letzten 20 Jahren hat Ruanda mehrere bewaffnete Gruppen im Osten der DR Kongo unterstützt und damit die Gewalt in der Region erheblich angeheizt. Ein prägnantes Beispiel dafür ist der Aufstand der Rebellenmiliz M23. Offiziell kämpft sie für den Schutz der Tutsi-Bevölkerung in der DR Kongo. Die Marginalisierung dieser Bevölkerungsgruppe hat historische Ursachen. Doch die M23 verschärft mit ihrem Aufstand die ethnischen Spannungen und verstärkt die Unsicherheit der Tutsi-Bevölkerung zusätzlich.

Ruanda sieht den Osten der Demokratischen Republik Kongo als sein traditionelles Einflussgebiet und wird eingreifen, sobald es seinen Einfluss gefährdet sieht.

Dies gilt als Hauptgrund für Ruandas Wiederbelebung der M23 im November 2021. Zu diesem Zeitpunkt hielt Ruanda seine Interessen in der DR Kongo für akut bedroht. Während Burundi und Uganda militärisch eingreifen durften, wurde Ruanda dies verwehrt. Besonders der ugandische Militäreinsatz galt in Ruanda als direkte Bedrohung. Uganda plante eine Straße im Osten der DR Kongo, die direkt durch Ruandas Einflussbereich verlaufen sollte. Wie gewohnt verteidigte Ruanda seine Interessen mit einer bewaffneten Gruppe – in diesem Fall der M23.

Ruandas Intervention steht im Kontext eines historischen Narrativs von „Groß-Ruanda“. Präsident Kagame hat die kolonialen Grenzen zwischen Ruanda und dem Kongo öffentlich infrage gestellt. Vor rund einem Jahr erklärte er: „Unsere Länder wurden durch koloniale Grenzen geteilt. (...) Ein großer Teil Ruandas lag außerhalb – im Osten des Kongo, im Südwesten Ugandas und anderswo.“ Solche Äußerungen enthalten zwar keine direkten Gebietsansprüche, werden von der kongolesischen Bevölkerung jedoch oft so interpretiert – auch weil Ruanda in der Vergangenheit ähnliche Forderungen gestellt hat.

Ruandas Engagement im Kongo folgt auch wirtschaftlichen Interessen. Seit 2016 ist Gold Ruandas wichtigster Exportartikel – es stammt größtenteils aus dem Osten der DR Kongo.

Deshalb bezeichnen Ruandas politische Eliten den Osten der DR Kongo teils offen als Pufferzone oder verweisen auf das „Kurdistan-Modell“.

Laut UN-Berichten exportiert die M23 monatlich rund 120 Tonnen Coltan aus der Rubaya-Mine nach Ruanda.

Daher muss das Vorgehen Ruandas und der M23 als Zusammenspiel der genannten Faktoren verstanden werden. Viele Medien betonen, dass der Krieg vor allem um den Zugang zu Bodenschätzen geführt wird. Tatsächlich spielt dies eine zentrale Rolle: So besetzte die M23 die Rubaya-Mine, die etwa 20 Prozent des weltweiten Coltans liefert. Laut UN-Berichten exportiert die M23 monatlich rund 120 Tonnen Coltan aus dieser Mine nach Ruanda. Allerdings sollte diese Zahl relativiert werden: Erst im April 2024 konnte die M23 die Mine unter ihre Kontrolle bringen – also zweieinhalb Jahre nach ihrem Wiederaufstieg.

Der wirtschaftliche Aspekt ist untrennbar mit Ruandas politischen, historischen und sicherheitspolitischen Interessen verknüpft. Politisch inszeniert sich die M23 als „wohlmeinende“ Rebellenregierung. Sie will beweisen, dass sie den Osten besser und effizienter verwalten kann als Kinshasa. Ein zentraler Bestandteil dieser Strategie ist eine massive Online-Kampagne. Damit soll einflussreichen Kigali-nahen Persönlichkeiten demonstriert werden, dass die M23 Goma und den Osten der DR Kongo „befreit“ habe und „gute Arbeit“ leiste. Die massiven Vertreibungen und die Gewalt der M23 gegen Zivilisten werden dabei bewusst verschwiegen. In der ersten Hälfte des Jahres 2024 vertrieb die M23 schätzungsweise zwei Millionen Menschen. Seit Jahresbeginn sind weitere 700 000 Menschen auf der Flucht. Zudem gibt es Berichte über Massenhinrichtungen, Entführungen, Zwangsrekrutierungen – auch von Kindern – und Zwangsarbeit durch die M23.

All dies deutet darauf hin, dass Ruanda langfristig in den Kivu-Provinzen präsent bleiben wird. Ruanda hat mehr Truppen entsandt und ein größeres Gebiet besetzt als in den Jahren 2012/2013. Der zeitliche Zusammenhang mit Gaza und dem Ukraine-Krieg ist kein Zufall – die internationale Reaktion auf Invasionen und Annexionen hat sich verändert. Abgesehen von einigen verurteilenden Stellungnahmen – zuletzt vom Europäischen Parlament – gibt es nur wenige internationale Konsequenzen. Deutschland hat Gespräche über Hilfen ausgesetzt, Großbritannien droht mit der Kürzung von Hilfsgeldern. Sonst bleibt die internationale Reaktion aus – Ruanda und die M23 setzen daher ungehindert ihren Plan einer eigenen „Einflusssphäre“ um. Ihre Offensive resultiert nicht aus einer akuten Bedrohung, sondern aus strategischen Eigeninteressen. Dies hat jedoch einen hohen menschlichen Preis und verschärft die humanitäre Krise in der Region.

Aus dem Englischen von Christine Hardung