Die jüngste innenpolitische Wende der chinesischen Regierung hat weltweit für Aufsehen gesorgt. Nach der „großen Verjüngung des chinesischen Volkes“, die lange das wichtigste Motto der Kommunistischen Partei war, geht es nun auch wieder um „gemeinsamen Wohlstand“.
Über die Gründe für diese Wende wurde viel spekuliert: von der politischen Kontrolle des Finanzwesens und der großen Technologiekonzerne über den Versuch, einen Zusammenbruch des Finanzsystems ähnlich dem von 2008 in den USA zu verhindern; vom Drang des Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Xi Jinping, vor seiner Wiederwahl, die vermutlich eine reine Formsache ist, Chinas Kurs zu ändern, bis hin zu grundlegenden Reformen für größere gesellschaftliche Gleichheit.
Auf jeden Fall betont das Motto des „Gemeinsamen Wohlstands“ die Bedeutung der Ungleichheit und den Wunsch, sie unter Kontrolle zu bringen. Zufällig ähnelt es auch der Devise der Weltbank von vor etwa zehn Jahren, bei der es um „geteilten Wohlstand“ ging. Große Ungleichheit gilt schon seit mindestens zwei Jahrzehnten als ernsthaftes Problem in China.
Große Ungleichheit gilt schon seit mindestens zwei Jahrzehnten als ernsthaftes Problem in China.
Gemessen am Gini-Koeffizienten, von Null für eine völlig gleiche Gesellschaft bis Eins für eine völlig ungleiche, ist Chinas Einkommensungleichheit mit einem offiziellen Gini-Wert von 0,47 insgesamt erheblich größer als die in den USA, mit etwa 0,41, oder in den OECD-Ländern, mit durchschnittlich etwa 0,35. Darüber hinaus sind alle Aspekte der Ungleichheit in China – der Unterschied zwischen Stadt und Land, das Lohngefälle zwischen privat und staatlich beschäftigten Arbeitnehmern sowie die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern – ausgeprägter als vor einigen Jahrzehnten.
Manche dieser Ungleichheiten können – zumindest prinzipiell – gelindert werden, und das hat die chinesische Regierung auch getan. Die Unterschiede zwischen den Provinzen, genauer gesagt jene zwischen den reichen Küstengebieten und den zentralen oder westlichen Regionen, konnten durch massive staatliche Investitionen in die weniger entwickelten Landesteile verringert werden. Ein Beispiel dafür ist das beeindruckende Netz von Hochgeschwindigkeitszügen, das heute praktisch das gesamte Land verbindet.
Die Kluft zwischen Stadt und Land wird durch die jüngste Entschärfung des Hukou genannten städtischen Haushaltsregistrierungssystems kleiner werden. Die Provinzen dürfen nun selbst entscheiden, ob sie das System einsetzen oder nicht. So werden Millionen De-Facto-Stadtbewohner legalisiert, und noch mehr Menschen werden vom Land in die Städte ziehen.
Aber es gibt drei Arten von Ungleichheit, die denen in den USA ähneln. Sie sind systemisch bedingt, kommen in allen modernen kapitalistischen Gesellschaften vor und sind viel schwieriger zu bewältigen: die Konzentration des privaten Kapitals; das Entstehen einer Elite, die sowohl über hohes Kapital- als auch über hohes Arbeitseinkommen verfügt; und die generationsübergreifende Weitergabe von Privilegien.
Drei Arten von Ungleichheit: Die Konzentration des privaten Kapitals; das Entstehen einer Elite; und die generationsübergreifende Weitergabe von Privilegien.
Der Kapitalanteil am Bruttoinlandsprodukt steigt in allen Industrieländern seit Jahrzehnten, aber in letzter Zeit gilt das auch in den Schwellenländern wie China. Dadurch wächst das Einkommen der Reichen überproportional, weil sie meist über viel mehr Eigentum verfügen als die Mittelklasse und die Armen.
Sehr offensichtlich ist dies in den USA, wo im Jahr 2019 die obersten zehn Prozent der Bevölkerung 60 Prozent ihres Einkommens durch Kapitalanlagen erwirtschaftet haben. Aber auch in China ist die Lage ähnlich: Die jüngsten verfügbaren Daten von 2013 zeigen, dass das oberste Einkommenszehntel der Bevölkerung 45 Prozent des gesamten Kapitaleinkommens bezogen hat. Seitdem ist dieser Prozentsatz wahrscheinlich noch weiter gestiegen.
