In der thailändischen Politik herrscht Aufregung: Am 7. August 2024 löste das Verfassungsgericht die Fortschrittspartei (Move Forward Party) auf, die bei den Wahlen 2023 noch die meisten Stimmen gewonnen hatte. Nur sieben Tage später kam es zum zweiten Paukenschlag: Das Gericht enthob den amtierenden Premierminister Srettha Thavisin von der Regierungspartei Pheu Thai seines Amtes.

In nur zwei Wochen hat es das höchste Justizorgan des Landes damit vollbracht, sowohl die Legislative als auch die Exekutive im Alleingang zu entmachten. Für erfahrene Beobachter der thailändischen Politik mögen solche Entwicklungen nicht neu oder überraschend kommen, Anlass zur Sorge geben sie aber allemal.

Die politische Landschaft Thailands ist seit langem von immer wiederkehrenden autoritären Wellen geprägt. Insgesamt verbleibt die politische und die wirtschaftliche Macht aber stets in den Händen der Monarchie, des Militärs, der Verwaltungsbeamten und reicher Unternehmen. Darüber hinaus hat das Land eine lange Geschichte von Militärputschen hinter sich. Dabei hat praktisch jede Junta die vorherige Verfassung systematisch mit einer neuen ersetzt.

Es gab aber auch kurze Momente der Hoffnung auf mehr Demokratie. Dazu zählen vor allem die Revolution von 1932, mit der die absolute Monarchie beendet wurde, und die beiden demokratischen Bewegungen in den 1970er und 1990er Jahren. Aus letzterer Periode stammt die Verfassung von 1997, die als die bisher demokratischste Verfassung Thailands gilt.

Die Hoffnung war jedoch stets von kurzer Dauer. So brachte die Verfassung von 1997 neben anderen Mängeln auch die sogenannten „unabhängigen Organisationen“ wie die thailändische Wahlkommission und das Verfassungsgericht hervor. Anstatt als echte Kontrollinstanzen zu dienen, haben sich diese Institutionen zu mächtigen Instrumenten für die Eliten entwickelt, um den Status quo gegenüber gewählten Politikern und den Forderungen des Volkes nach Veränderung zu verteidigen.

Sind die jüngsten Aktionen des Verfassungsgerichts nicht viel mehr als ein Déjà-vu?

Seit dem Putsch von 2006, mit dem das demokratische Experiment der 1990er Jahre endete, hat das Verfassungsgericht insgesamt 34 politische Parteien aufgelöst, darunter vier Wahlgewinner, die eine Bedrohung für die Vorherrschaft der Monarchie darzustellen schienen. Das Gericht hat darüber hinaus vier Premierministerschaften annulliert – 2008, 2014 und zuletzt im August 2024. Alle diese Premiers wurden von Parteien gestellt, die mit Ex-Premierminister Thaksin Shinawatra verbandelt sind, der das Anti-Establishment-Lager anführte. Die angebliche Unparteilichkeit des Gerichts erscheint noch zweifelhafter, da derartige Maßnahmen nie gegen Regierungen ergriffen wurden, die dem Establishment nahestehen und denen ähnliche Verstöße hätten vorgeworfen werden können. Mit Blick auf die kürzliche Auflösung der Fortschrittspartei ist besonders pikant, dass einer der Verfassungsrichter sich offen negativ über die Partei geäußert hat.

Die Urteile des Gerichts sind jedoch nicht (nur) Ausdruck persönlicher Animositäten oder Feindseligkeiten. Vielmehr stehen sie meist im Einklang mit der sogenannten „Kulturverfassung“ Thailands. Diese Tradition räumt der monarchischen Souveränität Vorrang ein vor Prinzipien der verschriftlichten Verfassung wie etwa bürgerlichen Rechten. In der Praxis kann das bedeuten: Wenn beispielsweise ein Militärputsch durchgeführt wird, kann das Verfassungsgericht ihn implizit als „kulturell“ verfassungskonform gutheißen. Umgekehrt hat das Gericht einen Vorschlag der Fortschrittspartei zur Reform von Artikel 112 des Strafgesetzbuchs – dabei geht es um das sehr vage definierte Vergehen der „Beleidigung der Monarchie“ – als verfassungswidrig eingestuft.

