In Nairobi kommt es seit Mitte Juli erneut zu Protesten. In Kenias Hauptstadt stieg Rauch auf und es gab laute Explosionen, als schwer bewaffnete Polizisten mit Tränengas und scharfer Munition auf Demonstrierende feuerten, die die Nationalflagge schwenkten und regierungsfeindliche Slogans skandierten. Auf X kursierten mehrere Fotos und Videos von den Zusammenstößen zwischen Polizei und Protestierenden. Auf mindestens einem ist zu sehen, wie die Journalistin Catherine Wanjeri Kariuki am Boden liegt und sich vor Schmerzen krümmt, nachdem sie angeschossen wurde, als sie gerade dabei war, über die Proteste in Nakuru nordwestlich von Nairobi zu berichten.
Seit vergangenem Monat hat eine Protestwelle, die bereits Todesopfer gefordert hat, das ostafrikanische Land erfasst, das für seine atemberaubenden Safaris und üppigen Landschaften weltbekannt ist. Ausgelöst durch das umstrittene Steuergesetz von Präsident William Ruto, mit dem der ohnehin schon durch hohe Lebenshaltungskosten belasteten kenianischen Bevölkerung zusätzliche Steuern aufgebürdet werden sollten, dauern die von der Jugend getragenen Proteste trotz des brutalen Durchgreifens nun schon über einen Monat an. Die anhaltenden Proteste in Kenia, in denen sich eine allgemeine Unzufriedenheit mit der aktuellen Lage artikuliert, könnten schon bald zu ähnlichen Unruhen in der gesamten Region führen. Schließlich sind die Probleme, mit denen Kenia zu kämpfen hat, weitgehend die gleichen wie in anderen afrikanischen Ländern.
Nach Angaben der kenianischen Menschenrechtskommission wurden seit dem Ausbruch der Proteste am 18. Juni mindestens 39 Menschen getötet und mehr als 300 festgenommen. Es gab auch Berichte über Entführungen und das Verschwinden von Aktivistinnen und Aktivisten sowie Bloggern, die mit den Protesten in Zusammenhang stehen. Ihren Höhepunkt erreichten die Repressionen am 25. Juni, als wütende Protestierende das Parlament in Nairobi stürmten und die Abgeordneten sich in einem Keller in Sicherheit brachten. Am späten Abend trat Präsident Ruto aufgebracht vor die Fernsehkameras und diffamierte die Demonstrierenden als „Kriminelle“. Er versprach, „umfassend, wirksam und rasch auf die staatsfeindlichen Geschehnisse des heutigen Tages zu reagieren“, und machte damit den Weg frei für weitere Übergriffe von Polizei und Armee, die inzwischen auf den Straßen im Einsatz sind.
Ruto mag davon ausgegangen sein, dass das harte Durchgreifen die Proteste ersticken werde, aber genau das Gegenteil ist eingetreten: Der Aufstand, der keine Anführer hat und soziale Medienplattformen nutzt, um für politische Diskussionen und Straßenaktionen zu mobilisieren, geht weiter – obwohl das Steuergesetz zurückgezogen wurde und andere Zugeständnisse gemacht wurden, um die Protestbewegung zu befrieden. In der vergangenen Woche verkündete Ruto nach öffentlichen Protesten gegen das gewaltsame Vorgehen der Beamten gegen die Protestierenden den Rücktritt des Generalinspekteurs der kenianischen Polizei an. Erst am Vortag hatte der Präsident sein gesamtes Kabinett entlassen, bis auf Außenminister Musalia Mudavadi. Trotzdem hat die kenianische Generation Z angekündigt, dass sie so lange weiterprotestieren will, bis Ruto selbst zurücktritt.
In den vergangenen zwei Jahren ist es Ruto gelungen, sich im Ausland zu profilieren .
