Die Corona-Krise hat schonungslos offenbart, wie verwundbar die Weltwirtschaft aufgrund ihrer stark arbeitsteilig organisierten Produktion in globalen Wertschöpfungsketten ist. Da die Covid-19-Pandemie nach und nach alle Regionen der Welt erfasst und dort die jeweiligen Volkswirtschaften lahmlegt, wird die Weltwirtschaft in diesem Jahr die schwerste Rezession seit den 1930er Jahren erleben. Auch der Welthandel wird dramatisch einbrechen; so rechnet die Welthandelsorganisation (WTO) derzeit mit einem Rückgang um bis zu 32 Prozent!

Die Auswirkungen, die die Corona-Pandemie auf die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft bislang hatte, wären bis vor kurzem noch unvorstellbar gewesen. Nicht nur, dass in der deutschen Industrie aufgrund der hoch arbeitsteilig organisierten Produktionsprozesse bereits nach kurzer Zeit die Bänder stillstanden, weil notwendige Zulieferungen aus dem Ausland ausblieben. Besonders einschneidend war die Erfahrung, dass es in einem Hochtechnologieland wie dem unseren nicht möglich war, das Gesundheitssystem in ausreichendem Maße mit Atemmasken, Desinfektionsmittel und Schutzkleidung zu versorgen. Schon nach kurzer Zeit waren die entsprechenden Vorräte aufgebraucht und Nachschub war nur schwer zu bekommen. Pfennig-Artikel wie einfache OP-Masken mussten zu horrenden Preisen auf verschlungenen Wegen beschafft werden, wenn sie überhaupt zu beschaffen waren.

Die Auswirkungen, die die Corona-Pandemie auf die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft bislang hatte, wären bis vor kurzem noch unvorstellbar gewesen.

Diese existentielle Erfahrung dürfte mit dazu beigetragen haben, dass die Globalisierung und ihre Auswirkungen derzeit differenzierter betrachtet werden. Während Wirtschaft und Politik jahrzehntelang jegliche Globalisierungskritik unter Verweis auf die starke Exportabhängigkeit Deutschlands abschmetterten, mehren sich jetzt die Stimmen, die eine Kurskorrektur anmahnen: Statt auf Spezialisierung, Kosteneffizienz und just in time-Produktion zu setzen, sollen sich Unternehmen breiter aufstellen, ihre Abhängigkeit von einzelnen Regionen und Produzenten reduzieren und Lieferketten sichern, indem sie ihre Zulieferer regional diversifizieren und die Lieferbeziehungen zur besseren Kontrolle stärker regional ausrichten. Kommt es in Folge der Corona-Krise zu einer Phase der De-Globalisierung, und welche Konsequenzen hätte dies für die stark exportorientierte deutsche Volkswirtschaft?

Die Globalisierung hat seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 und damit lange vor der Covid-19-Pandemie bereits deutlich an Schwung verloren. Während das globale Handelsvolumen zwischen 1990 und 2007 im Schnitt doppelt so schnell expandierte wie die reale Welt-Produktion, wachsen beide Größen seit 2010 nur noch in etwa im Gleichschritt, weshalb man auch von „Slowbalization“ spricht. Wesentliche Ursachen dafür, dass die Wachstumsdynamik beim Welthandel stark abgenommen hat, sind zum einen, dass China und andere Schwellenländer nicht mehr die verlängerten Werkbänke der entwickelten Volkswirtschaften sind und entsprechend weniger Vorleistungen importieren; zum anderen, dass die Einkommen und damit die Kaufkraft in diesen Ländern gestiegen sind, so dass sie selbst mehr von dem konsumieren, was sie produzieren.

Aufgrund dieser Entwicklungen werden der Welthandel und damit auch die deutschen Exporte dauerhaft schwächer expandieren als vor der Finanz- und Wirtschaftskrise. Hinzu kommt eine Reihe von Schocks, die dem Welthandel in den vergangenen zehn Jahren kräftige Dämpfer verpasst und bereits zur Desintegration von Handelsbeziehungen und einer stärkeren Regionalisierung geführt hat: Neben der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise waren das die Eurokrise, der Brexit und die protektionistische US-Handelspolitik unter US-Präsident Donald Trump. Die Covid-19-Pandemie versetzt dem Welthandel derzeit einen weiteren schweren Schock, der diese Entwicklung noch weiter forcieren und beschleunigen wird. 

Während die exportorientierten Kernbranchen der deutschen Industrie viele Jahre von der guten Konjunktur profitierten, erweist sich die starke Exportabhängigkeit in einem verschlechterten weltwirtschaftlichen Umfeld als Achillesferse.

Die Corona-Krise trifft die deutsche Wirtschaft zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Die Automobilindustrie, das Aushängeschild der deutschen Exportwirtschaft, befindet sich seit geraumer Zeit in schwierigem Fahrwasser mit entsprechend negativen Auswirkungen auf den Maschinenbau und auf Teile der chemischen Industrie. Während die exportorientierten Kernbranchen der deutschen Industrie viele Jahre von der guten Konjunktur auf den wichtigen Auslandsmärkten profitierten, erweist sich die starke Exportabhängigkeit in einem verschlechterten weltwirtschaftlichen Umfeld als Achillesferse. Hinzu kommt, dass die Autoindustrie vor der gewaltigen Herausforderung steht, die tiefgreifende und kostenintensive Transformation vom Verbrennungsmotor zum alternativen Antrieb bewerkstelligen zu müssen.

