Eigentlich hatten Nepals Politiker in den Wochen nach den verheerenden Erdbeben vom April und Mai erst einmal alles richtig gemacht – sieht man vom völligen Versagen bei der Nothilfe für ihre Bevölkerung einmal ab. Denn zügig sendete Kathmandu die richtigen politischen Signale. Das Erdbeben schien die lange blockierten politischen Reform-Arterien freigeschüttelt und einen seit zehn Jahren verkalkten Verfassungsdiskurs in Schwung gebracht zu haben.
Die Welt sollte wissen: Wir Nepalesen sind eins und übernehmen Verantwortung. Dahinter, so schrieben nepalesische Kommentatoren, stand auch schlichtes Kalkül: Nämlich dass sich die Höhe internationaler Hilfsfonds für den Wiederaufbau sicher auch an der Festigkeit des lange geforderten politischen Schulterschlusses bemessen werde. Anfang Juni kündigte eine Vier-Parteien-Koalition im Parlament mit insgesamt zwei Dritteln der Stimmen an, einen abstimmungsreifen Verfassungsentwurf vorlegen zu wollen.
Die Rechnung ging auf. Die zuvor ob der dröhnenden Unfähigkeit ihrer Verantwortlichen in Sachen Erdbebenhilfe entnervten Nepalesen waren euphorisiert. Die Ende Juni einberufene internationale Geberkonferenz bescherte der Kathmanduer Regierung beachtliche 4,4 Milliarden US-Dollar Katastrophen- und Aufbauhilfe – ohne eingebaute weitere Bedingungen. Die schönen Fotos vom Himalaya-Gebirge und Beteuerungen, man werde „kein zweites Haiti“, wirkten. Allen voran boten Indien und China insgesamt 1,5 Milliarden US-Dollar. Beiden Nachbarstaaten, die miteinander in ständigem Grenzkonflikt und ökonomischer Rivalität verbunden sind, ist daran gelegen, Nepal als „Pufferstaat“ stabil zu halten. Beide wollen sicher gehen, dass ihr Rivale in Kathmandu nicht mehr Einfluss nimmt als sie selbst.
Mittlerweile ist die neue Verfassung bereits angenommen und das Land hat, wie versprochen, einen neuen Premierminister – doch nun wackeln in Nepal nicht die Berge, sondern der soziale Frieden. Schwere Unruhen, Handelsblockaden und Benzinknappheit erschüttern das gebeutelte Land. Die Beziehungen zum freundlichen Nachbarn Indien sind auf dem Gefrierpunkt angelangt.
Was ging schief in Kathmandu? Eigentlich war eine föderale, ethnisch-basierte Verfassung das Kernprojekt der nepalesischen Maoisten. New Nepal, da s neue Nepal mit einer neuen Ordnung, war 2006 eine der Hauptvereinbarungen des Friedensschlusses mit den Maoisten gewesen. Dieser Kompromiss schließlich beendete den ein Jahrzehnt währenden Bürgerkrieg. Maoisten und mit ihnen ethnische Parteien streben damit nichts weniger als eine Neuordnung der Macht im Himalayastaat an. Unterstützt wurden sie dabei von zahllosen kleinen Graswurzelbewegungen, denen es um mehr Teilhabe im elitär-hinduistischen Kastensystem geht. Den alten Eliten des Landes schmeckte das freilich nicht.
Ein erster Erfolg der Maoisten war die Beerdigung der 239 Jahre währenden Monarchie im Jahr 2008. Seitdem drehte sich die Debatte im Kreis und erzeugte ein schier unauflösbares politisches Patt. Eine bleierne Ära hob an, in der das Land ohne gültige Verfassung regiert und selbst auf lokaler Ebene keine gewählten Volksvertreter mehr hatte. Verwaltet wird Nepal seitdem von einem zentralistisch korrupten System entsandter Beamter – bis zu den katastrophalen Erdbeben im April und Mai diesen Jahres.
Nepals führende Partei, die Kongresspartei und die Vereinigten Marxisten-Leninisten, seit den Wahlen 2013 gestärkt im Parlament, hielten die jahrzehntealte Forderung der Maoisten nach einer konsequent ethnisch definierten föderalen und inklusiven Verfassung für zu mühsam. Heraus kam nun eine Version, die ob ihrer diskriminatorischen Qualitäten heftige Proteste in Kathmandu, dem nepalesischen Flachland und sogar in Delhi provoziert.
