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„Triumphal heimste er einen der größten Wahlsiege des postfaktischen Zeitalters ein und gab uns einen Grund mehr, die Zukunft zu fürchten“, schrieb Pankaj Mishra in einem Leitartikel der New York Times nach dem Wahlsieg Narendra Modis und seiner Bharatiya Janata Party (BJP). Die demokratische Wahlausübung in Indien mit 1 300 Millionen Einwohnern, davon 900 Millionen Wahlberechtigte, hatte in den USA, Europa und Südasien Interesse und Sorge gleichermaßen erzeugt. Bedeutung und Wirkung des Wahlergebnisses wurden bislang im In- und Ausland allerdings nicht gänzlich erfasst.
Vieles deutet darauf hin, dass sich die indische Diplomatie in Südasien in den kommenden Jahren vorrangig mit „Terrorbekämpfung“, Frieden und wirtschaftlichem Wohlstand befassen wird. Dazu gehört die Eindämmung des wachsenden Einflusses Chinas als Konkurrent Indiens, das früher die gesamte Region (ohne Pakistan) gern exklusiv dem eigenen Einflussbereich zurechnete.
Neben Pakistan haben sich Sri Lanka und Nepal der Belt and Road Initiative (BRI) angeschlossen, für die bereits umfangreiche Investitionen getätigt werden, und Bangladesch hat den Chinesen seinen Aktienmarkt geöffnet. Bhutan und China verhandeln über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mittels ständiger Vertretungen. Nepal und China haben eine Machbarkeitsstudie für die Eisenbahnanbindung über eine Bergroute in Auftrag gegeben.
Indien wird den verlorenen Boden nur dann wieder gutmachen können, wenn es mit dem bilateralen Engagement und den Entwicklungsprojekten der Chinesen gleichzieht.
Die USA und Indien indes warnen Nepal vor der Schuldenfalle. Mit einem Pachtvertrag über 99 Jahre mit Sri Lanka für den Hafen Hambantota hat sich China bereits einen wichtigen Stützpunkt gesichert, der den Indern unangenehm aufstößt. Für die genannten Länder ist eine Distanzierung von China und eine Hinwendung zu Indien jedoch unrealistisch. Sie wäre diplomatisch, wirtschaftlich und entwicklungspolitisch mit enormen Nachteilen verbunden. So wird für die Inder die Freundschaft mit den Nachbarn, die sich gerade von ihnen entfernen, umso wichtiger.
Abgesehen davon, dass Indien ein ausgewogenes Verhältnis zu China entwickeln muss, wird es den verlorenen Boden nur dann zumindest teilweise wieder gutmachen können, wenn es mit dem bilateralen Engagement und den Entwicklungsprojekten der Chinesen gleichzieht. Noch wichtiger wäre es, wie die Chinesen prinzipiell die Souveränität des Partnerlandes zu respektieren und sich nicht in die Innenpolitik einzumischen. China und Indien sind beide aufstrebende globale Akteure und konkurrierende Schwergewichte in der regionalen Entwicklung und Politik. Ihre Akzeptanz in der Region hängt davon ab, ob sie Frieden und Entwicklung fördern können oder aufgrund ihrer jeweils unterschiedlichen Interessen aneinandergeraten.
Im Mai 2019, die Wahlen in Indien waren schon im Gange, beschloss China, dem Rest des UN-Sicherheitsrates zu folgen und Masood Azhar, Chef der pakistanischen islamistischen Bewegung Jaish-e Mohammed, als internationalen Terroristen einzustufen.
Es wird spekuliert, dass Modi und Xi Jinping ihre jeweilige Rolle in der Region abstecken und eine solide Grundlage für die asiatische Geopolitik der kommenden Jahre schaffen.
Dieser Entschluss widersprach früheren Vetos und könnte Modi und seiner Partei geholfen haben, in der Wahl noch einmal deutlich zuzulegen. Immerhin wirkte er wie eine Bestätigung von Modis „nationalistischer Karte“. Nun wird spekuliert, dass Modi und Präsident Xi Jinping im Geist des Gipfels von Wuhan vom April 2018 ihre jeweilige Rolle und ihre Interessen in der Region weiter abstecken und eine solide Grundlage für die asiatische Geopolitik der kommenden Jahre und Jahrzehnte schaffen.
Viel wird davon abhängen, wie die beiden Akteure untereinander und mit anderen Ländern beziehungsweise regionalen Blöcken strittige Fragen lösen, die auch ihre Interessen in Sicherheit, Wirtschaft und Industrie berühren. Das entbindet allerdings Indien nicht von der Aufgabe, seine Beziehungen zu jedem einzelnen Land der Region auch auf bilateraler Basis diplomatisch zu pflegen.