In den vergangenen zwei Jahren ist es Ruto gelungen, sich im Ausland zu profilieren und Kenias historisch gewachsene Partnerschaft mit dem Westen bei gemeinsamen Einsätzen in der Aufstandsbekämpfung gegen die al-Shabaab-Miliz in Somalia und andere Sicherheitsbedrohungen in der Region auszubauen. Im Mai 2024 hat Washington Kenia zu einem „wichtigen Nicht-NATO-Verbündeten“ erklärt – ein echtes Novum. Parallel wurden Hunderte kenianischer Polizeikräfte nach Haiti entsandt; sie sollen dort einen Auslandseinsatz leiten, bei dem es um die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung geht.
Während sich Ruto im Ausland großer Beliebtheit erfreut, erschüttern die sich ausbreitenden Proteste im eigenen Land seine Regierung bis in die Grundfesten. Kenia steckt in einer schweren Mehrfachkrise: Hohe Inflation, wachsende Staatsverschuldung und die Auswirkungen einer anhaltenden Dürre 2022 haben die Lebensmittelversorgung des Landes zum Erliegen gebracht.
Als Ruto, der inzwischen „Zakayo“ genannt wird (auf Suaheli steht dieser Name für die biblische Figur des Zachäus, der ein Steuereintreiber war) vor gerade einmal zwei Jahren an die Macht kam, setzte die arme Bevölkerung im Land große Erwartungen und Hoffnungen in ihn. Doch der Präsident tut das genaue Gegenteil dessen, was er versprochen hatte. „Die Maßnahmen seiner Regierung verstärken die Unzufriedenheit und Not der einfachen Bürgerinnen und Bürger noch weiter“, meint der Kommunikationsexperte Edgar Wabwire, der wegen seiner Beteiligung an den Protesten von der Polizei festgenommen wurde.
Ruto wird vorgeworfen, er arbeite „so transparent wie eine Ziegelmauer“ und setze eine Politik des Internationalen Währungsfonds (IWF) um, die „nur dem Westen und der privilegierten kenianischen Elite zugutekommt, während das einfache Volk mit Armut und Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat“, erklärt der kenianische Panafrikanist Muoki Abel.
Das inzwischen ad acta gelegte Steuergesetz sollte im Rahmen einer vom IWF angeordneten Reform zusätzliche Steuereinnahmen in Höhe von 2,7 Milliarden US-Dollar einbringen und das kenianische Haushaltsloch durch die Einführung oder Anhebung von Steuern auf eine Reihe alltäglicher Waren und Dienstleistungen wie Brot, Speiseöl, Internet, Kraftstoff, Banküberweisungen, Damenbinden und Windeln stopfen. Doch für eine Bevölkerung, die ohnehin schon um ihr Auskommen kämpft, ist die neue Steuer pures Gift.
Von Kenias 56 Millionen Einwohnern leben mindestens 7,8 Millionen Menschen in extremer Armut.
Von Kenias 56 Millionen Einwohnern leben mindestens 7,8 Millionen Menschen in extremer Armut – die meisten von ihnen in ländlichen Gebieten. Junge Menschen, die mindestens 80 Prozent der kenianischen Bevölkerung ausmachen, sind mit am stärksten betroffen. Während die Arbeitslosenquote in Kenia insgesamt bei 12,7 Prozent liegt, ist nach Angaben des kenianischen Arbeitgeberverbands die Jugendarbeitslosigkeit mit 67 Prozent am höchsten. In dieser verzweifelten Lage reichen halbherzige Maßnahmen nicht aus. Was Kenia braucht, sind umfassende, transformative Maßnahmen, die die Ursachen von Armut und Arbeitslosigkeit im Land bekämpfen und den Wohlstand endlich gerechter verteilen.
Während sich die Proteste in Kenia weiter ausweiten, könnten ähnliche Protestbewegungen auch in anderen Ländern der Region entstehen, in denen die staatlichen Behörden vor dem gleichen Dilemma stehen wie Ruto: Sie müssen Steuern erhöhen und dringend benötigte soziale Investitionen in Schlüsselsektoren für den Abbau der steigenden Staatsverschuldung opfern.
