Sechs Milliarden US-Dollar, die aus einem Staatsfonds verschwinden. Ein korrupter Regierungschef, der zu zwölf Jahren Haft verurteilt wird und mit weiteren zehn Jahren Gefängnis rechnen muss. Ein greiser Alt-Premier, der von der Macht nicht lassen kann. Und ein Oppositionsführer, der über viele Jahre mit politisch motivierten Gefängnisstrafen kaltgestellt wurde. Malaysia lieferte zuletzt genügend Stoff für Drehbücher und Dokumentationen.
Als wäre all dies nicht genug, hat König Sultan Abdullah Shah bis August 2021 den Ausnahmezustand ausgerufen, die Machtbefugnisse des Militärs verstärkt und das Parlament aufgelöst. Erstmals seit 1969 wird Malaysia ohne parlamentarische Kontrolle regiert. Deklariert ist die Verordnung als Corona-Maßnahme, doch politische Beobachter bezweifeln, dass die Pandemie tatsächlich der Auslöser gewesen ist. Das Motiv dürfte vielmehr sein, dass der seit März 2020 mit der Koalition „Perikatan Nasional“ (PN) regierende Premierminister Muhiyiddin Yassin zuletzt das Vertrauen in den eigenen Reihen verlor. Muhiyiddin ist der frühere Stellvertreter des Ex-Premiers Najib Razak, der im Juli 2020 in sieben Anklagen wegen Untreue und Geldwäsche schuldig gesprochen und zu mindestens zwölf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Muhiyiddin ist ohne Wahlen ins Amt gelangt, Zweifel an der Legitimität seiner Führungsrolle hat er zu keinem Zeitpunkt ausräumen können, die derzeitige politische Instabilität trägt seinen Namen.
Die aktuelle Lage ist vergleichbar mit der weitverbreiteten Frustration als Folge von Korruption und Vetternwirtschaft in Malaysia seit 2009, als Najib Razak, Sohn des früheren Premierministers Abdul Razak, die Amtsgeschäfte übernahm. Najibs Regierung schuf den inzwischen insolventen Staatsfonds 1MDB (1 Malaysia Development Berhad), um ausländische Direktinvestitionen zu fördern und Initiativen für die wirtschaftliche Entwicklung des Schwellenlands in den Bereichen Energie, Agrar, Immobilien und Tourismus voranzutreiben. Doch seit 2015 steht Najib, der als Finanzminister den Aufsichtsrat des Fonds führte, wegen Geldwäsche und Betrugs unter der Beobachtung von internationalen Ermittlern. Sie konnten nachweisen, dass er Hunderte Millionen US-Dollar auf persönliche Bankkonten umleitete. Insgesamt sollen Najib Razak und sein Umfeld bis zu sechs Milliarden US-Dollar aus dem Staatsfonds gestohlen haben.
Mit dem ersten Regierungswechsel in Malaysia seit 1957 waren große Hoffnungen auf einen demokratischen Aufbruch verbunden. Zwei politische Schwergewichte hatten sich verbündet, um Najib aus dem Amt zu jagen.
Es wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich – doch Najibs Gier hat Malaysias Demokratie neu belebt. 61 Jahre lang dominierte die nationalkonservative UMNO (United Malays National Organisation), eine von der malaiischen Bevölkerungsmehrheit getragene Partei, die Regierungsbildung. Zusammen mit kleineren Koalitionspartnern regierte UMNO das Land zunehmend autoritär und agiert bis heute oft selbstherrlich. Dass UMNO Malaysias staatliche Institutionen seit 1957 weitgehend unter Kontrolle bringen konnte, führte zu einer systematischen Korruption. Doch erst als sich Najib Razaks Vergehen bei der Leitung des hoch verschuldeten Staatsfonds 1MDB nicht mehr leugnen ließen, formierte sich ein ungewöhnliches politisches Bündnis, das der jahrzehntelangen Hegemonie von UMNO bei den Parlamentswahlen 2018 ein vorläufiges Ende setzte.
Zwei politische Schwergewichte hatten sich verbündet, um Najib aus dem Amt zu jagen: Mahathir Mohamad, einst langjähriger Premierminister, dem zwischen 1981 und 2003 Malaysias Modernisierung und wirtschaftlicher Aufstieg gelang. Und Anwar Ibrahim vom „Pakatan Harapan“, dem Pakt der Hoffnung, einer Koalition von Parteien der Sozialen Demokratie, der Sozialen Gerechtigkeit und eines Modernen Islams. Mit dem ersten Regierungswechsel in Malaysia seit 1957 waren große Hoffnungen auf einen demokratischen Aufbruch verbunden. Nachdem die von Anwar geführte Opposition 2013 den Wahlsieg noch denkbar knapp verpasste, hatten Hunderttausende junge Malaysierinnen und Malaysier friedlich für einen Regierungswechsel demonstriert.
Malaysia hat eine sehr dynamische Struktur – 44 Prozent der Menschen sind jünger als 24 Jahre. Nach dem Wahlsieg 2018 sorgte das Bündnis Mahathir/Anwar für eine Welle demokratischer Reformen: Der Mindestlohn der Malaysier stieg innerhalb von nur zwei Jahren von 1.000 auf 1.200 Ringgit (200/240 Euro). Die Kontrolle von Zeitungen, Blogs und Diskussionsforen wurde gelockert, Sicherheitsgesetze zurückgenommen, das Demonstrationsrecht verbessert. Zudem werden – anders als im benachbarten Singapur – in Malaysia keine Todesurteile mehr vollstreckt.
Doch ein zentraler Konflikt des südostasiatischen Vielvölkerstaats blieb bestehen: Bis heute fühlen sich religiöse Minderheiten, zu denen Hindus, Christen und Juden zählen, von der malaiischen Bevölkerungsmehrheit unterdrückt.
