Boris Johnson steht einer Regierung vor, die keine Mehrheit mehr im Parlament hat. Er hat der Opposition in dieser Woche Neuwahlen angeboten, diese hat vorerst dankend abgelehnt. Als Premierminister hat er bislang jede Abstimmung (drei an der Zahl) im Unterhaus verloren und als Kirsche auf der Torte hat er auch noch den Enkel seines politischen Vorbilds Winston Churchill aus der eigenen Partei ausgeschlossen. Sein eigener Bruder wird nicht mehr für die Tories antreten. Kein guter Start für Boris, wie ihm ein Abgeordneter nach der ersten Niederlage hämisch zurief.

Doch man sollte sich nicht täuschen: Johnsons Chancen, Premierminister zu bleiben, sind eher größer geworden. Man könnte fast meinen, dass er es auf den Konflikt mit dem Parlament angelegt hat. Damit konnte er sich als Gegensatz zur ewig zaudernden und verhandelnden Vorgängerin Theresa May darstellen. Wo sie dem House of Commons stundenlang Rede und Antwort stand, suspendiert er das Parlament für fünf Wochen. Während sie in monatelanger mühevoller Kleinarbeit einen komplizierten Deal mit der EU aushandelte, verkündet Johnson, dass mit dem No-Deal als Drohung und seinen tollen innovativen Vorschlägen (die allerdings noch niemand gesehen hat) ein besseres Abkommen in wenigen Wochen vereinbart werden kann. Es war das politische Äquivalent der Taktik „mit dem Kopf durch die Wand.“

Mit diesem Vorgehen hat er auf dem Papier drei Niederlagen erlitten. Das Parlament wird ihm am Ende der Woche ein Gesetz vorlegen, das ihn zwingt, eine Verlängerung der Brexitfrist zu beantragen, wenn kein Abkommen mit der EU vorliegt. Der No-Deal ist damit erstmal vom Tisch. Die Abgeordneten haben ihm auch die gewünschten Neuwahlen verweigert und zudem wechselte ein Tory demonstrativ während der Rede des Premiers die Seite im House of Commons und machte somit die knappe Mehrheit der Tories von einer Stimme zunichte.

Sein Amt als Premier geht Johnson als eine Mischung aus Donald Trump, Großwesir Isnogud und Walter Ulbricht angegangen.

Wer diese parlamentarischen Niederlagen jedoch als Anzeichen des sicheren Untergangs interpretiert, unterschätzt das ewige Stehaufmännchen Johnson. Denn sein Amt als Premier war er von Beginn an als eine Mischung aus Donald Trump, Großwesir Isnogud und Walter Ulbricht angegangen. Die Aussage des letztgenannten, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten, war vermutlich ähnlich unaufrichtig wie das Statement des britischen Premiers, er wolle keine Wahlen. Diese Wahlen waren von Beginn an Teil des Kalküls, um das ultimative Ziel nicht nur zu erreichen, sondern auch zu erhalten: „Kalif anstelle des Kalifen zu werden“, sprich Premierminister zu werden und zu bleiben.

Und ähnlich wie der umtriebige Isnogud, hat auch Johnson dafür alle möglichen Mittel in Kauf genommen. Die Suspendierung des Parlaments; die Ankündigung milliardenschwerer Regierungsprogramme; die Besetzung des Kabinetts mit einer Auswahl harter Brexiteers und die Säuberung der eigenen Partei von kritischen Stimmen. Das Ganze wird orchestriert von seinem Chefberater Dominic Cummings, dem eine ähnlich sinistre Rolle zugeschrieben wird, wie Steve Bannon sie in den ersten Wochen der Trump'schen Administration innehatte.

Donald Trump, der sich stets wohlwollend über seinen Freund Boris äußert, steht auch Pate für die Wahlstrategie des adligen Privatschulabsolventen. Johnson positioniert sich als Interpret des Volkswillens gegenüber dem Parlament. Er imitiert Nigel Farage und dessen Brexitpartei und versucht, die Stimmen der Wählerinnen und Wähler, die für den Brexit gestimmt haben, hinter sich zu bringen. Gleichzeitig vertraut er darauf, dass die Remainseite gespalten bleibt. Dieses „Teile und Herrsche“ kann im britischen Wahlsystem zu einem Sieg der Tories führen.