Laut Internationalem Währungsfonds hat sich die Durchschnittsverschuldung in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara zwischen 2010 und 2022 fast verdoppelt, von 30 Prozent des BIP auf fast 60 Prozent. Auch die Tilgung dieser Schulden ist sehr viel teurer geworden. 2022 wurden schätzungsweise 96 Prozent der nigerianischen Einnahmen für Zinszahlungen aufgewendet. Die Regierung hat daraufhin im vergangenen Jahr die Treibstoffsubventionen gestrichen und die Landeswährung im Zuge einer Reihe vom IWF angeordneter Sparmaßnahmen abgewertet, um mehr Einnahmen zu erzielen und die Ausgaben zu senken. Doch ebenso in Kenia führt dies zu hoher Inflation und einer Krise der Lebenshaltungskosten, die in dem ölproduzierenden Land eine noch nie dagewesene Hungersnot verursacht hat und die Bürgerinnen und Bürger sowie die Gewerkschaften des Landes zu Hungerprotesten veranlasste.
Ein weiteres Entwicklungs- und Wachstumshindernis in Afrika ist neben der massiven Staatsverschuldung die Korruption.
Zivilgesellschaftliche Experten sind der Auffassung, dass die Strukturanpassungsprogramme des IWF Afrika mehr schaden als nutzen, weil sie den schon vorhandenen wirtschaftlichen und sozialen Druck noch verschärfen. „In wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern führt es zum Desaster, wenn Staaten gezwungen werden, ihre Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen wie Wasser, Bildung und Gesundheit zu kürzen“, betont Akinbode Oluwafemi, Exekutivdirektor der Organisation Corporate Accountability and Public Participation Africa. „Der ausbeuterische Charakter der IWF-Programme zeigt sich deutlich darin, dass sie die Regierungen dazu zwingen, Schuldenrückzahlung und Sparmaßnahmen eine höhere Priorität einzuräumen als dem Wohlergehen der eigenen Bevölkerung. Es ist kein Wunder, dass diese Programme in Aufständen und sozialen Unruhen resultieren“, so Oluwafemi.
Ein weiteres Entwicklungs- und Wachstumshindernis in Afrika ist neben der massiven Staatsverschuldung die Korruption. Kritische Stimmen behaupten, dass von jedem im Ausland aufgenommenen Dollar mindestens 50 Cent das kreditnehmende Land wieder verlassen. Infolgedessen haben die afrikanischen Länder südlich der Sahara seit 1970 eine Kapitalflucht von mehr als 700 Milliarden US-Dollar zu verzeichnen, wobei ein Teil der Gelder am Ende wieder exakt bei den Banken landete, die die Kredite an die afrikanischen Regierungen vergeben haben.
Um diesen kriminellen Raub zu organisieren, ermöglichen Afrikas Eliten die immense Abschöpfung von Ressourcen und profitieren zugleich von ihr. Wenn sie in der Folge harte Maßnahmen ergreifen müssen, um ihre Einnahmen zu steigern und die Schulden zu tilgen, stehen sie oft alleine und ohne öffentliche Unterstützung da. Dieses Szenario erlebt Ruto in Kenia genauso wie der nigerianische Präsident Bola Ahmed Tinubu. Dessen Regierung bereitet sich auf weitere mögliche landesweite Unruhen im nächsten Monat vor, wenn die Jugend und zivilgesellschaftliche Organisationen des Landes für zehn Tage unter dem Hashtag #EndBadGovernance ihre Wut auf die Straße tragen.
Im Vorfeld der Demonstrationen haben sich die Bürgerinnen und Bürger zu politischen Diskussionsgruppen auf X Spaces zusammengeschlossen und zollen den jungen kenianischen Protestlern Beifall dafür, dass sie trotz der staatlichen Brutalität standhaft bleiben und mutig neue Impulse setzen. „Die Kenianer“, so Abel, „machen bereits vor, wie man die eigene Regierung zurückerobert. Es ist Zeit, dass andere Menschen in Afrika sich ebenfalls erheben und es ihnen gleichtun.“
Aus dem Englischen von Christine Hardung