Die abstoßenden rechtsgerichteten Krawalle der vergangenen Woche in Großbritannien bringen Premierminister Keir Starmer in eine schwierige Lage: Er und seine neue Labour-Regierung müssen sich mit der allgemeinen Sorge über die Einwanderung befassen, die die Unruhen mit ausgelöst hat – nicht wegen, sondern trotz der Aktionen und Behauptungen der Randalierer.
Die in den letzten Tagen um sich greifende Gesetzlosigkeit ändert nichts an der Tatsache, dass die britische Regierung seit Jahren Fehler im Umgang mit der Einwanderung macht. Jahrelang ließ sie gegen den Widerstand der Bevölkerung Migrantinnen und Migranten in Rekordhöhe legal wie auch illegal einreisen und erließ dann verfehlte Maßnahmen wie zum Beispiel den missglückten Versuch, sie nach Ruanda ausfliegen und ihre Asylverfahren dort abwickeln zu lassen. Die Zahl der Migranten, die in kleinen Booten den Ärmelkanal überqueren, wobei manche von ihnen kentern und zu Tode kommen, steigt weiter an und löst quer durch die politischen Lager Scham und Betroffenheit aus.
Starmer, der seit einem Monat in Downing Street No. 10 residiert, kann dafür natürlich nicht verantwortlich gemacht werden. Aber wenn er es nicht schafft, die Kanalüberquerungen und das gefühlte Integrationsversagen in den Griff zu bekommen, werden die Populisten, die schon in den Startlöchern stehen, bald eine härtere Gangart einlegen. Erst vergangenen Monat hat Nigel Farages Partei Reform UK bei den Parlamentswahlen 14 Prozent der Stimmen eingefahren – was vor allem seinem Versprechen zu verdanken ist, die Einwanderung „einzufrieren“.
Auslöser der Unruhen Ende Juli war eine schreckliche Messerattacke in Nordengland, bei der mehrere Kinder getötet wurden. Die Eltern des in Großbritannien geborenen Tatverdächtigen sind Einwanderer aus Ruanda. Die Proteste, angeheizt durch Falschmeldungen über den mutmaßlichen Mörder, schlugen schnell in Gewalt um. In mehreren Städten und Gemeinden Englands und Nordirlands wütete der Mob, plünderte, legte Feuer und lieferte sich Straßenschlachten mit Gegendemonstranten. Hunderte von Menschen wurden verhaftet. Auf Medienbilder gewalttätiger Gruppen, die Moscheen angriffen, reagierten Indonesien, die Vereinigten Arabischen Emirate und andere Staaten mit warnenden Appellen an ihre Landsleute, sich fernzuhalten – zumindest in den Augen einiger britischer Bürgerinnen und Bürger eine beschämende Umkehrung der Normalität.
Die Protestierenden und ihre Online-Verbündeten gaben ihre Aktionen als Ausdruck des Volkszorns über die jahrzehntelange unkontrollierte Einwanderung und ihre angeblichen Folgen aus: dschihadistische Anschläge, Messerstechereien sowie sexueller Missbrauch durch pakistanische Grooming Gangs. „Aufruhr ist die Sprache der nicht Gehörten“, zitierte ein konservativer Kommentator Martin Luther King Jr. in einem Kontext, den der verstorbene Reverend wohl nie gebilligt hätte.
Die allgemeine Angst vor Einwanderung war eines der Hauptthemen bei den britischen Parlamentswahlen im Juli.
Denn eigentlich handelte es sich bei den gewalttätigen Ausschreitungen zu einem großen Teil um opportunistisches „rechtsradikales Rowdytum“, wie Starmer es formulierte. Die Regierung hat zu Recht einige derjenigen verhaften lassen, die die Falschbehauptung verbreiteten, der Tatverdächtige der Messerstecherei sei ein muslimischer Asylbewerber. Wie bei anderen Gewaltausbrüchen in allen Teilen der Welt zeigte sich einmal mehr, dass Fake News im Internet soziale Gräben auf perfide Weise vertiefen können.
Spannungen gab es allerdings schon vorher, und bei den Krawallen ging es um mehr als nur um Online-Provokationen von einer Handvoll Rowdys. Einige der in den vergangenen Tagen veröffentlichten Videos zeigen bärtige Muslime, die bewaffnet durch die Straßen zogen, „Allahu Akbar“ skandierten und mit den Protestlern aneinandergerieten. In Birmingham griffen maskierte Männer, die palästinensische Flaggen schwenkten, eine Kneipe an und verprügelten einen Mann, der vor der Kneipe stand. Sky News unterbrach seine Live-Übertragung, nachdem mehrere maskierte Männer eine Reporterin eingekesselt und ihr und ihrem Kamerateam Flüche und pro-palästinensische Slogans entgegengebrüllt hatten.
Die Randale folgten auf eine lange Reihe von Zusammenstößen – unter anderem auf migrantenfeindliche Proteste in Irland sowie auf gewalttätige Auseinandersetzungen mit zugewanderten Roma in Leeds im vergangenen Monat. Wäre das alles in einem anderen Teil der Welt passiert, hätte man wohl – wie einige Fachleute anmerkten – von einem ethnischen Konflikt gesprochen.