Die Chancen dafür stehen bei 50:50, so zumindest die Aussage führender Wahlforscher. Denn in einem hochfluiden politischen Umfeld wie Großbritannien gibt es zahlreiche Ungewissheiten, deren Auswirkungen auf das Wahlergebnis im Moment nicht abzusehen sind. Die Brexitpartei von Nigel Farage liegt weiterhin auf der Lauer und könnte dafür sorgen, dass auch das Leave-Lager gespalten bleibt. Sollte Johnson allerdings voll auf No-Deal setzen, zeichnet sich ein Wahlpakt zwischen den Tories und der Brexitpartei ab. Im traditionell europafreundlichen Schottland dürfte es den Tories schwerfallen, ihr Ergebnis von 13 Sitzen zu wiederholen. Diese dürften an die Scottish National Party gehen.

Corbyn und Labour setzen darauf, dass der schlechte Start und die Hürde des No-Deal-Gesetzes den Premier zur Genüge einbremst.

Auch in Südengland sind einige Wahlkreise in Gefahr, hier drohen die für Remain eintretenden Liberalen ihnen die Sitze abzujagen. Johnson setzt darauf, diese Verluste durch entsprechende Gewinne in Wahlkreisen auszugleichen, die bislang noch von Labour repräsentiert werden – eine Wette mit ungewissem Ausgang. Er setzt dabei auf eine Mischung aus Ressentiments, Aufwiegelung und Wahlgeschenken. So hat er den migrationskritischen Wählerinnen und Wählern bereits signalisiert, dass er die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit unmittelbar einschränken will.

Seine rassistischen Äußerungen über Frauen in Burkas, afrikanisches Wassermelonenlächeln und Picaninnies hat er nie zurückgenommen. Seine Rhetorik zur EU nimmt zunehmend Züge einer kriegerischen Auseinandersetzung an. Das Gesetz gegen den No-Deal im Parlament ist für ihn nur das Kapitulationsgesetz, und Widerstand wird als Verrat bezeichnet. Eine Beraterin des Schatzkanzlers ließ Dominic Cummings von der Polizei aus Downing Street No. 10 eskortieren, weil sie angeblich Kontakt mit Rebellen aus der Toryfraktion pflegte. Gleichzeitig kündigt Johnson massive Ausgaben in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Innere Sicherheit an. Hier wurde in den letzen Jahren notorisch gespart, entsprechend gelten sie inzwischen vielen Bürgerinnen und Bürgern als vorrangig.

Jeremy Corbyn und Labour werden dadurch in die Bredouille gebracht. Sie müssen sich zum Brexit klar positionieren, was sie in den vergangenen drei Jahren vermieden haben. Und das Kernargument, mit dem Corbyn in den Wahlen 2017 gegen May Boden gutmachen konnte – die Sparpolitik müsse beendet werden –, wird bereits im Vorfeld unterminiert.

Gleichzeitig gewinnt Corbyn aber an Statur, weil er im Vergleich zum rüpelhaften Premier und dessen am Rande der demokratischen Regeln schrammenden Vorgehensweise als Staatsmann dasteht. Das erklärt auch sein Zögern, das Angebot von Neuwahlen unmittelbar anzunehmen. Corbyn will zwar unbedingt Neuwahlen, fürchtet aber wie die anderen Oppositionsparteien auch, dass Johnson in letzter Minute noch den Wahltermin ändert und das Land in einen No-Deal-Brexit stolpern lässt. Mit der jetzigen vorsichtigen Vorgehensweise hofft man, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Labour versucht, den No-Deal am 31. Oktober zu verhindern, was gleichzeitig bedeutet, dass Johnson sein zentrales Wahlversprechen – Brexit am 31. Oktober – kassieren und damit geschwächt antreten muss.

Das Rennen zur Wahlurne hat längst begonnen. Corbyn und Labour setzen darauf, dass der schlechte Start und die Hürde des No-Deal-Gesetzes den Premier zur Genüge einbremst. Johnson dagegen hofft darauf, dass ihn die Wucht seines Anlaufs schlussendlich als Ersten ins Ziel bringt.