In einem Anfall historischer Amnesie hatten beide Parteien schließlich am 20. September mit ihrer Stimmenmehrheit eine Verfassung durchgeboxt, die den Grundkonsens des nepalesischen Friedensprozesses missachtet.
Die Stimmung begann zu kippen, als im ersten Verfassungsentwurf über zu viele grundsätzliche Fragen hinweggestolpert wurde. Kritikern bereiteten die halbgaren Sätze zum künftigen föderalen System Bauchschmerzen. Sie forderten zu Recht Konkretes zum Grundgedanken der föderalen Ordnung, verbirgt sich hinter dieser doch die heikle Frage nach Nepals Identität zwischen Hindu-Nation und sozialistischer Republik, zwischen Kastendenken und egalitären Aspirationen, zwischen Alm-Subsidiarität und Flachland-Reichtum.
Die Unausgegorenheit der Verfassungsparagraphen spiegelt dabei nur das Drama einer Nation wider, die seit 65 Jahren vergeblich den Anschluss an die Moderne sucht. Wie die Unruhen belegen, ist es naiv zu glauben, dass eine Hau-Ruck-Verfassung eine Gesellschaft zusammenschmieden kann, die über 100 verschiedene Sprachen spricht, verschiedensten Religionen angehört, gefangen ist in einem rigiden Kastensystem und geprägt wird durch 123 ethnische Identitäten, die sich zudem entlang geographischer Höhenlinien definieren.
Zwar stimmte im Nachgang der Katastrophe die To-Do-Liste Kathmandus: Politische Einheit schaffen; Verfassung schreiben; lokale Ebenen legitimieren; diesen den Auftrag geben zur effizienten Verteilung der internationalen Hilfsmittel. Die nun stehende Verfassung verfügt durchaus über eine Reihe sehr löblicher Features, wie fundamentale Rechte für alle Bürger, sogar Schwule und Lesben. Außerdem berücksichtigt sie Föderalismus, Säkularismus, darunter das Prinzip des „Sozialismus, der auf demokratischen Werten fußt“, und Inklusivität. Zudem eine unabhängige Judikative, gewählt von einer „Judicial Commission“.
Dennoch hat es die mit immerhin 507 von 598 Stimmen verabschiedete Verfassung keineswegs vermocht, ihre Kritiker, allen Voran Vertreter ethnischer Gruppierungen, Frauen und Traditionalisten, zu beruhigen. Angesichts bitterer Armut, Kampf um karge Ressourcen und einem tief wurzelnden Misstrauen der einfachen Leute in „die da oben“ haben deren Bedenken nun die Form von Existenzangst angenommen.
Aufgebracht sind insbesondere die ethnischen Madhesi-Gruppierungen in den an Indien angrenzenden lowlands. Hier hat in den letzten Jahren die Migration von Hochland-Nepalesen ins Flachland zu großen sozialen Spannungen geführt. Madhesi-Gruppen, die traditionell häufig nach Indien heiraten, wären zudem überproportional betroffen von den seltsamen Staatsbürgerschaftsregelungen, die die neue Verfassung verschreibt: Kinder von nepalesischen Frauen, die einen Ausländer heiraten, haben demnach kein Recht auf die Staatsbürgerschaft. Kinder von Männern, die Ausländerinnen heiraten, hingegen schon. Dagegen hatten Madhesi-Gruppen lautstark im Parlament protestiert und den Verfassungsentwurf boykottiert. In ihrem Zorn riefen ihre politischen Vertreter bereits vor zwei Monaten einen Generalstreik aus. Fabriken und Schulen sind seitdem geschlossen und die Versorgungsrouten für Benzin und Lebensmittel aus Indien nach Kathmandu, den Lebensadern der Hauptstadt, so gut wie blockiert.
Längst ist das Schriftstück Zündstoff für weitreichende Proteste und Boykotts geworden, die, laut Schätzungen der Föderation nepalesischer Handelskammern, bereits insgesamt mehr finanziellen Schaden als die Erdbeben angerichtet haben sollen. Kathmandus Regierung meint, hart reagieren zu müssen, und schickte kürzlich die Armee um Flachland-Proteste zu beenden, bei denen Demonstranten einige Polizisten getötet hatten – und richtete ihrerseits ein Blutbad an. Delhi gab sich ganz offiziell entsetzt, woraufhin Kathmandu mit Beschuldigungen antwortete, die Unruhen anzuzetteln.