Die allgemeine Angst vor Einwanderung war eines der Hauptthemen bei den britischen Parlamentswahlen im Juli. Die Konservativen wurden bei den Wahlen unter anderem abgestraft, weil sie versprochen hatten, „die Boote zu stoppen“, wie der ehemalige Premierminister Rishi Sunak es nannte, und dieses Versprechen nicht einlösen konnten. Laut Luke Tryl, Großbritannien-Chef des Thinktanks More in Common, zählt die Einwanderung zusammen mit den Lebenshaltungskosten und dem angeschlagenen nationalen Gesundheitswesen zu den drei größten Sorgen der britischen Allgemeinheit. Selbst nach den Ausschreitungen gaben 58 Prozent der Befragten bei einer YouGov-Umfrage an, dass sie mit denen sympathisieren, die in der vergangenen Woche friedlich gegen die britische Einwanderungspolitik protestiert haben (über die Randalierer äußerte die Mehrheit sich ablehnend).
Eine zielgerichtetere Politik würde das chaotische britische Asylverfahren reformieren und im besten Fall für einen besseren Umgang mit der Eingliederung von Neuankömmlingen sorgen. Aus den Reihen der Labour-Partei wurde bereits die Forderung laut, die Einwanderung zu beschränken; die jährliche Nettozuwanderung von zuletzt 600 000 oder mehr Menschen sei unhaltbar. Starmer hat auch versprochen, gegen die Schlepperbanden vorzugehen, die Migrantinnen und Migranten über den Ärmelkanal schleusen. Mehr Transparenz in der Frage, was die Regierung politisch unternimmt, könnte dazu beitragen, Verschwörungstheorien über die Verdrängung der Einheimischen zu entkräften. Sunder Katwala, Direktor des Thinktanks British Future, ist der Meinung, Großbritannien könne für die Integration von Neuankömmlingen mehr tun und zum Beispiel Anreize für deren Einbindung in lokale Vereine und Netzwerke schaffen und ihnen helfen, nach ihrer Ankunft schnell Englisch zu lernen.
Teile der britischen Bevölkerung hatten nachvollziehbarerweise das Gefühl, dass ihr Land sich in einem beunruhigenden Tempo verändere.
Großbritanniens offizielle Bemühungen, die Einwanderung zu steuern, waren in den vergangenen Jahrzehnten wenig konsequent. 1968 wetterte der Tory-Politiker Enoch Powell in einer Ansprache, die als Rivers of Blood-Rede in die Annalen einging, gegen die Bedrohung durch Massenmigration. Eine Umfrage ergab damals, dass die britische Bevölkerung ihm zu 74 Prozent zustimmte. Wenig später ergriff die Regierung restriktivere Maßnahmen.
Doch knapp 30 Jahre später begann die Regierung von Tony Blair wesentlich mehr Migrantinnen und Migranten aufzunehmen – teils aus wirtschaftlichen Gründen, teils aufgrund der EU-Politik der offenen Grenzen. Blair trug auch dazu bei, dass sich ein stärker multikulturell ausgerichtetes Selbstverständnis von Großbritannien als Mosaik ethnischer und religiöser „Gemeinschaften“ herausbildete. Dementsprechend versuchte man den Eindruck zu erwecken, die neue Einwanderungswelle in Großbritannien sei nichts Neues, sondern nur das jüngste Kapitel „unserer Migrationsgeschichte“, wie es auf einer staatlich geförderten Website heißt.
Dieses Narrativ stimmte leider nicht mit den Realitäten überein. In den ersten Jahren dieses Jahrhunderts kamen in einem einzigen Jahr mehr Einwanderer nach Großbritannien als im gesamten Zeitraum von 1066 bis 1950. Der plötzliche demografische Wandel war nicht nur quantitativ, sondern auch in seiner Zusammensetzung gewaltig: Viele Neuankömmlinge gehörten nichteuropäischen Kulturen und Religionen an. Teile der britischen Bevölkerung hatten nachvollziehbarerweise das Gefühl, dass ihr Land sich in einem beunruhigenden Tempo verändere.
Doch die britische Reaktion beschränkte sich größtenteils darauf, das Problem zu ignorieren und das Beste zu hoffen – selbst dann noch, als einige Länder Nordeuropas, die sich mit zu Kriminalitätsschwerpunkten gewordenen Enklaven von Neuzuwanderern auseinandersetzen mussten, zu einem rigideren Kurs übergingen. 2019 bezog Tony Blair seltsamerweise selbst gegen den Multikulturalismus Position und forderte, Migranten müssten gezwungen werden, sich besser in die britische Gesellschaft zu integrieren. Und warum? Um genau jene „rechtsextreme Bigotterie“ zu verhindern, die in letzter Zeit zutage tritt.
Die Randalierer haben ihrem vermeintlichen Anliegen einen schlechten Dienst erwiesen, indem sie es mit Gewalt verknüpften, aber das sollte Starmer nicht davon abhalten, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. „Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass sie ignoriert werden, kehren sie den etablierten politischen Parteien den Rücken, und das läuft am Ende auf eine viel drakonischere Einwanderungspolitik hinaus“, so Tryl.
Das mag wie Erpressung klingen. Aber die Unruhen sollten uns daran erinnern, dass das Thema Einwanderung überall die Lieblingswaffe der Populisten ist – auch für Donald Trump, der für den Fall seiner Wiederwahl verspricht, Millionen von Einwanderern ohne Papiere deportieren zu lassen. Starmer hat jetzt die Chance, ihnen diese Lieblingswaffe aus der Hand zu nehmen.
© The Atlantic
Aus dem Englischen von Christine Hardung