Früher war Japan berühmt für seine perfekte Organisation. So fährt der Shinkansen mit sekundengenauer Präzision im Fünf- bis Zehnminutentakt von Tokyo aus nach Norden und Westen – für europäische Reisende ein Traum. Und auch die Bauten für „Tokyo 2020“ waren termingerecht fertiggestellt worden – das ist längst nicht bei jeder Olympiade der Fall. Heute strahlen diese Bauten ein Flair von moderner Funktionalität und lokaler Tradition aus.
Zum guten Ruf Japans gehörte lange Zeit auch das tüchtige Beamtentum. Gegen Korruption, so meinte man, sind Japans Beamtinnen immun. Vor allem glaubten die Beamten im höheren Dienst selbst an ihre eigene Tüchtigkeit und ihre selbstlose Dienstbereitschaft. Die Corona-Pandemie hat diesen Ruf als Fiktion entlarvt. Japans Beamtentum ist nicht nur korruptionsanfällig, sondern hochgradig korrumpiert. Konkret zeigte sich das in der Pandemie an drei Kardinalfehlern.
Immer wieder wurden aus Rücksicht auf äußere Faktoren Entscheidungen auf die lange Bank geschoben. Als im Februar 2020 die erste, noch relativ kleine Infektionswelle Japan erreichte, spielte die Regierung die Bedrohung herunter. Rückendeckung erhielt sie durch eine Expertenkommission, deren Mitglieder allesamt in Gefälligkeitsgutachten geübt waren. Die Kommission handelte nicht aus Unwissen, sondern aus Rücksicht auf einen wichtigen chinesisch-japanischen Termin — den für Mai 2020 geplanten Besuch von Staatspräsident Xi Jinping in Tokyo. In der Hoffnung, dass die Pandemie bald vorüber sei und in völliger Fehleinschätzung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems verzögerte das Kabinett Shinzo Abe die Entscheidung so lange, bis letztlich Chinas Außenministerium den Reiseplan des Staatschefs fallen ließ. Während dieser Wochen der Tatenlosigkeit nahm die Verbreitung des Virus‘ in Japan ein bedrohliches Ausmaß an, sodass letztlich der nationale Notstand ausgerufen werden musste. Ein anderes Beispiel für das tatenlose Zuschauen war die auf Juli 2020 terminierte Olympiade. Erst Ende März wurde sie abgesagt.
Japans Beamtentum ist nicht nur korruptionsanfällig, sondern hochgradig korrumpiert.
Im Mai 2021 wiederholte sich das Versagen von Regierung und Bürokratie, als ein Probelauf für den olympischen Halbmarathon in Sapporo durchgeführt wurde. Im Norden Japans hatten die Corona-Fallzahlen bereits Ende April die Alarmstufe überschritten. Erst am Abend des 5. Mai begannen die Beamten, über den Notstand zu diskutieren. Da war der Marathonlauf bereits „problemlos“ zu Ende gegangen. Und es war bereits zu spät. In den folgenden Tagen stiegen die Fallzahlen in Sapporo exponentiell an. Der für Tokyo und Osaka im April ausgerufene Notstand, der zunächst aufgrund des für den 17. Mai anstehenden Besuchs von IOC-Präsident Thomas Bach am 11. Mai hätte auslaufen sollen, musste daraufhin ebenfalls verlängert werden. Die Rücksichtnahme auf die Olympiade hat also immer wieder zu Verzögerungen geführt, mit desaströsen Auswirkungen auf die Bekämpfung der Pandemie in Japan.
Der zweite Kardinalfehler war ein konsequentes Durchziehen der Strategie der Minimalisierung von Covid-19-Tests. Während die WHO seit Beginn der Pandemie stets „Testen-und-Isolieren“– neben dem Abstandhalten – als einzige wirksame Bekämpfungsstrategie empfahl, hat das japanische Gesundheitsministerium stets versucht, die Zahl von Covid-19-Tests niedrig zu halten. Die Testzahlen in Japan lagen im April 2020 bei lediglich 5 000 bis 8 000 pro Tag, was auch die geringe Zahl an registrierten Infektionen erklärt. Zwar kündigte die Regierung mehrfach an, die Zahl der Tests erhöhen zu wollen. Lange geschah aber nichts. Erst ab Herbst 2020 registrierte die Öffentlichkeit eine langsam steigende Tendenz. Aber selbst heute erreicht das auf seine Technologie so stolze Japan mit einer Bevölkerung von 126 Millionen nur maximal 86 000 Tests pro Tag.
Dabei existierte schon vor dem Sommer 2020 ein effizientes System, mit dem mehr als 50 Tests gleichzeitig vorgenommen werden konnten. Diese Apparatur wurde allerdings in Japan kaum genutzt. Dafür wurde sie in so großen Zahlen an Frankreich verkauft, dass der französische Botschafter sich explizit für die japanische Hilfe bedankte. Aufgrund des langwierigen Genehmigungsverfahrens im japanischen Gesundheitsministerium ist das Gerät bis heute nicht uneingeschränkt zugelassen. Der Grund: Mehr Tests bedeuten eine höhere Belastung für die Krankenkasse. Aber auch den Gesundheitsämtern droht ständig die Überlastung, was mit neoliberalen Sparmaßnahmen der letzten Dekaden zusammenhängt. Selbst nach 15 Monaten Pandemie hat das Ministerium das Testsystem entsprechend bis heute nur minimal ausgebaut.
Den Gesundheitsämtern droht ständig die Überlastung, was mit neoliberalen Sparmaßnahmen der letzten Dekaden zusammenhängt.