Zudem sind die deutschen Automobilhersteller stark von der US-Handelspolitik betroffen, die US-Präsident Trump als Hebel benutzt, um die Schaffung bzw. (Rück)Verlagerung von Industriearbeitsplätzen in die USA zu forcieren; und zwar in mehrfacher Hinsicht: In ihrer Eigenschaft als Exporteure sind sie Zielscheibe der angedrohten Autozölle. In ihrer Eigenschaft als Betreiber großer Produktionsstandorte in Nordamerika werden sie mit Inkrafttreten des NAFTA-Nachfolgeabkommens (USMCA) zum 1. Juli 2020 verschärften Ursprungsregeln unterliegen, die eingehalten werden müssen, um Kraftfahrzeuge und ­‑teile weiterhin zollfrei in den Ländern der NAFTA verkaufen zu können. In ihrer Eigenschaft als Amerikas größte Autoexporteure, die insbesondere den chinesischen Markt beliefern, sind sie Leidtragende des Handelskrieges zwischen den USA und China.

Während die Verschärfung der Ursprungsregeln, insbesondere die Anhebung des regionalen Wertschöpfungsanteils, sowie die drohenden Autozölle dazu geführt haben, dass deutsche Hersteller ihre Produktionsstandorte in Nordamerika ausbauen, haben sie auf die Unwägbarkeiten des Handelskriegs zwischen den USA und China mit einer Verlagerung einzelner Produktionslinien von den USA nach China reagiert. Unter dem Strich wurden somit Produktions- und Lieferketten verkürzt und stärker regional auf die jeweiligen Absatzmärkte ausgerichtet. An dieser Tendenz wird sich auch in nächster Zeit nichts ändern, weil Donald Trump im anstehenden Präsidentschaftswahlkampf versuchen wird, bei den Wählern mit seiner auf Konfrontation ausgerichteten Handelspolitik zu punkten. Deshalb droht er bereits mit einer erneuten Eskalation im Handelskrieg mit China für den Fall, dass Peking es nicht schaffen sollte, seine Importe aus den USA entsprechend der im Phase-One-Deal getroffenen Vereinbarungen massiv zu erhöhen; wohl wissend, dass es aufgrund der Corona-Pandemie vollkommen unrealistisch ist, dass China diese Vereinbarungen wird einhalten können.

Ungleich größere Auswirkungen als gewisse De-Globalisierungstendenzen in Folge von Unternehmensentscheidungen könnte die EU-Initiative Open Strategic Autonomy entfalten.

Ungleich größere Auswirkungen als gewisse De-Globalisierungstendenzen in Folge von Unternehmensentscheidungen könnte die EU-Initiative Open Strategic Autonomy entfalten, deren politische Priorität die EU-Kommission bei der Vorstellung des Aufbauprogramms Next Generation EU bekräftigte. Ziel dieser Strategie ist es, den Aufbau Europas so auszurichten und zu gestalten, dass die EU wirtschaftlich, (geo)politisch und institutionell gestärkt und damit widerstandsfähiger aus der Corona-Krise hervorgeht. Um die EU in Zukunft besser gegen Störungen und Unterbrechungen von Produktions- und Lieferketten abzusichern und eine Versorgung mit essentiellen Gütern wie pharmazeutischen Wirkstoffen, Arzneimitteln oder medizinischen Geräten sicherzustellen, bedarf es neuer Weichenstellungen auf industriepolitischer Ebene.

Konkret geht es um die Frage, welche Industriezweige und Technologien als strategisch wichtig eingeschätzt werden, so dass sie in Europa gefördert, gehalten und gegebenenfalls (wieder) angesiedelt werden und ihre Übernahme durch ausländische Investoren erschwert oder gar untersagt werden kann. Mit dem Begriff der offenen strategischen Unabhängigkeit signalisiert die EU, dass sie keine Abschottung anstrebt, sondern durchaus an internationalen Kooperationen mit gleichgesinnten Partnern interessiert ist. Allerdings unter der Voraussetzung, dass sich die Partner grundsätzlich zu freiem Handel, zur Einhaltung internationaler (Handels)Verträge und Regelwerke sowie zur Anerkennung multilateraler Institutionen bekennen. Damit ist klar, dass derzeit weder die USA noch China als gleichgesinnte Partner auf internationaler Ebene betrachtet werden.

Die Finanzmittel, die aktuell von den Nationalstaaten und der EU für die Bewältigung der Folgen der Corona-Krise bereitgestellt werden, sind gigantisch. Allein auf EU-Ebene sind es 1,85 Billionen Euro; eine Summe, die noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen wäre. Diese Mittel sind dringend erforderlich, um mit zukunftsorientierten Investitionen die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in Europa hin zu klimaneutralen Produktions- und Lebensweisen entscheidende Schritte voranzubringen. Dann würde das EU-Aufbauprogramm halten, was sein Titel verspricht: Repair and prepare for the next generation.