Doch ein zentraler Konflikt des südostasiatischen Vielvölkerstaats blieb bestehen: Bis heute fühlen sich religiöse Minderheiten, zu denen Hindus, Christen und Juden zählen, von der malaiischen Bevölkerungsmehrheit unterdrückt. Malaien stellen mit 51 Prozent die größte Bevölkerungsgruppe und genießen den sogenannten Bumiputra-Status, der diesem Bevölkerungsteil permanente finanzielle Vorteile im Geschäftsleben und beim Immobilienerwerb sichert. Ein zu lautstarkes Infragestellen der Vormachtstellung der Malaien wird mit Gefängnis bestraft. Minderheiten wird der Zugang zu einer angemessenen Berufsausbildung oder zu einem Studium verwehrt, was oft jegliche Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Aufstieg zunichtemacht.
Bereits kurz nach der Wahlniederlage von UMNO wurde deutlich, dass die Mehrheit der Malaiinnnen und Malaien solche Privilegien nicht kampflos aufgeben will. Als die Regierung Mahathir im Herbst 2018 ein Wahlversprechen brach und sich weigerte, die UN-Konvention gegen Rassendiskriminierung zu unterzeichnen, feierten Zehntausende Muslime in der Hauptstadt Kuala Lumpur Mahathirs Sinneswandel. Auf Plakaten forderten die meist in Weiß gekleideten Muslime eine Beibehaltung der Vorrechte der Malaien – unter den Demonstranten befand sich der korrupte, abgewählte Regierungschef Najib Razak.
Der Bumiputra-Status bevorzugt ethnische Malaien auf Kosten der indischen und chinesischen Minderheiten und gilt als eine spezielle Form der staatlichen Diskriminierung. Die Zuwanderung der Inder und Chinesen ist von den britischen Kolonialherren ohne Zustimmung der Malaien gefördert worden. Nach Erlangung der Unabhängigkeit häuften sich Beschwerden über den überproportional großen Wohlstand der Minderheiten. Bei Unruhen 1969 setzte ein aufgebrachter Mob vor allem chinesische Geschäfte in Brand. Zwei Jahre später implementierte UMNO die New Economic Policy, die bis heute ethnische Malaien bei Anstellungen in Behörden und Universitäten bevorzugt und deshalb von den Minderheiten als Ursache von Korruption und Patronage gesehen wird.
Der Konflikt um Änderungen am Bumiputra-Status sorgte aber zunehmend für Dissonanzen im Bündnis des demokratischen Aufbruchs, Pakatan Harapan. Eigentlich war eine Übergabe des Amts des Premierministers von Mahathir Mohamad an Anwar Ibrahim in der Mitte der laufenden Legislaturperiode (bis 2023) erwartet worden. Doch der inzwischen 94-jährige Mahathir wollte Anwar einen solchen Aufstieg an die Regierungsspitze nicht zugestehen, wie sich zunehmend herausstellte. Als Mahathir Anfang 2020 erfuhr, dass mehrere Bündnispartner Anwar als seinen Nachfolger nominieren wollten, trat er unvermittelt zurück. Und der demokratische Aufbruch in Malaysia fand ein jähes Ende.
Ökonomen kritisieren, der verhängte Notstand verschärfe die wirtschaftlichen Probleme des südostasiatischen Landes. Die Wachstumsprognosen haben sich deutlich verschlechtert.
Anwar Ibrahim sah sich ausgetrickst von Mahathir – und das nicht zum ersten Mal: Schon Ende der 1990er-Jahre hatte Mahathir seinen früheren Stellvertreter und Finanzminister mit unbewiesenen Vorwürfen zu dessen Privatleben ins Gefängnis werfen lassen. Diese von internationalen Beobachtern als politische Gefangenschaft eingestufte Maßnahme wiederholte sich 2014 unter Najib Razak, als Anwar Ibrahim zum respektierten Oppositionsführer und ernsthaften Kandidaten für das Amt des Regierungschefs avancierte.
Erst seit einer gerichtlichen Überprüfung im Jahr 2018 ist Anwar Ibrahim wieder ein freier Mann. Doch bis heute wartet er auf die Chance, sich als Regierungschef beweisen zu können. Auch der 94-jährige Mahathir Mohamad will offenbar noch einmal für das Amt kandidieren. Beide Politiker sind derzeit auf der Suche nach neuen Parlamentsmehrheiten, um Muhiyiddin Yassin nach Neuwahlen abzulösen. Der Rechtsanwalt der oppositionellen Koalition, Ramkarpal Singh, wertet Malaysias Ausnahmezustand derweil als Verstoß gegen die Verfassung. „Die Regierungskoalition versucht das Parlament auszuschalten, indem sie sich hinter einer unnötigen Notstandsverordnung versteckt“, meint Anwar Ibrahim.
Die weitverbreitete Korruption hat die wirtschaftliche Entwicklung des Schwellenlands zurückgeworfen. Nach zwei Flugzeugabstürzen 2014 versuchte Malaysia Airlines unter neuer Führung verzweifelt eine Neustrukturierung – doch infolge der Corona-Pandemie hat der Finanzbedarf der Fluggesellschaft nochmals erheblich zugenommen. Ökonomen kritisieren, der verhängte Notstand verschärfe die wirtschaftlichen Probleme des südostasiatischen Landes. Die Wachstumsprognosen haben sich deutlich verschlechtert.
Mehrere Abgeordnete aus den Reihen der Regierungskoalition haben Premierminister Muhiyiddin Yassin zum Rücktritt aufgefordert, um vorgezogene Neuwahlen zu ermöglichen. Doch der nun verhängte Ausnahmezustand verzögert alle Chancen für einen raschen demokratischen Neubeginn.