Ein interessantes Argument für das Geringhalten von Tests, das vom Nationalinstitut für Erforschung der Infektionskrankheiten, dem japanischen Pendant zum Robert-Koch-Institut, immer wieder lanciert wird, lautet: Wenn nach einem Ausbau des Testsystems eine große Zahl Bürgerinnen positiv getestet werden sollte, käme es dann nicht zu einem katastrophalen Zusammenbruch des Gesundheitssystems? Gelegentlich wird auf die Zustände in Wuhan verwiesen, wo sich viele Menschen – ohne Abstand zu halten – in Krankenhäusern drängten, um sich testen zu lassen. Die Folge dieser Pseudo-Philosophie waren aber letztlich mehrfache Infektionswellen, die eine Vielzahl von Menschenleben kosteten und dann doch zumindest stellenweise zu Zusammenbrüchen des Gesundheitssystems führten. Besonders heftig betroffen war Osaka, wo die lokalen Gouverneure besonders extreme Varianten neoliberaler Politik mit fast schon sozialdarwinistischen Tendenzen vertraten bzw. vertreten. In Osaka sind besonders viele Menschen zu Hause verstorben, weil sie keine Aufnahme in Krankenhäusern gefunden haben.
Inzwischen hat Olympia-Ministerin Tamayo Marukawa verkündet, für die Sicherheit der Athleten und der Bevölkerung während der Olympiade sei ausreichend gesorgt. Denn für alle Athletinnen, Trainer und Sportfunktionäre sei ein tägliches Testvolumen von 30 000 geplant. Sogar Dolmetscherinnen und ehrenamtliche Helfer sollen getestet werden. Dabei sind in den letzten 15 Monaten in Tokyo praktisch nie mehr als 10 000 Tests pro Tag durchgeführt worden. Bei der eigenen Bevölkerung waren die Behörden so sparsam, bei ausländischen Besucherinnen sind sie plötzlich großzügig? Vielen Beobachtern dreht sich der Magen um.
Der dritte Kardinalfehler, ja die Kardinalsünde, ist das Verschachern von Regierungsaufträgen an oft dubiose Privatfirmen. Die Pandemie enthüllte das Ausmaß der Verfilzung von Regierung, Bürokratie und Privatfirmen, in deren Vorständen oft ehemalige Staatssekretäre und Ministerialdirektoren sitzen.
So entschied zu Beginn der ersten Corona-Welle Premierminister Shinzo Abe in einem Anfall von Barmherzigkeit plötzlich, dass alle Japanerinnen pro Kopf – oder genauer gesagt pro Nase – zwei Atemschutzmasken bekommen sollten. Nicht nur waren diese Masken aus Gaze-Stoff, der im Grunde keine Hilfe gegen Viren bietet. Vielmehr stellte sich bald heraus, dass ein Großteil dieses Maskengeschäftes von einer in Fukushima registrierten Kleinstfirma abgewickelt werden sollte. Am Vorabend der Pressekonferenz, auf der Abe die Verteilung von Masken verkündete, hatte die Firma in Fukushima ihre Satzung so geändert, dass sie sich an der Abwicklung des Geschäfts beteiligen konnte.
Die Pandemie enthüllte das Ausmaß der Verfilzung von Regierung, Bürokratie und Privatfirmen.
Die Verteilung der Masken gestaltete sich dennoch zäh und erst nach Monaten, als Engpässe bereits beseitigt waren, hatte jeder Bürger seine zwei „Abe-Masken“ bekommen. Kurz nach dem Ende der Verteilung verschwand die Firma dann aus dem Firmenregister der betreffenden Region. Welche skandalösen Hintergründe sich hinter der Fassade der Barmherzigkeit verstecken, konnte – im Gegensatz zur Maskenaffäre in Deutschland – bisher nicht geklärt werden.
Zu ähnlichen Ungereimtheiten kam es auch bei der Vergabe der Aufträge zur Erstellung der japanischen Corona-Warn-App, der Aufträge zur Bearbeitung der Anträge für Unterstützung aus Hilfsprogrammen der Regierung, oder bei der Programmerstellung für die völlig kontraproduktive Stimulierung innerjapanischer Reisen im Sommer 2020. Viele der Aufträge gingen an die größte Werbeagentur Dentsû, die wiederum, ohne selbst an der Softwareherstellung oder der Bearbeitung der Antragsformulare beteiligt zu sein, die jeweiligen Aufträge an kleinere Firmen weiterleitete und die Differenz als Gewinn kassierte. Ein Teil dieser Gewinne fließt wiederum zurück in die Kassen politischer Vereinigungen und Interessenverbände. So funktioniert das System der Selbstbereicherung inmitten der Pandemie.
Die Regierung irrt in diesem System der Verfilzung konzeptlos in der von Profitinteressen verwüsteten Corona-Landschaft herum. Testkapazitäten wurden, wie erwähnt, nicht ausgebaut und auch Impfstoff bislang nicht effizient importiert und verteilt. Entsprechend fallen die Ergebnisse von Meinungsumfragen zur Regierungspolitik und zur Olympiade immer deutlicher aus. 80 Prozent der Befragten sind entweder für den Verzicht auf die Olympiade in diesem Sommer oder zumindest für eine erneute Verschiebung. Die Befürchtung ist groß, dass die Veranstaltung innerjapanisch und weltweit ein Anlass zu einer neuen Explosion der Pandemie wird. Anfang April 2021 haben 20 japanische Intellektuelle einen Aufruf zur Nicht-Teilnahme an den Olympischen Spielen an deutsche Medien geschickt, der in einer Reihe deutscher Tageszeitungen zustimmende Erwähnung fand. Die Regierung in Tokyo und das Nationale Olympische Komitee halten jedoch an ihren Plänen fest. Trotz der hier aufgezeigten mannigfaltigen Probleme scheinen sie die Olympiade durchführen zu wollen, komme was da wolle.