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Als Carola Rackete, Kapitänin des Such- und Rettungsschiffes Sea-Watch 3, von der italienischen Polizei verhaftet wurde, rückte das Mittelmeer plötzlich wieder ins internationale Rampenlicht. Bis zu diesem Zeitpunkt war die mediale Berichterstattung über die gefährlichste Migrationsroute der Welt eingeschlafen – außer natürlich in Italien, wo Innenminister Matteo Salvini monatelang jede Gelegenheit nutzte, um die Aktivitäten der deutschen NGO trotz geringer Ankunftszahlen von Migranten öffentlich anzugreifen.

Rackete hat Salvini mittlerweile verklagt, weil dieser auf Twitter und Facebook eine „Botschaft des Hasses“ verbreite, wie es in der Klage heißt. Schon lange galt sie als bevorzugter Feind des Innenministers (und zunehmend auch seiner Wähler). Gleichzeitig wurde sie zu einer Heldin für all diejenigen, die die Rettung von Migranten auf hoher See befürworten. Doch trotz des Aufruhrs stellt der Streit um NGO-Rettungsschiffe nur einen kleinen Teil des komplexen geopolitischen Puzzles dar, das die irreguläre Migration auf dieser Route antreibt.

Um wirklich zu verstehen, was im zentralen Mittelmeer vor sich geht, muss man die Schritte der Migranten bis in ihre Herkunftsländer zurückverfolgen – oft in Afrika südlich der Sahara, im Nahen Osten oder sogar in Südasien. Einige sind Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, andere nicht, aber so gut wie alle haben gute Gründe, ihre Heimat zu verlassen. Dieser gemischte Migrationsstrom durchquert typischerweise mehrere Länder, bevor er mit Libyen den Hauptausgangspunkt nach Europa erreicht.

Es könnte in der Tat schwieriger werden, eine wirklich nachhaltige Umverteilung von Asylbewerbern innerhalb der EU zu erreichen als Frieden in Libyen zu stiften.

Afrikanische Migranten, die die Sahara-Wüste überqueren, werden dort ebenso schweren Gefahren ausgesetzt wie auf hoher See, mit unzähligen Todesopfern – möglicherweise weitaus mehr als im Mittelmeer. Sobald Migranten nach Libyen kommen, befinden sie sich in einem vergleichsweisen reichen Land, denn Libyen verfügt über die größten Ölvorkommen Afrikas. Doch seit dem Sturz des Diktators Muammar Gaddafi im Jahr 2011 ist das Land kriegsgebeutelt und im politischen Chaos.

Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration halten sich derzeit über 660 000 Migranten in Libyen auf. Ihre Bedingungen variieren je nach Nationalität und Standort. Einige Langzeitmigranten aus Nordafrika oder dem Nahen Osten bleiben gerne in Libyen, während neu Ankommende aus Ländern südlich der Sahara oft mit schwerer Diskriminierung, Ausbeutung und Missbrauch konfrontiert werden.

Da Libyen die Genfer Flüchtlingskonvention nie unterzeichnet hat, haben Flüchtlinge im Land keinen Rechtsstatus und können dort keinen internationalen Schutz beantragen. Undokumentierte Migranten können deshalb jederzeit verhaftet und inhaftiert werden. Lokale Milizen, die in den von ihnen kontrollierten Gebieten als Polizisten agieren, betreiben auch Gefängnisse, in denen sie Geld von Migranten erpressen oder diejenigen an Schmuggler und Menschenhändler verkaufen, die nicht zahlen können. Einige dieser Milizmitglieder bekommen Staatsgehälter und werden direkt oder indirekt von EU-Missionen unterstützt, die versuchen, Grenzschutzbeamte und die libysche Küstenwache auszubilden und auszurüsten.

Die Bemühungen der EU in Libyen seit dem Sturz von Gaddafi haben sich stark auf die Eindämmung der Migration nach Europa konzentriert. Einige Aktivitäten biegen oder verletzen sogar das Völkerrecht, um Migranten fernzuhalten. Es ist allerdings unmöglich, das Problem effektiv anzugehen, ohne den andauernden Machtkampf zwischen der Regierung der nationalen Einheit (GNA) unter Leitung von Premierminister Fayez al-Sarraj und seinem Rivalen Khalifa Haftar, Hauptbefehlshaber der Libyschen Nationalarmee (LNA) im Osten des Landes, beizulegen.