Sind die jüngsten Aktionen des Verfassungsgerichts somit nicht viel mehr als ein Déjà-vu? In gewisser Weise kann man dies so sehen, allerdings zeigen sich mindestens drei alarmierende Abweichungen gegenüber früherer Entscheidungen.

Erstens: Die frühen Urteile des Verfassungsgerichts von seiner Gründung bis 2014 fielen in die Regierungszeit von König Rama IX. Dessen größte „Errungenschaft“ war die Konsolidierung der Macht in einer Weise, mit der die Ambitionen möglicher Herausforderer eingedämmt wurden. Premier Thaksin und sein Netzwerk galten als größte Konkurrenz für den Einfluss von Rama IX. Der Hof spielte dementsprechend eine entscheidende Rolle dabei, den Einfluss von Thaksin zu begrenzen.

Im Zuge dieser politischen Seifenoper versuchte jeder Akteur, das Verfassungsgericht zu nutzen, um die jeweiligen Gegner zu schwächen.

Mit dem Coup 2014, der von Militärs wie Prayut Chanocha und Prawit Wongsuwan angeführt wurde, und mit dem Thronwechsel nach dem Tod von Rama IX. im Jahr 2016 hat sich das Machtgleichgewicht zwischen den Eliten jedoch verschoben. Während Rama IX. die „royale Hegemonie“ in erster Linie mit ideologischen Mitteln durchsetzen konnte, zeigt sich im aktuellen politisch-monarchischen Umfeld, dass eine derartige Hegemonie nicht mehr gegeben ist. Ohne den früheren ideologischen Kompass stellt sich die Frage: Was oder wer lenkt heute die politische Instrumentalisierung des Verfassungsgerichts und anderer nicht gewählter Organe, die einst vor allem dem König dienten?

Das führt uns zum zweiten Punkt: zur Zersplitterung der Eliten und zum Fehlen einer dominanten politischen Kraft. Dieser Trend hat sich seit den Wahlen von 2023 verschärft, bei denen die Fortschrittspartei gegen Thaksins Pheu Thai-Partei siegte, die beide einst in der Opposition zu verorten gewesen waren. Gerade die Pheu Thai haderte mit dem Wahlergebnis. Schließlich schuf Parteichef Thaksin eine „große Koalition“ mit alten Establishment- und Putschisten-Parteien, insbesondere der rechten Palang Prachatrat von General Prawit Wongsuwan. Doch zwischen Thaksin und Prawit herrschte weiterhin Misstrauen.

Gerüchten zufolge wollte Prawit selbst Premier werden und war frustriert, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Im Zuge dieser politischen Seifenoper versuchte jeder Akteur, das Verfassungsgericht zu nutzen, um die jeweiligen Gegner zu schwächen. Prawits Verbündete im Senat reichten eine Klage ein, um den Premierminister von Pheu Thai zu entlassen. Die Pheu Thai verzichtete indessen darauf, das Gerichtsurteil gegen die Fortschrittspartei anzufechten, da sie vom Niedergang der Konkurrenz profitierte.

Es gibt viel an der allgemein chaotischen Partei- und Fraktionspolitik in Thailand zu kritisieren. Die besorgniserregendste Entwicklung ist aber, dass die Parteien ihren Machtkampf inzwischen offenbar mit Hilfe der unkontrollierten Macht des Verfassungsgerichts austragen.

Drittens stehen die jüngsten Entscheidungen des Verfassungsgerichts nicht nur für den chaotischen Machtkampf zwischen diversen Eliten und Parteien; vielmehr zeigen sie ein noch nie dagewesenes Ausmaß richterlicher Übergriffe und Verstöße gegen das Prinzip der Gewaltenteilung. Wie bereits beschrieben, hat es derartige Übergriffe seit 2006 immer wieder gegeben, doch die jüngsten Ereignisse führen schmerzlich vor Augen, wie lediglich neun Richter kulturell aufgeladene Kontroversen entscheiden können. So hatte die Fortschrittspartei das Gericht mehrfach aufgefordert, die Rechtmäßigkeit der Klage der Wahlkommission gegen sie zu prüfen. Dies hatte aber nur minimale Auswirkungen.