Modis BJP hatte Fragen der nationalen Sicherheit ins Zentrum ihres Wahlkampfs im ersten Halbjahr 2019 gestellt und erklärt, Indiens Sicherheit sei besonders von außen bedroht. Man zeigte mit dem Finger auf Pakistan und beschuldigte den islamischen Nachbarn, Terroristen zu beherbergen und gegen Indien einzusetzen. Ungeachtet dieser Kriegsängste jedoch flog der pakistanische Außenminister anlässlich des Eid-al-Fitr-Festes am 5. Juni nach Delhi (angeblich zu einem privaten Besuch), und der indische Hochkommissar in Islamabad Ajay Biswas, telefonierte zu demselben Anlass mit dem pakistanischen Staatspräsidenten Arif Alvi.
Indien muss etwas gegen die Außenwahrnehmung unternehmen, es spiele sich als „Big Brother“ auf.
Das sind positive Signale, und die nächsten Schritte der beiden Länder werden über die Zukunft der vor 33 Jahren gegründete Südasiatischen Vereinigung für regionale Kooperation (SAARC) entscheiden, deren Schicksal vom indisch-pakistanischen Konflikt überschattet wird.
Die Beziehungen zwischen Pakistan und Indien sind speziell, doch jedes Land der Region hat seine jeweils eigenen Probleme mit Indien, die unterschiedlich angegangen werden müssen. Klar ist, dass Indien etwas gegen die Außenwahrnehmung unternehmen muss, es spiele sich als „Big Brother“ auf. Besonders eindrucksvoll lassen sich die geopolitischen Verschiebungen in der Region anhand der indischen Initiative veranschaulichen, die Beziehungen zu Nepal zu verbessern.
Trotz aller Gemeinsamkeiten in Zivilisation, Geschichte, Kultur und Religion (mehr als 80 Prozent der Bevölkerung sind jeweils Hindus) verschlechterten sich in den letzten 13 Jahren die Beziehungen zwischen den beiden Staaten und sind heute von Misstrauen geprägt. Wie in Sri Lanka Anfang der 80er Jahre gewährte Indien auch in Nepal den maoistischen Guerillas (einer kommunistischen Gruppierung, die nach eigenem Verständnis der Philosophie Mao Tse Tungs folgt) Unterschlupf und ermöglichte ihnen sogar die Ausbildung an Waffen. Die Guerillas führten zwischen 1996 und 2006 einen Bürgerkrieg, um Nepal, das einzige Hindu-Königreich der Welt, in eine „säkulare Republik“ zu verwandeln. Indien brachte schließlich als „Vermittler“ die sieben großen politischen Parteien Nepals mit den Maoisten an einen Tisch. Im Mai 2006 wurde in Nepal ein säkularer Staat ausgerufen, die 240 Jahre alte Monarchie zeitweilig ausgesetzt (und 2008 ganz abgeschafft).
Modi ist als Macher bekannt, und so herrscht in der Region die Hoffnung, dass am Ende alles gut wird.
Indien beeinflusste in diesem radikalen Staatsumbau nicht nur federführend die nepalesische Innenpolitik, sondern brachte auch die EU und die USA ins Spiel. Das Engagement dieser fernen Mächte erregte wiederum das Misstrauen der Chinesen, die daraufhin ihre Präsenz und die Investitionen in Nepal verstärkten (aus China kommen mittlerweile die meisten ausländischen Direktinvestitionen). Dass China Nepal in seine Belt and Road Initiative einbinden konnte, macht es Indien nicht gerade leichter, seinen traditionellen Einfluss zurückzugewinnen.
Ab September 2015 verhängte Indien eine 134-tägige Wirtschaftsblockade über Nepal, weil sich das Land weigerte, mit der Verkündung seiner neuen Verfassung zu warten und länger darüber zu beraten. Mit der Blockade machte sich die indischen Regierung im gesamten politischen Spektrum unbeliebt, doch noch mehr beunruhigt die Nepalesen die anhaltende Unsicherheit, die wachsende Korruption und der Kurs der regierenden Kommunistischen Partei, die durch drakonische Gesetzesänderungen ihre Kontrolle über Justiz, Verfassungsorgane und zivile Bürokratie festigt.
Nach dem Imageschaden für Indien durch die anfängliche Unterstützung linksradikaler Kräfte und die Wirtschaftsblockade werden Modis nächste Schritte darüber entscheiden, wie er in Nepal beurteilt wird, und deutlich machen, wie er selbst Indiens Rolle und Einfluss in Nepal künftig sieht. Modi ist als Macher bekannt, und so herrscht in der Region die Hoffnung, dass am Ende alles gut wird.
Aus dem Englischen von Anne Emmert