Der Beschluss Italiens, seine Häfen zu schließen und NGOs zu kriminalisieren, die versuchen, gerettete Migranten an Land zu bringen, ist bedauerlich. Aber er ist auch verständlich angesichts der mangelnden Solidarität innerhalb der EU.

Während die international anerkannte GNA offiziell von der EU und insbesondere von Italien unterstützt wird, beschränkt sich ihre tatsächliche Kontrolle über Libyen auf Tripolis und einige von alliierten Milizen kontrollierten Gebiete im Westen des Landes. Gleichzeitig unterstützt Frankreich die LNA, die den Osten und Teile des Südens entweder direkt oder durch lokale Milizen kontrolliert. Nur wenige Tage vor einer geplanten nationalen Konferenz zur Organisation von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die zur Lösung der politischen Krise in Libyen beitragen sollte, startete Haftar im April 2019 einen Angriff auf Tripolis. Der Konflikt befindet sich derzeit in einer Pattsituation, mit Haftars Truppen am Rande von Tripolis, die gegen die Streitkräfte der GNA kämpfen.

Die gespaltene Position der EU ist nicht nur ineffektiv, sondern sogar kontraproduktiv bei der Suche nach einer Lösung des Konflikts und damit auch der Migrationsfrage. Italien und Frankreich sollten sich auf eine gemeinsame Strategie einigen und ein Friedensabkommen zwischen der GNA und der LNA erleichtern, indem sie ihren jeweiligen Einfluss auf beide Konfliktparteien nutzen.

Die EU könnte dann verstärkt den Aufbau von Kapazitäten fördern, zur Professionalisierung des libyschen Sicherheitssektors beitragen, die Zivilgesellschaft stärken und in Projekte investieren, die das wirtschaftliche Potenzial Libyens erschließen. Stabilität und Wohlstand würden den Migrationsdruck nach Europa deutlich verringern, indem sie Libyen sicherer und attraktiver als Zielland für Arbeitsmigranten machen – wie vor der Revolution.

Die Stabilisierung Libyens wird mit Sicherheit viel Zeit in Anspruch nehmen und ist vielleicht gar nicht möglich, da der Konflikt so komplex ist und eine Vielzahl von internen und externen Akteuren miteinschließt. Die EU muss daher gleichzeitig einen nachhaltigen Such- und Rettungs-, sowie einen Aufnahme- und Umsiedlungsmechanismus für diejenigen entwickeln, die es schaffen, Libyen zu verlassen.

Der Beschluss Italiens, seine Häfen zu schließen und NGOs zu kriminalisieren, die versuchen, gerettete Migranten an Land zu bringen, ist bedauerlich. Aber er ist auch verständlich angesichts der mangelnden Solidarität, die andere EU-Mitgliedstaaten schon lange vor der Wahl Salvinis gezeigt haben. Nun ist es Malta, das die nord- und osteuropäische Gleichgültigkeit spürt: Es muss immer mehr Migranten aufnehmen, die von Italien umgeleitet werden. Die derzeitige Praxis der Ad-hoc-Verhandlungen für jedes Schiff von Migranten, die von den italienischen Behörden abgelehnt wurden, ist einfach nicht nachhaltig.

Es könnte in der Tat schwieriger werden, eine wirklich nachhaltige Umverteilung von Asylbewerbern innerhalb der EU zu erreichen als Frieden in Libyen zu stiften. Das zeigt der endlose Stillstand in den Verhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat über die Reform der Dublin-Verordnung. Aber es gibt keinen Weg daran vorbei. Es gibt keine andere Möglichkeit, die Ankunft von Asylbewerbern in Europa zu bewältigen. Die Alternative ist eine politische Gegenreaktion in den südlichen Mitgliedsstaaten, die das gesamte EU-Projekt gefährdet.

Zu Beginn der neuen Legislaturperiode des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission sollte Migration wieder ganz oben auf der Agenda stehen. Im Gegensatz zur letzten Legislaturperiode sollten sie jedoch die irreguläre Migration über das Mittelmeer nicht als isoliertes Thema betrachten, sondern als eine von vielen zusammenhängenden Herausforderungen, die politisch umfassende Antworten erfordern. Nur dann hat die EU eine Chance, Lösungen zu finden, die dem unvermeidlichen Migrationsdruck standhalten, dem Europa in Zukunft ausgesetzt sein wird.