Das Werben für eine Reform wurde somit mit einem potenziellen Aufruf zum Sturz des Monarchen gleichgesetzt.

Das Gericht entschied schließlich, im Wahlkampf habe die Partei mit ihrer Forderung nach einer Änderung des Monarchiebeleidigungs-Artikels 112 ihre Absicht zum „Untergraben“ des Staates bewiesen. Das Werben für eine Reform wurde somit mit einem potenziellen Aufruf zum Sturz des Monarchen gleichgesetzt. Bemerkenswerterweise verknüpfte das Gericht einen politischen Vorschlag, der noch nicht einmal umgesetzt wurde, mit einem „Untergraben“ des Staates und setzte darüber hinaus dieses vermeintliche „Untergraben“ mit dem Ziel einer „Auslöschung“ der bestehenden Ordnung gleich.

Im Verfahren um den abgesetzten Premier Srettha von der Pheu Thai ging es derweil um die Ernennung eines Ministers, der einst Thaksins Vertrauter war und dem ein strafrechtlicher Verstoß vorgeworfen worden war. Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren jedoch bereits vor einiger Zeit eingestellt. Ähnlich wie beim Prozess gegen die Fortschrittspartei wurde die Rechtmäßigkeit der Klage infrage gestellt, da sie von Senatoren eingereicht wurde, die selbst noch von der Junta ernannt worden waren. Umstritten ist auch, ob die Ernennung einer Person, gegen die zwar ermittelt, die aber nicht verurteilt wurde, tatsächlich verfassungswidrig ist. Trotz dieser Unklarheiten urteilten fünf der neun Richter, dass der amtierende Premier von der strafrechtlichen Verfolgung der betreffenden Person „gewusst“ habe und sie trotzdem ernannte. Dies, so die Argumentation weiter, beweise die „Unehrlichkeit“ des Premierministers sowie eine vorsätzliche Verletzung des in der geltenden Verfassung verankerten Ethikkodexes.

In beiden Fällen befasste sich das Gericht also nicht nur mit rein rechtlichen Fragen, sondern interpretierte höchst eigenwillig solch umstrittene Begriffe wie „Untergrabung“, „Umsturz“ und „Unehrlichkeit“ – all dies mit wenig praktischen Grundlagen oder Präzedenzfällen. Dann verknüpfte das Gericht seine eigenen Interpretationen mit den vermeintlichen Absichten der Angeklagten und entschied entsprechend gegen sie. So wurden durch zwei Urteile die Wahlergebnisse von 2023 konterkariert.

Die drei oben beschriebenen Trends haben ein gemeinsames Merkmal: Sowohl nicht gewählte als auch gewählte Eliten nutzen die Macht der Justiz, um demokratisch vom Volk gewählte Institutionen – namentlich die Regierung und das Parlament – zu sabotieren.

Recht und Gesetz werden damit nicht nur zur Waffe gemacht, sondern innerhalb der Eliten gegen den jeweiligen persönlichen Gegner eingesetzt. Diese Entwicklung verfestigt einen Autoritarismus in Thailand derart, dass eine Umkehr immer schwieriger wird.

Doch trotz dieser Negativtrends und der prognostizierten politischen Apathie der Bevölkerung gibt es noch Grund zur Hoffnung. Anders als in der Vergangenheit, als die Macht durch reine Ideologie gesichert werden konnte, sind die elitären Autokraten von heute entlarvt: Die Menschen in Thailand haben gelernt, wie sie diese in Wahlen abstrafen können. Gerade noch aufgelöste Parteien feiern meist ein schnelles Comeback – und gewinnen nicht selten an Wählerzuspruch.

Dahinter liegt ein Grundgedanke: Solange Wahlen stattfinden, gibt es noch Möglichkeiten für einen schrittweisen Wandel, auch wenn dies Generationen dauern mag. Wer Wandel will, hat die Zeit auf seiner Seite.

Aus dem Englischen von Tim Steins