Die gute Nachricht ist, dass die Verfassung des „New Nepal“ viel Raum für Ergänzungen und Anpassungen erlaubt. Trotz Blutvergießens lässt sich das Versäumte noch nachholen, sofern der politische Wille in Kathmandu vorhanden ist. Denn eines ist klar: Nur eine neue Einheitsregierung kann es unter diesen Umständen wagen, die seit einem Jahrzehnt ausgesetzten und daher dringend erforderlichen Wahlen auf kommunaler Ebene durchzuführen. Denn ohne gewählte Volksvertreter – und damit Mitspracherechte einzelner Ethnien und lokaler Vertreter – droht das Wiederaufbau- und Nothilfeprogramm zu einer Steilvorlage für neue Ungerechtigkeiten und horrende Korruption zu werden.
6 Leserbriefe
Wenn es um den Zugang zu Fördertöpfen geht, ist man sich einig und kann auch anspruchsvolle Reformen umsetzen. Aber dies ist nicht der Normalfall in einem solch fragmentierten Land, dass de facto keine Chance hat, in der globalen Wettbewerbsgesellschaft mitzuhalten. Also ist eine Gegenreaktion unausweichlich. Die Schilderung im Artikel dazu könnte kann in jedem Lehrbuch verwenden werden.
Und wie geht es weiter? Eher große Sprünge vermeiden und Fortschritt in den Mühen der Ebene suchen, in der Weltöffentlichkeit präsent sein, Aufmerksamkeit halten um, und, letztlich, Finanzströme anzustoßen. Eigentlich hat ein Land wie Nepal am Fuß der Hühnerleiter wirtschaftlicher Entwicklung keine anderen Chancen.
Vielleicht ist die Ursache, dass Ressourcen am Ende eines Rohstoff- und Schuld- - Superzyklus und sinkender Industrialisierungsraten weltweit keine Bedeutung mehr haben? Die Bilanz von Apple - Börsenwert das 80-fache von Nepals BIP (!) - besteht vorwiegend aus intellektuellen Eigentum, die von einem Staat garantiert werden, der die Hälfte aller Verteidigungsausgaben auf unserem Planeten tätigt.
Wie soll ein gesellschaftlicher Konsensus in einem Land entstehen, dass derartig fragmentiert ist und damit die vorstellbar schlechtesten Bedingungen hat, in einer globalen Wettbewerbsgesellschaft mitzuhalten?
Menschen wollen teilhaben, mit Mobiltelefonen kommunizieren, selbst wenn dies auf Kosten der Nachbarn und der Nachhaltigkeit geht. Wer kann es verübeln?
Frauenquote, inklusives Wachstum, bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte sind rhetorische Schwergeschütze, nett, notwendig und gut, aber auch in Konkurrenz mit anderen Strategien. Seit 250 Jahren haben sie vor allem im reichen Westen Bedeutung und mir sind keine Argumente bekannt, was sich in der Geschichte geändert hat, dass sie nun ein Erfolgsrezept für ein Land wie Nepal bieten. Correlation is not causation.
Für Nepal - wie die 20-jähre deutsche Entwicklungshilfe für Jemen - sollte vielleicht eher gelten: Staatszerfall vermeiden, Stabilität sichern, Erwartungen mindern, Wohltätigkeit üben (Gesundheit und Bildung) und dabei helfen, dass innovative Lösungen für die Probleme vor Ort gefunden werden.
Gern lasse ich mich von Argumenten überzeugen, dass mehr möglich ist. Im Moment sehe ich weder Möglichkeiten für einen sich selbst tragenden wirtschaftlichen Aufschwung noch ein Verbesserungspotenzial durch den Import von westlichen Lösungen, wie gut die Intentionen auch immer seien.
Sollte man die Fortschritte nicht begrüßen und die weitere Entwicklung aktiv unterstützen, statt in erster Linie Bedenken anzumelden?
Es ist einfach so: Bei globalen Märkten gibt es ein globales und asymmetrisches Gefälle von Risiko und Erfolg. Konvergenz ist schon lange widerlegt.
Das Matthäus - Prinzip ( die Armen finanzieren die Innovationen und Risiken der Reichen ) gilt seit 2000 Jahren.
Wirtschaftliche Unterschiede sind auch nicht per se etwas Schlechtes und fast immer zum gegenseitigen Nutzen. Es gibt heute mehr absolut Arme als zum Beginn der Industrialisierung, diese haben aber ein Smartphone und Bildung und mehr.
Für Nepal: es verlangt allergrößte Anstrengungen, nicht weiter zurück zu fallen, wie beispielsweise Pakistan (Wachstum pro Kopf < globales Wachstum pro Kopf).
Unschön, aber vielleicht realistischer.