Diese Tendenz wird sich wahrscheinlich auch nicht umkehren, da Automatisierung und Robotik auch in Zukunft menschliche Arbeit ersetzen und den Anteil der Kapitaleinkünfte weiter erhöhen werden. Die einzige Lösung dafür wäre, das private Kapital viel gleichmäßiger zu verteilen. Dies könnte vielleicht durch Firmenanteile für Arbeitnehmer oder höhere Steuern erreicht werden – aber dass sich China oder der Westen in diese Richtung bewegen, ist nicht absehbar.
Die zweite systemische Art von Ungleichheit hängt mit der „Homoplutia“ zusammen. Dieses Phänomen wurde zuerst in den USA diagnostiziert, wo bis zu einem Drittel derjenigen im obersten Einkommenszehntel gleichzeitig reiche Kapitalisten und sehr gut bezahlte Arbeitnehmer sind. Dies können gut bezahlte Geschäftsführer, Finanzanalysten oder Ärzte sein, die einen großen Teil ihrer hohen Gehälter sparen und viel Kapital ansammeln konnten, oder Menschen, die viel geerbt haben, die besten Schulen besuchen und sich hochbezahlte Stellen sichern konnten – oder beides.
Sie unterscheiden sich von den traditionellen Kapitalisten, deren ebenfalls hohe Einkommen nur aus Kapitalanlagen stammen. Sie bilden eine neue Elite, die krisenresistent ist, da sie nicht nur über Finanz-, sondern auch über viel „Humankapital“ verfügt. Und erstmals sind sie auch in China sichtbar: Die Elite an der Spitze arbeitet hart, ist aber auch reich an Kapital. Wie in den USA zählt dort ein Drittel des obersten Einkommenszehntels zu den reichsten Kapitalisten und zu den reichsten Arbeitnehmern.
Eine solche Elite verfügt über erhebliche Fähigkeiten und neigt dazu, ihre zahlreichen Privilegien – Wohlstand, Ausbildung und soziale Verbindungen – an ihre Nachkommen weiterzugeben. Eine aktuelle Einschätzung kommt zu dem Ergebnis, dass die individuelle soziale Mobilität in China aus diesem Grund fast so gering ist wie in den USA. Ermöglicht wird die dauerhafte Reproduktion solcher Eliten durch das teure und enorm konkurrenzbetonte Ausbildungssystem.
In den USA werden durch die hohen Ausbildungskosten – von privaten Vorschulen bis hin zu Studiengebühren von 70 000 Dollar im Jahr – effektiv alle bis auf die Kinder der Reichsten aussortiert. In China ist die Universitätsausbildung relativ zum Durchschnittslohn oft ähnlich teuer. Noch mehr Kosten verursachen die teuren Nachhilfeschulen, die die Studenten auf Prüfungserfolge vorbereiten: Um einen Abschluss zu erreichen, braucht man genug Geld, um mehrere Nachhilfelehrer anstellen zu können.
Das Problem in China ist das hochgradig wettbewerbsorientierte Ausbildungssystem.
Die chinesische Regierung will mit dem kürzlich erfolgten Verbot kommerzieller Nachhilfe diese Art von Ungleichheit beseitigen. Aber ob sie damit Erfolg hat, ist zweifelhaft. Reiche Eltern werden zu privatem, individualisiertem Nachhilfeunterricht wechseln, und dies könnte die Ungleichheit sogar noch verstärken.
Das Problem in China ist das hochgradig wettbewerbsorientierte Ausbildungssystem, das vom Wohlstand der Eltern abhängt und die Zukunft sehr junger Kinder – über ihr relatives Abschneiden bei den routinemäßigen Prüfungen – für die nächsten fünfzig Jahre vorherbestimmt. So wird die Ungleichheit in die Zukunft übertragen und Talent vergeudet, weil dieses System bei jenen, die weniger erfolgreich sind, Gleichgültigkeit und Resignation fördert, und die Entscheidungen früherer Jahre das ganze Leben festlegen.
Diese Art von Ungleichheit ist der Hauptgrund für das Leiden der jungen Menschen in den chinesischen Städten und anderswo.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff